Gerhart Hauptmann
Der Narr in Christo Emanuel Quint
Gerhart Hauptmann

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Sechstes Kapitel

Die Lehrersfrau hatte sogleich bei ihrem Eintritt in die Stube Quint, den sie nicht zum ersten Male sah, wiedererkannt. Vor etwa acht Tagen waren die Brüder Scharf von Glaubensgenossen in Preußen an ihren Mann und ihr Haus als exemplarisch treue Diener am Wort empfohlen worden. Der Lehrer, ein vierzigjähriger, bibelgläubiger Mann, hatte, wie sich das in den Kreisen derer, die auf Christum harren, von selbst versteht, die Brüder mit herzlicher Liebe aufgenommen. Als er den Grund ihrer Reise erfuhr, obgleich sie den Irrwahn, der sie beherrschte, verschwiegen hatten, äußerte der schlichte Mann ein leises Befremden, wenn nicht Bedenklichkeit. Denn die Glut und der Eifer, mit dem die Scharfs Emanuel suchten, und die Fülle des Lobes und der Bewunderung, die sie über ihn ausschütteten, auch was der Lehrer über den Verkauf ihres Hauses erfuhr: dies alles mußte beängstigend wirken.

Seine Sorgen hielt der Lehrer Stoppe auch seiner Ehefrau gegenüber nicht zurück. Es ist schon bedenklich, wenn allzeit fleißige Arbeiter ihre Arbeitsstätte verlassen und müßig gehen. Bedenklicher aber, wenn sie Dinge wörtlich und gläubig auffassen, die auf ihre Weise genommen sein wollen oder schweren Schaden stiften. So schienen die Prophezeiungen eines ehemaligen Schäfers namens Thomas vom nahen Weltuntergang ein unwiderleglicher Glaubensartikel im Geiste der Brüder Scharf geworden zu sein, und so war ihnen der Apostelberuf Emanuel Quints, den sie suchen kamen, über jeden Zweifel erhaben.

Der Lehrer hielt es für seine Pflicht, die beiden vor jenen falschen Propheten zu warnen, den Wölfen in Schafskleidern, von denen die Bibel mit Abscheu spricht, er mußte sich aber eingestehen, daß nach stundenlangem, ja tagelangem Beten, Singen und Ringen der Glaube an die himmlische Sendung des gesuchten Landfahrers felsenfest wie je in den Seelen der Brüder gegründet stand.

Daran konnten auch alle Gespräche nichts ändern, wodurch die frommen Eiferer meistens die Nacht zum Tage machten, eingedenk des Wortes, das da sagt: »Wachet, denn der Bräutigam ist nicht ferne von euch«; und es kam am Ende so weit, wie es denn nicht anders sein konnte: der Lehrer Stoppe wurde beinah in den Glaubensstrudel hineingezogen und sah jedenfalls mit einer gewissen Spannung der Erscheinung Quints entgegen.

Einem bestimmten und überzeugten Wesen vermag der Zweifel, selbst in starken Naturen und gebildeten Seelen, auf die Dauer nicht standzuhalten, um wieviel weniger in einem glaubenswilligen Herzen, wie das des Lehrers war; und nachdem ihm die Scharfs immer wieder von der Predigt Quints auf dem Marktplatz der Kreisstadt, von dem Wunder, das er angeblich an ihrem Vater verrichtet hatte, von vielerlei Gebetserhörungen und wunderbaren Heilungen berichtet hatten, schien ihm die wundertätige Kraft des Gesuchten tatsächlich erwiesen zu sein: nur wußte er nicht, ob diese und seine Mission auf himmlischem oder satanischem Grunde beruhte oder vielleicht mesmeristischer Magnetismus, verbunden mit falsch verstandener, noch zu läuternder Heilandsliebe sei.

