Gerhart Hauptmann
Der Narr in Christo Emanuel Quint
Gerhart Hauptmann

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Neuntes Kapitel

Von den Halbbrüdern Quints war der jüngste, Gustav, zwölfjährig; dieser hing ihm im stillen an. In den ersten Tagen, als der Vater erzwingen wollte, daß Emanuel in der ärmlichen und verwahrlosten Werkstelle mit dem Halbbruder August zusammen arbeite, ging er Emanuel überall an die Hand. August, der tüchtigste Arbeiter in der Familie, war ihm dagegen keineswegs freundlich gesinnt, obgleich Emanuel immer alles getan hatte, um ihm ein Verständnis zu ermöglichen für dasjenige Fremde und Sonderbare des eigenen Wesens, woran jener sich immer aufs neue stieß.

Emanuel an der Hobelbank zu sehen, war allerdings ein Anblick von einem gewissen Widersinn, der einen nachdenksamen Beobachter stutzig machen, einen Tischlergesellen zum Lachen reizen oder empören mußte. August fand sich daher empört, und mit der Moral seiner eigenen Tüchtigkeit stand er nicht an, dem trägen und wenig geschickten Bruder von früh bis spät zu Leibe zu gehen.

Man konnte unmöglich von Wohlstand reden bei den Quints. Wenn sie jedoch noch nicht völlig verarmt waren, so verdankten sie es hauptsächlich der Mutter, die in die Häuser des Pastors, des Lehrers und einiger Gutsbesitzer waschen ging. Es war natürlich, wenn sie Emanuel, obgleich sie ihn dem Ehemann gegenüber, soweit es anging, zu verteidigen suchte, dennoch, sooft sie ihn sah, seines Verhaltens wegen mit Vorwürfen in den Ohren lag. Dazu kamen die Hänseleien des Bruders, der, trotzdem man Emanuel in Begleitung eines Gendarmen heimgesandt hatte, beinahe etwas wie Neid verriet. Der kurze und bärtige Mensch mit dem dunklen Haar, der, seiner Mutter zuliebe, nicht einmal, trotzdem er schon vierundzwanzig Jahre zählte, die übliche Wanderung angetreten hatte, fühlte sehr wohl in Emanuel irgendein geistiges Wesen, das zu begreifen ihm nicht gegeben war: ein Etwas, das er heimlich bewunderte, während er sich es geringzuschätzen, ja zu verachten den äußeren Anschein gab.

Und er merkte auch wohl, wie es seiner Mutter in dieser Beziehung nicht anders ging. Auch sie begriff die Narrheiten ihres Sohnes nicht, aber man konnte ihr anmerken, sie war im Grunde nicht ohne einen gewissen schwankenden Respekt vor ihm. Es war ein Respekt, der sich sogar in seltenen, unbewachten Momenten geradezu in Mutterstolz umsetzte und gelegentlich, etwa einer Nachbarin oder dem Schullehrer gegenüber, mit lebhaften Worten überraschend zutage trat.

So kam es, daß in der Seele des arbeitsamen Burschen August, der stets an die Werkstatt gefesselt war, während Emanuel immer wieder ein freies und oft müßiges Kommen und Gehen durchsetzte, sich schließlich, mit vieler Bitterkeit, die Sache so darstellte, als ob er alle Lasten zu tragen, Emanuel dagegen nur zum Vergnügen berufen sei, und es ihm schien, dieser sei in jeder Beziehung, sogar in der Liebe und Sorge der Mutter, unrechtmäßig bevorzugt.

 

Diese Ansicht befestigte sich indessen noch, als am dritten Tage nach der Heimkehr Emanuels der junge Pastor des Ortes mit kurzem Gruß in die Werkstatt trat und, August nur auf eine flüchtige Weise beachtend, sogleich mit Emanuel freundlich zu reden begann. Es war in seinem Verhalten nichts davon zu bemerken, als ob er gekommen wäre zum Zwecke einer gehörigen Abkanzelung. Im Gegenteil zeigte eine gewisse Vorsicht im Verkehr mit Emanuel, die er August gegenüber vermissen ließ, ebendieselbe geheime Achtung, die Augusts durch Mißgunst geschärfter Blick bei allen Menschen wahrnehmen wollte, die mit seinem Bruder in Verkehr traten.

