Gerhart Hauptmann
Der Narr in Christo Emanuel Quint
Gerhart Hauptmann

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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Nach einiger Zeit fand im »Musenhain« jener vielbesprochene Abend statt, der den Kreis der dort Vereinigten sprengte und die Besuche in dem schlimmen Lokal zum Abschluß brachte.

Hedwig Krause war erschienen, aber nicht in Schwesterntracht, und hatte, gleichsam zum Schutz, den in persönlich moralischen Dingen äußerst braven und gediegenen Doktor Hülsebusch mitgebracht. Dieser nun wieder hatte schon längst den Wunsch gehabt, das Treiben um Quint, wie es sich in dieser verrufenen Umgebung abspielte, aus der Nähe zu beobachten. Es war damals nicht ganz ohne Gefahr, den Sitzungen solcher Konventikel beizuwohnen, da man überall geheimbündlerische Tendenzen witterte, denen ein gewisses Ausnahmegesetz, das in jenen Zeiten in Kraft war, mit drakonischer Strenge zu Leibe ging. Aber gerade diese Strenge bewirkte einen zähen und fanatischen Widerstand und trug dazu bei, daß sich in vielen guten jugendlichen Köpfen kühne und revolutionäre Ideen in Menge bildeten. Man rechnete allen Ernstes mit einem gewaltigen, allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenbruch, der spätestens um das Jahr neunzehnhundert eintreten und die Welt erneuern sollte. Wie die armen ländlichen Professionisten, die den Spuren des Narren gefolgt waren, auf das Tausendjährige Reich und auf das Neue Zion hofften, so und nicht anders hofften die sozialistischen Kreise und diejenigen jugendlichen Intelligenzen, die ihrer Gesinnung nahestanden, auf die Verwirklichung des sozialistischen, sozialen und also idealen Zukunftsstaats.

Über vielen Tischen politisierender Volkskreise schwebte damals, verquickt mit dem Bier- und Zigarrendunst, gleich einer bunten, narkotischen Wolke die Utopie. Was bei dem einen diesen, bei dem andern jenen Namen hatte, war im Grunde aus der gleichen Kraft und Sehnsucht der Seele nach Erlösung, Reinheit, Befreiung, Glück und überhaupt nach Vollkommenheit hervorgegangen: das gleiche nannten diese Sozialstaat, andere Freiheit, wieder andere Paradies, Tausendjähriges Reich oder Himmelreich. Diese sich immer neu erzeugende Wolke des Zukunftsstaates oder Zukunftsreichs war auch über den Köpfen der Gesellschaft im »Musenhain« stets gegenwärtig.

Dominik saß zur Linken, Hedwig Krause zur Rechten Quints, und die Eltern des Mädchens würden nicht wenig erschrocken gewesen sein, ihre Tochter in solcher Umgebung zu sehen. Übrigens war der Leiter ihres Krankenhauses ein berühmter medizinischer Forscher und Arzt, der liberale Ansichten hatte und sogar, über Doktor Hülsebusch und Schwester Hedwig hinweg, selbst ein Interesse an Quinten nahm. Sein Haus vor der Stadt war ein in Deutschland bekannter gesellschaftlicher Mittelpunkt. Er liebte Musik, er unterhielt mit den meisten bedeutenden Geistern der Nation im Gebiete der Literatur und Kunst Beziehungen. Kinderlos und bemittelt, unterstützte die Gattin junge begabte Menschen, Künstler und Künstlerinnen, und ein gewisser junger Maler, Bernhard Kurz, wurde von Professor Mendel und seiner Gattin wie ein eigener Sohn gehalten.

Da nun Hedwig Krause zuweilen in die Familie ihres Chefarztes gezogen worden war und Bernhard Kurz, den sie von dorther kannte, ebenfalls, nicht weit von ihr, in der Tafelrunde dieser schlechten Spelunke saß und überdies Mendel selbst einmal zu ihr gesagt hatte: Eine Person wie Sie, Schwester Hedwig, kann und soll ohne Schaden überall hingehen!, so fühlte sie bald die Unsicherheit und das Unbehagen, das sie beim Eintritt befallen hatte, nachlassen.

Sie war überdies nicht die einzige Frau in diesem Kreis. Ihr gegenüber saß, neben einem nicht sehr großen, einem russischen Bauern ähnelnden Menschen, ein junges Weib, das immer wieder schmachtend und abhängig nach den kleinen, unter Bart, Haupt- und Wimpernhaar fast verborgenen, blöde zwinkernden Schweinsäuglein ihres Nachbars hinblickte. Dieser Nachbar, der ein fast immer subsistenz- und obdachloser Dichter war, zog zuweilen ein Blättchen heraus, auf das er mit Bleistift Notizen machte. Sein Name war Peter Hullenkamp und der seiner Freundin Annette von Rhyn.