Der Lehrer hatte die Brüder Scharf nach einiger Zeit in das Haus der Schuberts hinübergebracht, von wo aus sie dann während längerer Zeit ihre Nachforschungen anstellten, immer und von Stunde zu Stunde gewaltiger aufgeregt. Wer je erlebt hat, wie eine liebe, ersehnte Illusion, auf die man mit realen Bemühungen hinarbeitet, zuweilen gegen alle Vernunft ins Ungeheure wächst, den wird es auch keineswegs in Verwunderung setzen, daß bald das Schubertsche Haus zur Brutstätte vieler phantastischer Irrtümer und Gesichte geworden war.

Als nun Quint gefunden wurde und später bei den Schuberts in Herberge lag, hatten die Scharfs eines Tages den Lehrer besucht und ihm das glückliche Wiederfinden sowie allerlei neues Wunderbares berichtet von Quint. Aufgefordert, mit ihnen zu gehen, hielt sich jedoch der Lehrer zurück, allerlei wichtige Pflichten vorschützend. Hingegen konnte noch am Abend desselben Tages Frau Stoppe ihrer wachsenden Neugier nicht widerstehen. Sie machte sich auf und kam in dem Schubertschen Hause an, als Quint es verließ, um allein für sich durch die Ödeneien des Gebirgskammes im beginnenden Mondschein hinzuwandeln.

 

An jenem zweiten Pfingstfeiertag, wo die Lehrersfrau die hundertjährige Greisin tot, Quint aber bei der Leiche zum zweiten Male getroffen hatte, brachte sie ihn um die zehnte Stunde mit sich zur Schule zurück. Die Schule war ein winziges Holzhäuschen, und Stoppe, der sie, bei seinen Bienenstöcken im Garten beschäftigt, kommen sah, fand sich auf sonderbare Weise von dieser Annäherung, vielleicht ein wenig unangenehm, berührt. Aber er ging seiner Frau entgegen und reichte auch ihrem Begleiter die Hand.

Während die Frau eine saubere Kammer zurechtmachte, da sie Emanuel unsägliche Müdigkeit angemerkt hatte, zeigte der Lehrer ihm seine Bienen. Emanuel trat an die Stöcke heran, und obgleich der erfahrene Imker zur Vorsicht mahnte, vollkommen ohne jede Furcht, ließ er nicht nur die aufgeregten Bienen auf Gesicht und Händen herumkriechen, sondern griff sie ohne Bedenken da und dort aus den Haaren oder von seinen staubigen Füßen auf und setzte sie auf das Flugloch zurück.

In ihrer kleinen Küche, die mit einigem Kupfergeschirr, irdenen Töpfen, Geräten aus Blech und Zinn aufs properste glänzte und zugleich Wohnstube war, erzählte, als Quint längst in der Kammer, und zwar in einem sauberen Bette lag, die Lehrersfrau ihrem Gatten, wo sie ihn diesen Morgen gefunden hatte. Dieser Zufall und auch leider der Narr hatten ihr unverkennbar einen nicht geringen Eindruck gemacht. Sie war von dem seltsamen Umstand erschüttert, daß die alte, von allen gemiedene Frau, die, wie es hieß, um ihrer vergangenen Sünden willen nicht sterben konnte, erlöst, ja beinahe in seinen Armen gestorben war. »Hätten wir«, sagte sie, »diesen frommen und gütigen Menschen damals zur Seite gehabt, die Kinder wären uns nicht gestorben.« Und damit fing sie still und lautlos zu weinen an, während sie gleichzeitig sich erhob und am Herd hantierte.

Was dieser Frau den eigentlichen Inhalt ihres einsamen Daseins gegeben hatte, waren zwei Kinder gewesen, die ihrer Mutter den neuen Lebensinhalt, die Trauer um sie, hinterlassen hatten.