Während er, August, dem frischen und jovialen Geistlichen gegenüber in eine stumme Befangenheit hineingeriet, entging es ihm nicht, wie Emanuel gerade hier mit Wort und Gebärde eine ruhige Freiheit an den Tag legte. Vollends ganz unbegreiflich erschien ihm jedoch, was es mit einem Briefe für Bewandtnis haben sollte, den der geistliche Herr aus der Tasche zog, unter allerlei freundlichen Fragen, die er stellte, und schließlich mit einer in liebenswürdigster Form gehaltenen Einladung an Emanuel, ihn am Nachmittag – zu einer Tasse Kaffee, hatte der Bruder deutlich gehört! – zu besuchen.

Nachdem sich der Pastor, der eilig war, mit einem Händedruck von dem Narren verabschiedet hatte, hörten ihn beide Brüder noch jenseit des Flurs in die Wohnstube eintreten, wo alsbald die laute Stimme des resoluten Herrn abwechselnd mit den Stimmen von Vater und Mutter hörbar ward. Und August konnte nun erst recht nicht begreifen, warum, wie er deutlich vernahm, der Pastor den Vater mit ganz entschiedenen Worten vermahnte, er möge unbedingt gegen Emanuel nachsichtig sein und sich durchaus zu keiner rohen Züchtigung ferner hinreißen lassen.

Der alte Quint war übrigens ohnedies schon erheblich verändert. Allerlei Zeichen, die sich im Laufe der letzten drei Tage bemerkbar gemacht hatten, waren nicht ganz ohne Eindruck geblieben auf ihn. Schon vom zweiten Tage ab hatten sich nämlich Leute aus nahen Dörfern bis zu dem Häuschen der Quints hindurchgefragt. Sie erklärten dem alten verdutzten Faulenzer und Maulmacher, der einen Hobel fast nie mehr anfaßte, ganz bestimmt gehört zu haben, daß sein Sohn ein berühmter Wunderdoktor sei. Nur selten gelang es, sie abzuweisen, ohne daß vorher, vom Vater gerufen, der Sohn Emanuel selber erschien, wo sie dann meistens ein an Ehrfurcht grenzendes Wesen vorkehrten.

Was aber vor allem Mutter, Vater und Bruder Emanuels zu verblüffen geeignet gewesen war, hatte der Briefträger am Morgen des dritten Tages aus seiner Ledertasche gezogen: etwa siebzig Briefe mit der Adresse Emanuel Quint. Die Mehrzahl von diesen Briefen war infolge eines gedruckten Berichtes geschrieben worden, der in einem sozialistischen Blättchen des Kreises gestanden hatte und darin, mit etwa vierzig kleinen Zeilen, Emanuels erste Predigt, sein Verschwinden und seine Rückkehr ironisch, aber nicht unsympathisch behandelt war. Auch des sonderbaren Rufs eines Wundertäters, dessen er bei gewissen Leuten genoß, war gedacht worden. Unter den Briefen gelangte auch, rot angestrichen, die Nummer der »Volksstimme« an Emanuel, die den Bericht enthielt, und ein Schreiben des Redakteurs, worin er seinen Besuch anmeldete.

Emanuel selber befand sich bei alledem in einem Zustand verzweifelter Bitternis. Seine Seele vermochte sich aus einem Gewirr zahlloser grauer und fester Fäden, in die sie, gleichwie die Motte in das Netz einer Spinne, geraten war, nicht loszuwinden. Als hätte er irgendein ätzendes, zauberkräftiges Gift auf die Zunge genommen, das, alles an ihm zwerghaft verkleinernd, ihn wieder in den armen und elenden Jungen verwandelt hätte, den trostlos Gottverlassenen, der er früher gewesen war.

Es war gegen vier Uhr nachmittags, als Emanuel sich nach dem Pastorhaus auf den Weg machte. Die Mutter hatte ihn, so gut es ging, mit den Stiefeln des Vaters und einem alten Rock herausgestutzt, den ihr vor vielen Jahren einmal ein Gastwirt für ihren Mann geschenkt und den sie heimlich aufbewahrt hatte.