Peter Hullenkamp, mit Bettfedern im verwahrlosten Haar und dem langen, kaftanartigen Paletot, den er deshalb nicht auszog, weil er ihn direkt auf dem Hemde trug, war eigentlich eine Apostelgestalt. Kurt Simon erschien er wie ein Waldbruder, dem jungen Dominik wie ein kynischer Philosoph des Altertums. In Wirklichkeit war er ein zeitfremder Mensch, hinter dessen steiler, gewaltiger Stirn sich eine ferne Zukunft und eine ferne Vergangenheit in ein ewig gärendes Märchen zusammenbildeten. Auch Annette von Rhyn, die überall neben ihm herlief, wie Antigone neben dem blinden Ödipus, war vollkommen durch ihn und er durch sie in dieses brodelnde Märchen eingeschlossen. Sie nannte ihn abwechselnd einen König von Taprobane, einen Kaiser der sieben schwimmenden Silberinseln, einen Aufseher der hängenden Gärten der Semiramis. Vier Wochen lang nannte sie ihn den Herzog von Ophir, die nächsten vier Wochen lang war er ihr Harun al Raschid, der Kalif, und sie lebte mit ihm, indem sie ihm seine Flöhe absuchte, an den mit Früchten, Gewürzen und Getränken überlasteten Tischen in den Palästen und bedient von den vielen hundert Sklaven ihrer Einbildung.

Außer Hedwig Krause und Annette von Rhyn hatte, die Kellnerinnen natürlich ausgenommen, noch eine dritte Frau, Josefa Schweglin, eine russisch-polnische Studentin aus der Schweiz, den Mut gehabt, sich in das Bereich der berüchtigten Kneipe und in das Bereich des Narren vom Grünen Baum, wie Quint hier genannt wurde, hinabzuwagen. Dieses Mädchen, das mit jenen Kreisen Fühlung hatte, die Turgenjeff die nihilistischen nennt, war erfüllt mit eigenen Ideen und hatte, außer einer großen Befähigung und Leidenschaft für die Mathematik, eine noch stärkere Leidenschaft für alles, was in der Seele des niederen Volkes nach Freiheit, Erlösung und Leben rang. Auch ihre Parole war: alles mit dem Volk, für das Volk, durch das Volk, obgleich sie aus einem hochmütig-adelsstolzen Hause stammte und, wie viele ihrer russischen und polnischen Mitschwestern, mit seidenen Kleidern, Equipagen, Dienern und Gouvernanten aufgewachsen war.

In diesem Kreise geistvoller und gebildeter Leute, wie überhaupt unter den Eindrücken der großen Stadt, waren die sieben ländlichen Anhänger Quints etwas schüchtern und kleinlaut geworden. Aber sie hielten mit Augen, in denen die mystische Flamme flackerte, ihren mit leidenschaftlichen Opfern erkauften Messias festgepackt – und es war ein Bann, den er spüren mußte und mit dem auf keine Weise zu spaßen war, ebensowenig als man ihm so und so zu entrinnen hoffen konnte. Diese einfachen Männer mochten bescheiden und schüchtern sein, aber sie ließen sich im Grunde keinen Pfennig von dem, was sie von Quint glaubten fordern zu dürfen, abhandeln. Wehe aber, wenn er etwa eines Tages als eine Art Zechpreller vor ihnen stünde!

In Wahrheit hatte Emanuel für sein Teil mit dem Leben abgeschlossen und eben darum eine volle Empfindung der Unabhängigkeit, der Freiheit erlangt. Aber er fühlte recht wohl, wie das Leben hier in der Stadt ihn mit tausend neuen Organen umklammern wollte. Während er zwar die Gleichgültigkeit und den Haß der großen Masse deutlich empfand, fühlte er doch auch immer mehr Augen mit spannungsvoller Erwartung auf sich gerichtet und wußte, daß sie, ohne eine Art endlicher übernatürlicher Offenbarung, nicht wohl würden zu befriedigen sein. Es gab auf seinem Wege hier mitunter für ihn weder ein Vorwärts noch Zurück. Oft dachte er, aus dem Boot, wenn er allein auf der Oder schwamm, in den Fluß zu verschwinden. Aber er hoffte und harrte, beinahe mit heißer Sehnsucht, auf eine ahnungsvoll vorausgefühlte andere Todesart, die er aus dem Unbekannten heraus bestimmt erwartete. Immer wieder ward er enttäuscht, wenn sie der Abend nicht gebracht hatte und die Sonne eines neuen Tages wiederum in sein Fenster schien.

Während also die buntgewürfelte Tafelrunde, und mancher außerhalb der Tafelrunde, der Entpuppung des unerklärlichen Menschen wie einer Erlösung entgegensah, stiegen in diesem immer stärkere Wellen empor, die dem Tod durch Fügung des Schicksals wie einer Erlösung entgegenfluteten.

Dominik hatte zu seiner Geliebten, Elise Schuhbrich, gesagt, Quint sei ein Mensch, der in einer erhabenen, innerlichen Größe über das Erdreich wandele. Die ganze Person erhebe sich bis in das Göttliche hoch hinaus, während er kaum mit den Füßen in der platten Gemeinheit ihrer niedren Umgebung stünde. In der Tat hatte Emanuel Wallungen überirdischer Größe und Erhabenheit. Er sagte selbst wiederholt zu Dominik, wie er sich allbereits dem Unsichtbaren überall näher verbunden fühle als dem Sichtbaren. Der Weber Schubert meinte, daß er schon halb im Himmel sei.