Der Pastor empfing Emanuel freundlich. Er sagte, nachdem die Köchin an die Tür des Studierzimmers mit den Fingerknöcheln geschlagen hatte, mit lauter, gemütlicher Stimme: »Nur immer herein!« und hieß den Besucher freundlich Platz nehmen. Freilich hatte die Köchin für diesen Zweck einen besonderen Stuhl bereitgehalten und schob ihn eilig Emanuel unter. Hierauf stellte der Pastor, dem eine lange Tabakspfeife aus dem Munde bis fast zur Erde hing, die Frage an ihn, ob er zu rauchen gewohnt wäre. Als dies Emanuel dann verneint hatte, sagte er, daß er diesem Laster leider ergeben sei. Es stand unter Stößen von Büchern eine Kaffeemaschine auf dem Tisch, mit der der geistliche Herr höchstpersönlich sich seinen Kaffee bereitete. Er meinte, er lebe hier gleichsam als Junggeselle, weil ihm das Kommen und Gehen der Frauenzimmer während der Arbeit störend sei.

Mit solchen und ähnlichen allgemeinen Bemerkungen machte der stattliche, etwa dreißigjährige Mann seine Einleitung, drehte dabei die Kaffeemaschine um, achtete auf das Durchsickern des Getränks in die bunte Porzellankanne und goß die dampfende Brühe schließlich in zwei bereitgestellte Tassen ein. Er bot Zucker und Sahne an, trank, wartete, bis Emanuel einige Schlucke getrunken hatte, zog alsdann die Schnüre seines grauen Schlafrocks fest, kundigen Griffs eine Schleife knüpfend, und legte sich mit einem »Nun also!« behaglich in seinen Lehnstuhl zurück und begann eine längere Ansprache.

»Ich glaube doch recht berichtet zu sein«, sagte er, »nicht wahr, Sie sind derselbe Emanuel Quint, der sich vor einiger Zeit veranlaßt fand, auf dem Markte unsrer Kreisstadt eine öffentliche Predigt zu halten? Nun gut! wir leben in einem Staat, innerhalb dessen alles dahin geordnet ist, daß es nur gewissen, dazu berufenen Männern, wie mir zum Beispiel, erlaubt ist, das Wort Gottes zu predigen. Aber ebenfalls keineswegs etwa auf dem Markt, sondern in den eigens dafür errichteten Gotteshäusern. Nun, ich habe ferner in Erfahrung gebracht, Sie haben sich gedrungen gefühlt, Emanuel – Emanuel ist ein schöner Name und will soviel sagen wie »Gott mit uns!« –, also Sie haben sich gedrungen gefühlt, an verschiedenen Plätzen der böhmisch-preußischen Grenze in unserem Schlesien, sagen wir, wie eine Anzahl Ihrer Freunde sagt, ein Bekenner zu sein. Ich stehe nicht ganz auf dem gleichen Standpunkt, den mein Herr Amtsbruder drüben bei Ihrer ersten Predigt eingenommen hat. Ich will den Standpunkt der Polizeibehörde ebensowenig kritisieren, die für Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sorgen muß. Ich weiß ferner nicht, inwieweit die Behörde Grund hat, Ihnen kurpfuscherische Tendenzen und Verfehlungen vorzuwerfen. Man hat Sie vorübergehend in die Kreisirrenanstalt gebracht und beobachtet. Ich bin ferne davon, etwa gleich anzunehmen, es sei ein Zeichen von Irrsinn, wenn jemand in seiner Deutung des Bibelbuches nicht gleich durchaus das Rechte zu treffen vermag. Sie hatten gewiß die reinsten Absichten.

Ich will Ihnen nun nichts weiter verbergen. Es ist hier ein Brief an mich gelangt. Sie haben eine hohe Protektorin. Es ist eine Dame, eine hochgestellte Frau – hochgestellt insofern, als sie von Adel ist und im Besitze von großen Reichtümern, hauptsächlich aber durch die allgemeinste Verehrung, die sie ihres echt christlichen Wandels wegen genießt! – Was sagte ich doch? Ja, diese hochgestellte, sehr einflußreiche Dame, sagte ich, wünscht Näheres über Sie zu wissen.