Im ganzen war seine Stellung in der Tafelrunde, wo die Jünger ihn anhimmelten, der Professor ihn für ein gutes Modell und sonst für einen sensationellen Narren nahm, wo dieser junge Künstler ihn für ein Genie gelten lassen wollte, der andere ihn für einen von Schwachsinn Geschlagenen hielt, mehr lächerlich als beneidenswert. Besonders da zwar ein jeder von dem starken Eindruck seiner Persönlichkeit getroffen, aber doch im letzten Winkel der Seele nicht sicher war, ob er es mit einem reinen und gutgläubigen Toren oder mit einem bewußten, abgefeimten Betrüger zu tun hatte. Die aber, ohne im Sinne des Köhlerglaubens gläubig zu sein, mit starker Verehrung dem einzigartigen Wesen Quints ergeben waren, und zwar nicht ohne eine gewisse, mystische Gläubigkeit, waren: die russische Polin, der haarbuschige Dichter Peter Hullenkamp, Kurt Simon, Benjamin Glaser und vor allem Hedwig Krause, Elise Schuhbrich und Dominik.

 

Als die Gesellschaft, zahlreicher als an jedem früheren Abend, eine Weile über alltägliche Dinge plaudernd beisammen war, fing man bereits an den übrigen Tischen und in den übrigen Räumen des Lokals an, sich über sie aufzuhalten. Nach einiger Zeit fand eine Genossenschaft halb betrunkener Kommis es für angebracht, halblaut das fromme Lied »Ach bleib mit deiner Gnade!«, unterbrochen von »Du bist verrückt, mein Kind, du mußt nach Berlin!«, anzustimmen.

Es war in der kleinen Gasse kein starker Wagenverkehr, dennoch hörte man durch die Fenster, die außen mit Läden verschlossen waren, durch das Geklapper der Bierseidel und das Geträller der Kellnerinnen den dumpfen Rumor einer großen Stadt. Der blonde, verstandestüchtige Doktor Hülsebusch, der sich eigentlich vorgenommen hatte, dem Idol Schwester Hedwigs einmal gründlich den Puls oder auf den Zahn zu fühlen, erörterte, während die übrigen in einzelnen Gruppen andere Fragen behandelten, mit Dominik das Für und Wider der Vivisektion. Dominik machte starke Einwände, während Hülsebusch alle entsetzlichen Folterqualen, die man den Tieren im Dienste der Forschung auferlegte, im Interesse der Menschheit für notwendig hielt. Dominik meinte: Schuld zeuge Schuld, und wenn es auch nur das Verbrechen am Tiere wäre, so hätte im Grunde die Menschheit nur den Fluch, der in allem Verbrechen liege, davon. Übrigens hätte die Menschheit bereits einen so großen Erkenntnisschatz, daß sie ihn gegen die Summe des massenhaften brutalen Unsinns, der die Welt beherrsche und der von einer niedrigen und beschränkten Selbstsucht getragen sei, nur durchzusetzen brauche, um von dem größten Teil der Übel, denen sie jetzt mit falschen Mitteln zu Leibe gehe, befreit zu sein. – »Sie wenden sich also gegen das Recht der freien Forschung!« sagte Hülsebusch, während mehrere Male das Wort »Gemeinheit« über den Tisch herübergeflogen kam, das der Professor ausgesprochen hatte und das sich auf Vivisektion bezog. »Wenn Sie das Recht der freien Forschung unterbinden, meine Herren«, rief Doktor Hülsebusch, »wie wollen Sie denn jemals zu erträglichen allgemeinen Zuständen kommen?« – »Die Wissenschaft«, rief ein Herr vom Nebentisch, »die Wissenschaft hat uns zurückgebracht!« – »Ein solches Wort kann nur jemand aussprechen, der von Wissenschaft eine ebenso große Ahnung wie ein Droschkenpferd von Klavierspiel hat!« entgegnete Doktor Hülsebusch. Der fremde starke Herr vom Nebentisch, der schon erheblich getrunken hatte, trat darauf an die Gesellschaft heran und fing an, von einem gewissen Leiden zu klagen, das er nicht näher bezeichnen wollte und das seit vier Jahren unter den Händen von mindestens fünfzehn Ärzten nur schlimmer und schlimmer geworden sei. – »Solche Leute wie Sie«, rief Hülsebusch, »die sich mit ihrem Leiden nach vier Jahren noch immer in solcher Umgebung herumtreiben, könnte nicht einmal Gott selber gesund machen. Wir lernen nach und nach«, fuhr er fort, »mittels der Wissenschaft die Natur beherrschen!« – »Lernten wir uns doch erst selbst beherrschen«, sagte Dominik. – »Was wollen Sie denn mit aller Ihrer Selbstbeherrschung anfangen?« fragte Hülsebusch, »gegen solche furchtbaren Feinde der Menschheit wie Cholera, Blattern, Lues und Tuberkulose, lieber Freund? Da müssen doch eben wir Ärzte heran.« – »Gute Luft, Bewegung, Sonne, Seife«, warf Benjamin Glaser ein, »ist meiner Ansicht nach das ganze ärztliche Evangelium.«

Jetzt redete Quint, und in dem Kreise der gebildeten Leute erregte die veraltete und dabei biblische Form seines Denkens eine mitleidsvolle Betretenheit, die sich in einem zwiefach höflichen Aufhorchen ausdrückte.

»Der Satan«, sagte Quint mit einer bald hohlen, bald leise klingenden Stimme, »ist der Feind und Mörder von Anbeginn. Wer aber ein Leib und ein Geist ist mit Gott, hat das ewige Leben. Der Satan allein brachte Krankheit und Tod in die Menschenwelt. Des Satans Fluch, unter dem wir leben, heißt Feindschaft, Haß, Selbstsucht, Gesetz und ewig sich wiederzeugende Sünde durch das Gesetz. Kann jemand meinen, daß Krankheit etwas anderes als Sünde ist? Der Teufel war des Gesetzes Anfang, und des Gesetzes und also der Sünde und also der Krankheit Ende wird Christus sein.«

Elise Schuhbrich hatte ihre beiden Arme ungeniert, hinter dem Stuhle Dominiks stehend, über seine Schultern gelegt, und er hielt ihre Hände in den seinen, während sie mit einem ernsten, etwas müden Gesichtchen, unter schweren, blonden Flechten, andachtsvoll auf Quinten herabblickte. Auch ihr Geliebter blickte auf Quint. Als dieser schwieg, trat eben der Agitator Kurowski grüßend von der Straße herein und hängte seinen Überrock an den Kleiderständer, nahm dann ein Spiegelchen, kämmte sich, bestellte Bier, faßte die Kellnerin unter das Kinn und hatte dann schließlich zwischen Kurt Simon und der russischen Polin Platz gefunden.

»Gut!« sagte Hülsebusch, ohne merken zu lassen, daß er es seiner Meinung nach mit einem Irren zu tun hatte, zu Emanuel Quint. »Gut! Aber das können wir doch nicht den Kranken sagen, die zu uns kommen und fordern, daß man sie gesund machen soll.

Ich sage Ihnen übrigens offen: ich bin ein Gegner des Christentums. Ich bin mit Goethe, Schiller und unseren größten Philosophen der Ansicht, es ist durch die christliche Lehre ein lebensfeindliches Element in die europäische Menschheit gekommen. Das Christentum hat zum Beispiel mit der Verdammung, Entheiligung und Entwürdigung des Geschlechtslebens allein schon maßloses Unheil angerichtet. Es hat den Vorgang der Liebe der Geschlechter, aus dem die neuen Menschen hervorgehen, auf eine Stufe mit den Vorgängen in einer Latrine oder Kloake gebracht. Ja sogar auf eine noch tiefere Stufe. Ich betrachte das Christentum noch immer überhaupt als den wahren Krebsschaden unserer gesamten menschlichen Zustände.«

Ein Murmeln ging durch den Jüngerkreis, aber Anton Scharf, der mit stotternden Worten dreinfahren wollte, ward durch einen Wink seines Meisters zum Schweigen gebracht.

Dann sagte Quint:

»Es ging ein Sämann aus zu säen seinen Samen, und indem er säete, fiel etliches an den Weg und ward zertreten, und die Vögel unter dem Himmel fraßen es auf. Und etliches fiel auf den Fels, und da es aufging, verdorrete es, darum, daß es nicht Saft hatte. Und etliches fiel mitten unter die Dornen, und die Dornen gingen mit auf und erstickten es. Und etliches fiel auf ein gutes Land. Da es aber aufgehen wollte, kam der Feind des Nachts und säete Unkraut darunter aus. Und es war am Tage der Ernte kein gutes Jahr, und nach Frost und Hitze, nach Meltau und Hagelschlag waren wenige Körnchen Weizens übriggeblieben.«

»Er könnte sich gut etwas deutlicher ausdrücken«, bemerkte Weißländer zynisch, »ohne seiner Stimme Zwang anzutun.« – Josefa Schweglin aber, die mit Bewußtsein die gleiche Anrede wie die Jünger brauchte, sagte: »Sie meinen also, Meister, daß unser heutiges Christentum Fels, Weg, Dornen, Hagel, Brand, Meltau, kurz alles andere, nur nicht der ursprüngliche Weizen des Sämanns ist. Nun gut! Aber ist überhaupt auch nur ein Körnchen des alten Weizens übriggeblieben?«

»Was müßte geschehen, wenn ein Körnchen des alten Weizens übriggeblieben wäre?« fragte, statt zu antworten, Quint.

»Es müßte in gute Erde gelegt werden.«

»Es sei denn, daß ein Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, anders bleibt es allein und trägt keine Frucht«, fuhr Quint fort. »Du hast recht geredet!«

»Demnach, wenn wir Sie richtig verstanden haben, sind Sie im Sinne des heute herrschenden römisch-katholischen, griechisch-katholischen oder protestantischen Christentums«, bemerkte Kurowski, »durchaus kein Christ?«

»Ich bin die Auferstehung und das Leben!« sagte Quint.