Ist Ihnen ein Laienprediger Nathanael Schwarz bekannt?«

Quint sagte: »Ja!«, während sein blasses Antlitz noch blässer wurde.

»Also dieser Bruder Nathanael«, fuhr der Geistliche fort, indem er Tabak aus einem Beutel nahm und die Pfeife stopfte, »dieser Bruder Nathanael hat Ihnen einen gar nicht zu unterschätzenden Dienst geleistet, ihn wieder haben, wie es scheint, zwei andere Männer dazu bewegt. Warten Sie mal, hier stehen die Namen!« Und er las mit einiger Mühe die Namen Martin und Anton Scharf von den Blättern des neben ihm liegenden Briefes ab.

»So liegen die Dinge also«, fuhr der Pastor in seiner Rede fort, »und ich bin also nun gebeten worden, wie die Dame schreibt, ›weil besagter Emanuel doch ein Schäflein Ihrer Gemeinde ist‹, in Erfahrung zu bringen, wie es mit Ihnen beschaffen sei. Ich setze hinzu, daß mein fernerer Auftrag ist, Sie mit einigem Reisegeld auszustatten und Sie auf das Gut der Dame zu laden, das in der Nähe von Freiburg gelegen ist, wenn nämlich unsre Besprechung beiderseits befriedigend ausfiele.

Jetzt also bitte ich, sagen Sie mir doch mal, wenn auch nicht in zwei Worten, aber doch möglichst kurz, wenn ich bitten darf, worauf Sie eigentlich und im Grunde hinauswollen!«

Lange saß Quint hierauf mit einem leisen, grüblerischen Lächeln da und sagte nichts, wobei ihn der Geistliche scharf beobachtete. Er nahm das Zögern für Schüchternheit. »Es ist«, begann er Quint zu ermutigen, »begreiflicherweise nicht leicht, so aus dem Stegreif gleich auf die tiefsten Dinge zu kommen. Am Ende wird es das beste sein, Sie betrachten mich als einen, der anderer Ansicht ist und den Sie zu sich bekehren wollen.«

Es hatte aber um das Haupt des armen Toren in Christo allbereits wieder wie Flügelrauschen aus reineren Regionen angehoben, und es strahlte ein innerer Glanz aus ihm heraus, als er langsam und ruhig den Blick erhob.

»Wenn die Dame, die hochgestellte Dame, von der Sie zu mir gesprochen haben, Herr Pastor, Christum sucht, so werde ich zu jeder Stunde des Tags und der Nacht, falls sie danach Verlangen trägt, zu ihr kommen. Sucht sie mich, so sage ich: sie bedarf meiner nicht, und ebensowenig bedarf ich ihrer.«

Der Pastor, auf den das plötzlich veränderte Wesen des Menschen sowie die Gravität seiner Worte unheimlich wirkte, glaubte im ersten Augenblick, daß Emanuel sich für Christus hielte und damit das Urteil ohne weiteres über ihn schon entschieden sei. Aber Emanuel nahm die Rede von neuem auf.

»Ich bedarf ihrer nicht«, sagte er, »denn ich bin an Mangel gewöhnt und bedürfnislos. Wessen ich aber allein bedarf, das ist unser Heiland Jesus Christus. Sie aber bedarf meiner nicht, denn Sie sehen selbst, was an mir ist. Ich habe niemals einen Vater gehabt, außer dem Vater Jesu Christi. Ich bin mit Recht verachtet gewesen zeit meines Lebens. Wenn ich es manchmal bitter empfand, so war es, weil ich mir eitle Dinge angemaßt, mich über den Heiland erhoben habe. Ich sage dies alles schon ungern aus, kommt es mir doch beinahe vor wie Ruhmredigkeit. Falls es auch Ihnen so erscheint, Herr Pastor, so werden mein Bruder, mein Vater und meine Mutter ein besseres Bild dessen entwickeln, was ich eigentlich bin. Also mich braucht die Dame, von der Sie reden, nicht. Sucht sie Christum dagegen, ich suche ihn auch! und die Gemeinschaft des Geistes ist die Gemeinschaft in Jesu Christo.«