Diese letzte Bemerkung bewirkte eine allgemeine Bewegung unter den Anwesenden. Keiner von ihnen hätte eigentlich sagen können, welcher Art die Wirkung war, die sie ausübte. Wenn der eine sich in seinem christlich-religiösen Gefühl, dessen doch jeder, wenn auch zurückgedrängt, noch genug besaß, verletzt fühlte, der andere beleidigt, der dritte erschrocken war, der vierte und fünfte mit lauernder Spannung weiteren Offenbarungen des Tollhauskandidaten entgegenpaßte, so hatten doch alle zugleich, selbst Doktor Hülsebusch, einen unerklärlichen, tiefen Schauder gefühlt. Jedes Auge war auf diesen fest in seinem Wahne begründeten neuen Messias gerichtet, selbst von dem vorausgesetzten falschen Schein wie von etwas Übernatürlichem angezogen. Nie hatte man mit so leidenschaftlicher, fast quälender Gier hinter das Geheimnis eines Geistes zu dringen begehrt.

»Ich sage euch aber, das Geheimnis des Reiches, das Senfkorn im Acker der Menschheit heißt Selbstlosigkeit!« Und Quint unterließ nicht, wieder gewisse entscheidende Sätze der Bergpredigt wie: »Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch beleidigen und verfolgen!« hinzuzusetzen.

»Ist wirklich die Befolgung jener Sätze und der Umfang der heute geübten Selbstlosigkeit gleich dem Umfang des Reiches Gottes auf Erden, so muß man allerdings sagen, daß es noch immer nicht größer als ein Senfkorn ist«, sagte Fräulein Schweglin.

Doktor Hülsebusch aber rief: »Die Entwicklung, ein menschlicher Staat, die Kultur überhaupt ist nicht zu gründen auf Selbstlosigkeit. Kampf, Selbstsucht bleiben die mächtigsten Triebfedern. Das Christentum hat es darum auch in zweitausend Jahren mit dieser falschen Tendenz nur zu einer ungeheuren Heuchelei, zu einem ungeheuren Fiasko gebracht. Die Welt wird überall von Selbstsucht getragen, die Nationen werden durch Selbstsucht aufrechterhalten, von Selbstsucht werden alle großen und kleinen Handlungen der Menschen untereinander diktiert und inspiriert. Die Kirche übt die Herrschaft in Gott und fordert dafür die Knechtschaft in Gott. Die Herren wollen sich gegen die Herren und gegen die Knechte, die Knechte gegen die Knechte und gegen die Herren durchsetzen. Da ist nicht einer in den wilden Interessenkämpfen unserer Zeit, der nicht seine eigene Festung ist. Soll er nun also selbstlos sein und sogleich seine Festung schleifen lassen? Das allersterilste Prinzip, das es geben kann, behaupte ich, ist die Selbstlosigkeit: denn wer sie wirklich und mit ganzer Folgerichtigkeit wahrmachen will, der müßte, um den Frieden um jeden Preis durchzusetzen, vom Schauplatz oder vom Kampfplatz abtreten, der müßte freiwillig aus dem Leben gehen. Damit würde, horribile dictu, Selbstmord die echte christliche Forderung, die eigentlich letzte Folge der Lehre sein.«

»Töte die Selbstsucht, und wenn es nicht anders sein kann«, sagte Quint, »so töte dich selbst. Und wer sein Leben lieb hat, der wird es verlieren, und wer sein Leben nicht lieb hat, der wird es gewinnen, sage ich euch.«

 

Nun ereignete sich ein Zwischenfall. Benjamin Glaser, der möglicherweise ein wenig zu hastig getrunken und bisher, den Kopf in die Hand gestützt, keinen Blick von Quinten verwendet hatte, schien plötzlich durch Wort und Anblick des Narren vom Grünen Baum widerstandslos gleichsam in einen Strudel hineingezogen zu sein. Er sprang auf und sagte mit fester, lauter und bebender Stimme: »Meister, was soll ich tun, um deiner würdig und des ewigen Lebens, von dem du sprichst, teilhaftig zu sein?«

Kurt Simon versuchte Benjamin, während er leise und eindringlich redend seine Erregung beschwichtigen wollte, auf den Stuhl niederzuziehen. Der Professor sagte: »Wir sind aufgeklärte Leute und Künstler, hysterische Weibspersonen sind wir nicht!« – »Machen Sie doch um Gottes willen keine Geschichten«, sagte Bernhard Kurz, »wir werden ja im höchsten Grade lächerlich! Die Leute werden ja aufmerksam!« – »Das geht weiß Gott etwas weit«, sagte Weißländer. »Sollen wir uns denn hier von einem Primaner, einem durchgefallenen Abiturienten« – gemeint war Dominik –, »und einem Fuchs im ersten Semester unsterblich blamieren lassen?«

Inmitten dieses Durcheinanders von Worten erhob sich jetzt feierlich die Apostelgestalt Peter Hullenkamps. »Ich sage euch«, rief er, »laßt ihn reden! Ihr seid ein banales, plattes, flaches, gottverlassenes Geschlecht, das von dem wahren Geiste des Christentums keine Ahnung hat. Trinkt euer Bier und raucht eure Giftstangen, aber spuckt nicht den Unrat eurer Seelen aus, wenn eine Raupe, die verpuppt im Staube gelegen hat, zum erstenmal ihre Schmetterlingsflügel ausbreiten will! Weiter«, wandte er sich an Benjamin Glaser, indem er einen ihm dargebotenen Schnaps bis zur Neige trank, »immer vorwärts, junger Idealist! Weiter, lassen Sie sich nicht abschrecken!«

Die Worte des Dichters, verbunden mit dem Trunk, den er tat, lösten unwiderstehlich das allgemeinste Gelächter aus.

Benjamin hatte inzwischen, bleichen Antlitzes, dagestanden, von allen Einsprüchen unberührt. Jetzt sagte er: »Wovon sollte ich mich wohl einschüchtern lassen? Ich denke doch, daß, sofern man sich in einem Erlebnis wie dem unsern befindet und einem über das Leben hinaus entscheidenden Augenblick nahe fühlt, alles andere geringfügig ist.« Benjamin schwieg und suchte nach Worten, da sprang Dominik auf und umarmte ihn. »Jawohl«, rief er alsdann mit lauter Stimme, »ich bin ein durchgefallener Abiturient! Aber dürfen vielleicht Primaner oder durchgefallene Abiturienten, die dem Leben, weil es sie anekelt, hoffnungslos gegenüberstehen, nicht Gottsucher sein?« – »Machen Sie lieber«, schrie Hülsebusch, »physikalische oder chemische Experimente, und suchen Sie herauszukriegen, durch welches Verfahren aus der anorganischen Natur das Eiweiß zu ziehen ist! Wir müssen lernen, aus Steinen Brot machen. Dann wird die berühmte soziale Frage gelöst, und Sie werden ein wirklicher Wohltäter der Menschheit sein.« – »Brot?« fragte Dominik mit Achselzucken und im Ton der Geringschätzung. »Euer wissenschaftliches Brot ist mir zu trocken. Wenn Sie wenigstens Manna gesagt hätten!« – Kurowski rief: »Unbedingt hat der Doktor recht; denn entweder ist Gott überhaupt nicht zu finden, trotzdem er von tausend und aber tausend versunkenen Menschengeschlechtern gesucht worden ist, oder aber er ist gefunden, und dann, muß ich sagen, lohnt es des Suchens nicht. Was nützt mir ein Gott, dem nach hunderttausend Jahren Nachdenkens die Lösung der sozialen Frage noch nicht gelungen ist oder der sich für sie nicht interessiert!«

Alle sprachen jetzt durcheinander, so daß in dem Lärm der Stimmen etwas Zusammenhängendes kaum noch zu unterscheiden war. Der starke Herr, der vorhin über die Ärzte geklagt hatte, wiederholte fortwährend: »Selbstlosigkeit? Das wäre doch eine höchst dürre Moral!« – »Ich scheue mich nicht zu sagen, meine Herrschaften«, sagte ein Individuum, das herangetreten war und eine schlechte Zigarre, wie aus Höflichkeit, zwischen zwei Fingern in die Höhe hielt, »ich scheue mich nicht zu sagen, ich bin ein Sünder und in gewisser Beziehung gläubig. Jesus ist für mich weit mehr als ein bedeutender Mensch gewesen. Ich bin ein Sünder, ich hoffe auf Sündenvergebung und hoffe auf die ewige Seligkeit, die uns der Heiland versprochen hat. Das aber muß ich Ihnen versichern, wäre sein Himmel nur Selbstlosigkeit, dann, ja dann wäre Jesus der größte Betrüger gewesen, der je gelebt hätte. Selbstverständlich ist er das nicht.«

Weißländer, der sich mit einer der Kellnerinnen für eine Weile zurückgezogen hatte und wiederkam, hatte Ränder unter den Augen. Er rief nach Bier, er schlug auf den Tisch. Er rief, daß es eine Gemeinheit wäre, das Heilige so in den Schmutz zu ziehen. – »Ich halte mich aber durchaus, auch in dieser Umgebung, nicht für schmutzig«, sagte gelassen und eine Zigarette drehend der Maler Kurz. »Es müßte Ihnen doch auch bekannt sein, daß der Gründer der christlichen Religion kein Salonlöwe gewesen ist. Seine Jünger sind ganz gewöhnliche Fischersleutchen und andere Professionisten gewesen. Ich bin durchaus nicht sehr bibelfest, aber es ist mir, als ob ich gelesen hätte: Christus nimmt die Sünder an, oder so, und isset mit ihnen. So oder ähnlich, ich weiß es nicht. Es ist vielleicht dem Herrn nicht bekannt«, äußerte er mit Bezug auf das Toben Weißländers, »wie die ersten christlichen Gemeinden von den sogenannten Heiden Versammlungen der Bettler genannt wurden. Und was den Gebrauch von Bibelzitaten betrifft, so heißt es ja doch: suchet und forschet in der Schrift!« – Dominik rief: »Von wem ist wohl das lautere Wort am meisten mißbraucht worden? Ich denke doch von den vielen Hunderttausenden, die es zu Herrschaftszwecken herabwürdigten und es zur Knute, zur Folter, zum Scheiterhaufen erniedrigten. Ich meine damit alle die niederträchtigen, betrügerischen, tückischen, egoistischen, zänkischen, groben, schändlichen, oberflächlichen, pöbelhaft eitlen, von Dummstolz aufgeblähten, kriechenden, anmaßlichen, lüsternen, verbuhlten schlechten Pfaffen – die guten natürlich nicht! –, die für gute gegolten haben und unter dem Schutze ihres Talars, ihrer kirchlichen Festung weiter für gute gelten. Diese sind es, diese – nicht wir! – entehren das Gotteswort.