»Wenn du aber, mein Sohn«, der Pastor duzte Emanuel plötzlich, »eine so bescheidene Meinung von dir hast, was durchaus im christlichen Sinne ist, so begreife ich nicht, wieso du dazu gelangen konntest, aufzutreten und in einem Lande, das voll von berufenen Dienern am Worte ist, als ob es von Gott und Christo verlassen wäre, gerade das Heil an deine eigene schwache Person zu knüpfen. Wer wirklich bescheiden ist, der, scheint mir, richtet doch nicht auf solche Weise öffentliches Ärgernis an.«

Emanuel sprach: »Herr Pastor, das Kreuz ist leider in dieser Welt noch immer und überall, wie der Apostel sagt, ein Ärgernis. Außerdem bin ich nur bescheiden im Hinblick auf mich, nicht aber auf den, der in mir ist.«

»Erkläre mir, wer ist in dir, mein Sohn?« fragte hierauf mit Nachdruck der Pastor.

»Der Vater, der mich gezeugt hat«, antwortete Quint.

Der Pastor versuchte ruhig zu bleiben. »Du redest da«, sagte er, »etwas äußerst Sonderbares, man könnte fast sagen, Ungeheuerliches, mein lieber Emanuel. Vielleicht habe ich dich nicht recht verstanden: wer ist der Vater, der in dir ist?«

»Derselbe, durch den ich wiedergeboren bin«, sagte der arme Narr in Christo.

»Du bist also deiner Ansicht nach wiedergeboren? Wieso? Womit begründest du das? Meine Demut würde mir nicht gestatten, so etwas ohne Vorbehalt etwa von mir selbst zu behaupten.«

»Ich aber«, sagte Emanuel ruhig, »weiß, daß ich wiedergeboren bin.«

»Inwiefern, mein Sohn, bist du wiedergeboren?«

»Ich bin durch die Gnade Jesu Christi wiedergeboren, nicht im Fleisch, sondern in seinem heiligen Geist. Gebrechlich und geknechtet an meinem Leibe, bin ich im Geiste stark und frei geworden. Ich war tot, begraben in der Verachtung der Welt und bin durch den Vater lebendig geworden. Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch ist kein Nutze.«

Der Pastor legte aus irgendeinem Grunde die Pfeife weg. »Sprich weiter, rede nur getrost und frei, was du auf dem Herzen hast! Ich habe Zeit. Ich werde dir zuhören«, sagte er in ermunterndem Ton. »Du bist also in der Wiedergeburt. Ich nehme an, daß du eine andere Wiedergeburt im Sinne hast als jene, die in der heiligen Taufe stattfindet und durch die wir aus Heiden Christen geworden sind und die uns ja allen gemeinsam ist. Übrigens wirst du mir am Ende noch sagen, wem du deine besondere Erkenntnis verdankst, denn du hast sie wohl kaum aus dir selber gewonnen.«

»Ich habe nichts von mir selbst«, sagte Quint, »sondern alles von dem, der in mir ist.«

Der Pastor wurde ein wenig ärgerlich. »Ich möchte dich bitten, mein Sohn«, ermahnte er Quint, »mit mir in einem ganz einfachen und natürlichen Ton, ich möchte fast sagen, menschlich zu reden. Was heißt das, du habest deine Erkenntnis, deine Belehrung von dem, der in dir ist? Oder sage mir wenigstens: was glaubst du denn, wer bist du denn selber?«

Emanuel fragte dagegen: »Nach der Geburt im Geist oder im Fleisch?«

»Meinethalben in beiden Geburten.«

»Nach der Geburt im Fleisch«, sagte Quint, »bin ich des Menschen Sohn! Nach der Geburt im Geist aber Gottes Sohn!«

Der Pastor erhob sich entsetzt vom Stuhle. »Um Gottes willen, was redest du da?« rief er aus. »Das allerdings ist im besten Falle eine Verstiegenheit, die in das Gebiet der Krankheit gehört. Und das muß ich natürlich der Dame berichten.« Er ging in Schlafschuhen, wie er war, mit wuchtigen Schritten durch das Studierzimmer. »Mensch, weißt du denn wirklich nicht, was du redest?« sagte er dann, vor Emanuel stillstehend. »Jesus Christus war Gottes Sohn, empfangen von dem Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria! Sollte deine Vermessenheit sich auch nur im Wahnsinn so weit erheben, daß du behaupten wolltest, jener Hochgebenedeite zu sein, so würdest du, trotz des Wahnsinns, Todsünde auf dich laden.«

Quint aber blieb still, und sein Gesicht verklärte eine tiefe, innere Heiterkeit.