Und was brauchen denn diese Menschen den Heiland? Fühlen sie sich denn nicht in diesem Leben hier auf der Erde ganz kannibalisch wohl? Sagen Sie doch! Was soll denn so ein fettiger, wohlgenährter Pfaff, der fette Gänse und Knödel frißt, von den Leiden des Menschensohns wissen? Sehen Sie sich doch so ein Gesicht mal an! So ein Kerl kann ja überhaupt kein Gesicht machen. Diese Kerle sind ja nicht mal Kuhschweizer. Sie haben das Christentum einfach zur milchenden Kuh gemacht! Diese Leute kennen und brauchen den Heiland nicht, und der Heiland kennt und braucht sie nicht! Aber diese neun Kellnerinnen hier, die, ausgenützt, von Ihnen und aller Welt verachtet, entehrt und mißbraucht, ausgestoßen von der gesamten christlichen Welt, in Elend und Siechtum verkommen müssen, die haben ihn nötig, die brauchen ihn.«

Auf diese Rede, zu der sich Dominik leider mehr und mehr durch die Erregung des Augenblicks hatte hinreißen lassen und die er mit den Worten schloß: »Mich ekelt, mich ekelt, mich ekelt die Welt!«, wäre vielleicht sofort ein böser Auftritt gefolgt, wenn nicht ein langgelockter, jugendlich hübscher Pianist, der dem Kreise angehörte und der durch Elise Schuhbrich mit krampfhaften Bitten an das Pianino gezwungen wurde, eben jetzt mit Macht die Tasten gerührt hätte. Er hatte begriffen, was seine Aufgabe war, und ließ nicht nach, alles Laute im Raume überdröhnend, mit Baß und Diskant einen solchen Rumor zu machen, bis jedermann, weil niemand sein eigenes Wort verstand, durch ihn zum Schweigen gebracht worden war.

Bereits aber hatte jemand dem schmierigen Wirt, der sich aus Zuhälterkreisen allmählich bis zur Höhe seiner jetzigen Stellung heraufgearbeitet hatte, die Beleidigungen Dominiks hinterbracht, und die Kellnerinnen, die beinahe darüber den Dienst vernachlässigten, hielten gestikulierend Rat, wie sie den Sturm beschwören könnten. Die bestialischen Eigenschaften ihres rücksichtslosen Brotherrn und grausamen Ausbeuters waren ihnen genugsam bekannt. Sie wußten genau, daß bei der Roheit und Rachsucht und zur Gewalttat neigenden Art dieses Ehrenmanns viel zu befürchten war.

Langsam sah man den Wirt heranschreiten.

Die Gestalt des Menschen war untersetzt. Auf einem kurzen Halse saß ein friseurhaft gescheitelter Kopf, der mit seinen stechenden schwarzen Augen und seinem gedrehten Bärtchen auf der Oberlippe ebensogut dem unter italienischem Namen reisenden Leiter einer herumziehenden Kunstreitergesellschaft angehören konnte. In seinen Kreisen wurde der Mann auch jetzt noch der schwarze Karl genannt, und man wußte, daß er in einem Fall, wo unter rätselhaften Umständen ein gewisser Fabrikbesitzer ermordet aufgefunden worden war, nur mit Mühe und Not, und weil die Beweise nicht ganz zureichten, dem Zuchthause oder dem Beile entschlüpfen konnte. Unter den Dirnen, in deren Betten, wie man weiß, Männer aus allen Gesellschaftsschichten einander ablösen, wo der Platz eines schweren Verbrechers zuweilen, noch warm, von einem Polizeileutnant oder umgekehrt der Platz eines Landjunkers und Herrenhausmitgliedes, noch warm, von einem sogenannten Geldschrankknacker oder Klingelfahrer eingenommen wird, glaubte man an die Unschuld des schwarzen Karl keinen Augenblick. Man erzählte dort, er habe das Kapital zur Eröffnung des »Musenhains« lediglich durch Erpressung zusammengebracht.

Man fürchtete übrigens allgemein den Jähzorn und die Rachsucht des schwarzen Karl, der oft schon durch ein ganz harmloses Wort in seiner Ehre verletzt werden konnte. Es kam hinzu, daß er, wie viele Verbrechernaturen, feurig und im gleichen Maße von Eitelkeit, geschlechtlicher Gier und Geldgier erfüllt, ein gefürchteter Abgott der käuflichen Mädchen war: eine Stellung, die er entschlossen behauptete.