»Erkläre dich mir noch einmal, und zwar ganz deutlich, und sage mir mit klaren Worten noch einmal, was und wie du's meinst!« Damit machte der Pastor, wie wenn er ersticken wollte, ein Fenster auf, das durch das grüne Gewölk eines Buchenwipfels verfinstert wurde.

Emanuel sagte: »Gott ist ein Geist.« Und er zog seine kleine Bibel hervor und las: »Und niemand kennet den Sohn denn nur der Vater; und niemand kennet den Vater denn der Sohn und wem es der Sohn will offenbaren. Wie wollen sie also den Sohn erkennen und von ihm wissen, außer wenn der Vater in ihnen ist?«

»Ich kann dir nur den Rat geben, bester Freund, deine Hand von diesen letzten und geheimnisvollsten Dingen zu lassen, glaube mir, die erlauchtesten Geister, die allergelehrtesten Köpfe haben sich schon vergeblich und oftmals zum Schaden ihrer unsterblichen Seelen daran versucht«, dies sagte nicht ohne Emphase der Geistliche. »Ich möchte dir raten«, fuhr er fort, »dich an die übliche Deutung zu halten, die jene Heilandsworte dahin interpretiert, daß allerdings die ganze Macht, Kraft und Tiefe des Gottessohnes nur der Vater ergründen kann, zu dem wir anderen, wir niederen Sterblichen nur durch die Liebe des Sohnes, unseres Heilands, gelangen können. Bevor wir aber unsere Besprechung beendigen, Bester, möchte ich wissen, was ich der Dame von deinen praktischen Zielen berichten soll. Gehörst du vielleicht zu denen, die an das apostolische Vermächtnis auch insofern glauben, als sie meinen, daß sie durch Gebet oder durch Handauflegen Kranke gesund zu machen imstande sind?«

»Nein!« sagte Quint. »Auch ist der Heiland nicht auf die Welt gekommen, um zu schwelgen, zu prassen und ein Diener des eigenen Leibes oder fremder Leiber zu sein. Er ist gekommen, nicht um uns die Welt gewinnen zu helfen, sondern die Welt zu überwinden.«

Hiergegen wandte der Pastor ein, daß immerhin, wie ja auch Emanuel wissen müsse, von Jesu sowohl als von den Aposteln Kranke durch Handauflegen geheilt worden seien. Der Heiland habe sogar Lazarum, Jairi Töchterlein und den Jüngling zu Nain von den Toten erweckt.

Hier sah der Geistliche, wie Emanuel Quint kaum merkbar den Kopf schüttelte, und fragte ihn, warum er diese Bewegung gemacht habe.

»Warum und zu welchem Zwecke«, gab jener zurück, ohne die Frage zu beantworten, »hätte der Heiland wohl den Mann, den Jüngling und das Kind in diese bejammernswürdige Welt zurückerweckt, die sie ja bereits überwunden hatten?«

Der Pastor begriff zunächst diese überraschende Frage nicht.

»Ich würde denken«, fuhr der Narr in Christo zu reden fort, »er habe es als Weltenrichter getan und um die Toten durch das erneute Leben für Sünden, die sie begangen hätten, zu strafen. Aber wer hat des Menschen Sohn zum Weltenrichter gemacht? Er kannte den Vater, der in ihm war, wie ich den Vater kenne, der in mir ist. Dieser Vater läßt regnen über Gerechte und Ungerechte und läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute, wie in meinem Herzen geschrieben steht. Herr Pastor: er läßt seine Sonne aufgehen! das ist nicht etwa vor allem diese, die hier auf die Bücherregale scheint, es ist nur die geistliche Sonne des Vaters, die auch den Bösen und Ungerechten zuteil wird. Wenn ich nun aber an den glaube, der nach dem Wort des Apostels Paulus nicht die Gerechten gerecht macht, sondern die Ungerechten und Gottlosen – ja, die Gottlosen! –, so frage ich mich: was wollte er Lazaro, Jairi Töchterlein und dem Jüngling zu Nain, da er sie doch nicht strafen wollte, als er sie auferweckte, tun? Nein! wahrlich, ich sage Ihnen, Herr Pastor: der Gottessohn hat diese Toten nicht auferweckt, außer aber ins ewige Leben! Des Menschen Sohn aber wollte und konnte sie nicht aufwecken. Es ist dem Menschensohne nicht gegeben, Tote aufzuwecken und Kranke gesund zu machen, außer durch menschliche Arzenei. Dem Menschensohn ist es allein gegeben zu leiden und mitzuleiden, das heißt zu lieben, das heißt barmherzig zu sein.«