Schwester Hedwig, die den Wirt jetzt breitbeinig in der Nähe des langen Tisches dastehen und trotz aller Beschwichtigungsversuche der Kellnerinnen bald Quint, bald Dominik fest aufs Korn nehmen sah, geriet in Angst und bat Doktor Hülsebusch, daß er ihre Zeche begleichen und ihr bis an die Pforte des Krankenhauses das Geleit geben möchte. Da der Pianist wieder leise spielte, ja zuweilen die Hände ganz von den Tasten nahm und übrigens alle Verständigen dieser Tafelrunde die Unterhaltung in vernünftige Grenzen zurücklenken und Dominiks Entgleisung vertuschen wollten, so schwirrten nun allerhand religiös-historische Doktorfragen durch die Luft. Der Parakletos, Kirchenväter, Namen vieler christlichen Sekten wurden durcheinander genannt und, vom Hundertsten in das Tausendste, mit den Tagen der frühesten Christengemeinden angefangen, Essäer, Therapeuten, Nazarener, Ebioniten, Donatisten und Montanisten und Chiliasten durchgenommen.

»Diese besonders – die Chiliasten –«, sagte ein Student in den letzten Semestern, ein Freund von Hülsebusch, »richten mit ihrer Erwartung des Tausendjährigen Reiches immer wieder in den Köpfen köhlergläubiger Menschen das ärgste Unheil an.« Ein anderer rief und fügte hinzu: »Wie denn überhaupt der Glaube an Christi Wiederkunft, seit den Tagen der ersten Christen, die Stärke des christlichen Wahnsinns und trotz aller jahrtausendelangen Enttäuschungen noch heute seine Stärke und damit der schlimmste Feind einer Gesundung unseres geistigen Lebens ist.«

Plötzlich trat eine Stille ein. Der schwarze Karl war mit einer unheilverkündenden Blässe im Gesicht bis zu Dominik durchgedrungen und hatte sich vor dem schönen Jüngling, der vom Sitze emporgesprungen war, aufgepflanzt. »Ich möchte bloß wissen«, fragte er, »ob Sie gesagt haben, daß ich ein Ausbeuter bin.« – »Ich habe nicht speziell Sie gemeint«, erwiderte Dominik, der nicht wenig erschrocken war und den die heisere und gemeine Stimme des Kerls und überhaupt der ganze Mensch anekelte. Da hatte ihn aber die Faust des Wirtes bereits mit brutalem Griffe vorn an der Gurgel und hinten im Nacken gepackt, und er lag, eins, zwei, drei, auf der Gasse draußen.

Der Professor und die meisten Teilnehmer dieser nächtlichen Sitzung, Weißländer und einige andere ausgenommen, erhoben sich. Ihre Rufe der Entrüstung und der Mißbilligung riefen indessen an einigen anderen Tischen und in den Nebenlokalen für den Wirt eine wahre Salve des Beifalls wach. Dazwischen wurden Worte wie »Sozialistenbagage!« und »Anarchistengesindel!« ausgesprochen. Durch solche Worte und seinen Beifall ward aber der schwarze Karl auf dem Wege seiner Ehrenrettung noch weitergeführt, wobei auch seine Wut durch den Aufbruch der Tafelrunde gesteigert wurde. Er schrie, dieses Jüngelchen habe er schon längst auf dem Striche gehabt. Es sei ein Schüler, der, statt zu lernen, sich herumtreibe und ein Verhältnis zu einer Kellnerin angefangen habe, einem Mensch, das er ihm am liebsten gleich auf die Straße nachschmeißen möchte.

»Und Sie!« – mit diesen Worten trat jetzt der Wirt dicht vor Quint, dessen Miene sich nicht verändert hatte –, »wagen Sie sich noch einmal mit Ihrem Gesindel in mein Lokal herein, unterstehen Sie sich noch ein einziges Mal . . .« Er schwieg. In dem ganzen Lokal aber war die Stille so tief geworden, daß man plötzlich die Stimme eines Harzer Kanarienvogels vernahm, der irgendwo in einem Wirtschaftsraume der Kneipe herrlich trillerte.

Nach einigen bangen Augenblicken hörte man Quintens Stimme sagen: »Womit habe ich Ihnen Böses getan?« Diejenigen aber, die, in der nun wiederum folgenden Stille, die entstellten Züge des Wirtes betrachteten, hatten eine Empfindung, als ob dieser Mensch den anderen, den armen Narren in Christo, der immer noch, nicht ohne Ruhe und Hoheit, vor ihm stand, mit einem tödlichen Hasse gehaßt haben müßte, bis zu diesem ersehnten Augenblicke, jahrtausendelang.

Leider sagte der Maler Kurz jetzt ein Wort, das seiner Tapferkeit und seiner Empfindung zwar Ehre machte, aber das böse Verhängnis des Auftrittes ward: »Rühren Sie diesen Menschen nicht an, sonst werden Sie es zu bereuen haben!« Diesen drohend und schneidig gesprochenen Worten folgte als einzige, schreckliche Antwort des Wirtes ein Faustschlag mitten in Quintens Gesicht.

Emanuel schwankte. Das linke getroffene Auge schloß sich zu, und es rann daraus Blut und Wasser über die im Augenblick unförmlich aufgeschwollene Wange herunter. Während aber der Wirt, wahrscheinlich rot vor den Augen sehend, hochatmend und aufgerissenen Mundes noch die Besinnung nicht wiedererlangt hatte, beugte Quint sein furchtbar verschwollenes Antlitz, schon wieder vollkommen seiner Herr, vor ihm hinab und küßte dem schlechten Halunken die ruchlose Hand.

 


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