»Du begibst dich auf ein gefährliches Feld, mein Freund«, sagte der Geistliche, indem er warnend den Finger hob, »du bist dir doch wohl bewußt, daß du im Begriff stehst, nichts Geringeres als die Wundertaten unseres Herrn Jesu zu leugnen. Du stellst dich damit zur Heiligen Schrift und zur gesamten christlichen Kirche in Widerspruch.«

»Der Herr hat gesagt«, erwiderte Quint, mit tiefen, fieberisch glänzenden Augen, »lasset die Toten ihre Toten begraben. Er hat nicht gesagt, er wolle die leiblich Toten zum Leben im Fleisch und zum geistlichen Tode auferwecken. Was die Schrift aber anbetrifft, so ist sie von irrenden Menschenhänden niedergeschrieben. Der Buchstabe tötet, und nur der Geist ist es, der lebendig macht. Wenn nun der Geist den Buchstaben nicht lebendig macht, so bleibt er tot. Der Geist ist immer mehr als der Buchstabe. Der Buchstabe aber steht im Buch, der Geist dagegen ist in mir. Alle, die zu lesen verstehen, lesen Buchstaben, aber was wäre der Geist, sollte er in den kleinen Maßen der Buchstaben eingekerkert sein? Das Gewand des Vaters sind nicht Buchstaben, das Gewand des Sohnes sind ebensowenig Buchstaben: beider Gewand ist die Ewigkeit. Und also, Herr Pastor, meine ich: der Vater in mir, der Sohn in mir ist das Wunder, sonst nichts. Ihr Reich ist nicht von dieser Welt. Und weltliche Wunder des Menschensohnes, was sollten sie gelten gegen das himmlische Wunder des Gottessohnes. Und wie der Sohn allein den Vater kennet, so kennet der Sohn allein den Sohn. Und auch der Vater kennet allein den Sohn und sich selber, auch hinter dem toten Vorhang, der sie verbirgt, den Worten der Schrift und ihren Buchstaben. Nur was der Vater lieset, ist wahrhaft gelesen und vom Vater erkannt, und was der Sohn lieset, ist wahrhaft vom Sohne gelesen und vom Sohne erkannt. Was nicht vom Vater und nicht vom Sohne gelesen ist, das gleicht einem Haufen kalter Asche, den eines blinden Bettlers Krücke durcheinanderrührt.«

»Nun meinethalben«, sagte der Pastor, »trage diese deine verwirrten Ansichten auf dem Schlosse des Gurauer Fräuleins vor. Ich glaube nicht, daß du Anklang findest. Nach dem, was ich bis jetzt schon gehört habe, gelüstet mich nicht, mit dir noch tiefer in das Labyrinth deiner überaus sonderbaren Meinungen einzudringen. Es ist schade: du denkst, doch du denkst ohne Führung und Anleitung, was ja immer, besonders bei einem ungeschulten Kopf, gefährlich ist. Hättest du Theologie studiert, so würdest du sicher nicht in das Gestrüpp von Irrtümern dich so hoffnungslos verwickelt haben. Denn ich fürchte, du hast bei weitem nicht alles mitgeteilt, was du auf deine Weise ergründet hast. Man würde noch Wunderdinge erfahren.

Nun sage mir noch zu guter Letzt, ob du mit deinen Ansichten und Meinungen irgendwelche irdischen Ziele hast? Willst du die Lage der armen Bevölkerung aufbessern? Wartest du, wie gewisse Schichten verstiegener Schwärmer, auf den baldigen Anfang des Tausendjährigen Reiches? Willst du die Kirche reformieren und gegen ihre Dogmen zu Felde ziehen? Strebst du die Gütergemeinschaft an, wie sie bei den ersten Christen üblich war? Neigst du zu den Sozialisten? was ich dir ganz besonders und dringlichst abraten möchte.« – Aber zu allen diesen Fragen schüttelte Quint verneinend den Kopf. Noch einmal, mit einem stillen prüfenden Blick, betrachtete er die blonde, kernige Jugendgestalt des Pastors, dann war es, als verhängte ein bleicher undurchdringlicher Vorhang sein Angesicht und damit alle Geheimnisse seines Innern.

»Ja«, seufzte der Pastor, »so wären wir nun ans Ende unserer Besprechung gelangt.« Er begab sich mit diesen Worten an einen hohen, dunkelgebeizten Schrank, ein ehrwürdiges, altes Barockmöbelstück, öffnete seine Flügeltüren und nahm aus einem der vielen Schubfächer, die sichtbar wurden, einen Kassenschein. Diesen nun nachdenklich in der Hand haltend und mit den Fingern daran herumstreichend, gab er sich, scheinbar noch unschlüssig, einer längeren Überlegung hin. »Ich muß Ihnen ehrlich sagen, Quint« – er siezte ihn wieder –, »daß ich eigentlich nicht recht weiß, wie ich im Sinne der Dame recht handle: gebe ich Ihnen oder gebe ich Ihnen nicht das Geld? Wollte ich es Ihnen vorenthalten, so hätte ich allerdings anders handeln sollen von vornherein. Ich war also etwas unvorsichtig. Immerhin ist es schwer, sich etwas so Unwahrscheinliches vorzustellen, als Ihr über alle Begriffe sonderbares Bekenntnis ist. Ja, also, so gehen Sie nur in Gottes Namen getrost zu dem Gurauer Fräulein hin. Mag sich die allzu große Willfährigkeit und Leichtgläubigkeit der edlen Dame in Sachen der Religion einmal auf diese Weise ein wenig rächen, und mag sie zur Erkenntnis gelangen, daß das von ihr geförderte Laienwesen in Sachen der Religion manchmal auch solche Früchte zeitigt.«

Der Pastor hatte somit dem wunderlichen Tischlergesellen, der sich in einem Atem rühmte, des Menschen Sohn und der Sohn Gottes zu sein, mit einer entschiedenen Geste den Kassenschein entgegengestreckt, den jener indessen kopfschüttelnd ablehnte. Der Geistliche, der das zunächst nicht begreifen wollte, ward dadurch nicht wenig beschämt und stellte sich gutmütig aufgebracht. Quint aber sagte, es liege ihm fern, die Güte der Dame, die Güte des Pastors nicht dankbaren Herzens zu erkennen, aber kurz und gut, er bedürfe des Geldes, auch wenn er die Dame besuche, nicht.

 

Der Pastor rief, als Quint sich entfernt hatte, seine Frau zu sich ins Zimmer herein. Sie sahen den Narren durch den Vorgarten schreiten. »Siehst du den langen Menschen, Frau?« fragte er, auf Emanuel hinweisend. – »Na, ganz natürlich«, sagte die Pastorin, »sehe ich ihn!« – »Sage mir mal, wie kommt er dir vor? Was würdest du nach seinem Gang und seinem Äußeren von ihm halten?« – Die Pastorin, die ein junges, gewecktes Weibchen war, sagte unwillkürlich herauslachend: »Ich würde denken, daß es einer ist, der den Gendarm mehr fürchtet als Gott!« – »Meine Liebe«, gab ihr der Pfarrherr zur Antwort, »dieser stromerhaft aussehende Kerl hat mich minutenlang auf eine mir noch nicht vorgekommene Art und Weise verwirrt gemacht. Fasse nur mal meine beiden Hände!« – »Aber Männchen«, sagte die Frau, »sie sind ja kalt und ganz feucht!« – »Ja, denn dieser Mensch behauptet, er sei nichts Geringeres als Jesus Christus von Nazareth.«

 


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