Stoppe richtete nun die folgende Mahnung an seine Frau:

»Wir sollen ergeben sein. Wir sollen nicht ungeduldig sein. Wir sollen fröhlich sein und wie der Apostel sagt: Unser Fleisch soll ruhen in der Hoffnung des Herrn. Wir sollen aber nicht ungeduldig sein und täglich das Fenster aufmachen und womöglich nach falschen Propheten Auslug halten. Denn Jesus, der wahre Heiland, hat gesagt, wie du bei Lukas im einundzwanzigsten Kapitel und achten Vers jederzeit lesen kannst: ›Sehet zu, laßt euch nicht verführen! Denn viele werden kommen in meinem Namen und sagen, ich sei es und die Zeit sei herbeigekommen. Folget ihnen nicht nach!‹ – Und es steht bei Matthäus: so stark werde die Kraft der falschen Propheten sein, daß verführet werden in den Irrtum, wo es möglich wäre, auch die Auserwählten. Also hüten wir uns! hüte dich!«

»Ich glaube nicht«, sagte die Frau, »daß er Unrechtes denkt oder tut und irgendwie Böses im Herzen trägt; ich habe auch nicht gesagt, ich hielte ihn für einen Propheten. Auch hält er sich selber nicht dafür. Mir kommt es vor, er spricht als Mensch, er handelt als Mensch und er wandelt schlechthin nur als ein Mensch.«

Der Lehrer wiegte bedenklich seinen weichen Johanneskopf.

»Es ist«, hub er wieder zu reden an, »nicht zu vermeiden, ihm für mancherlei die Verantwortung zuzuschieben, was, wie du ja ebenfalls weißt, geschehen ist. Tue ein jeder seine Pflicht und diene Gott im Verborgenen an dem ihm zugewiesenen Ort! Mich hat er nach meinem Wunsch und Willen und in Erhörung meiner Gebete in dieses entlegene Amt gesetzt, wo ich in dem Maße ihm näher zu sein glaube, als ich ferner gerückt von den Menschen bin. Gott hat mir bei meinem Wirken Segen gegeben und macht es mir täglich deutlich, wie ich für meine rings in ärmlichen Hütten verstreuten Bergbewohner und ihre Kinder nicht ganz ohne Nutzen bin. Daran, meine ich, lassen wir uns genügen.«

Nun sagte die Frau, die eine Pfarrerstochter war und durch mancherlei Mißgeschicke im Elternhause denken gelernt hatte: aus solchen Betrachtungen folge noch nicht, daß dieser Emanuel Quint etwa, weil er auf andere Art und Weise dem Heiland diene, verwerflich und auf Irrwegen sei. Sie erinnerte an die Gemeinschaft der Heiligen, die, von den Aposteln gegründet, noch heute sogar von den Kanzeln als in Jesu Christo bestehend angenommen wird, und drückte, während sie einen frischgebackenen Eierkuchen, noch in der Pfanne, dem Gatten unter die Nase schob, die feste Überzeugung aus, daß Quint, wenn irgendeiner in dieser Gemeinschaft, ein echter und rechter Heiliger wäre.

»Er macht mir meine Gebirgsleute aufsässig. Sie laufen mit roten Köpfen umher, erzählen sich überspannte Dinge und bringen am Ende sich und uns mit der Obrigkeit in Konflikt.« Dies sagte der Lehrer ein wenig unwirsch, schwieg und aß seinen Eierkuchen. Er fuhr dann fort: »An wen wird sich die Behörde halten, zum Schluß nun gar, wo wir diesen Menschen beherbergen? Wer wird die schweren Folgen zu tragen haben als ich, wenn das Ärgernis weiter um sich greift?« Die Frau aber gab ihm diese Antwort: es käme doch alles nur darauf an, ob Quint ein Betrüger oder ein echter Bekenner wäre; sei er aber ein solcher und wirklich erfüllt vom reinen apostolischen Geist, so könnte es doch keine Frage sein, ob man sich entschließen müßte, ihn von sich zu stoßen oder ihm nachzufolgen. Denn leiden um deswillen, der für uns am Kreuze ohne Bedenken gestorben sei, wäre doch wohl die höchste Gnade, die uns auf Erden zuteil werden könnte.

Daraufhin wurde der Lehrer still.

 

Ungefähr um die zweite Stunde am Nachmittag erschien Anton Scharf bei den Lehrersleuten. Mit lautem Gepolter trat der bleiche, nervige Mann ins Haus, während die Lippen unter den blonden Barthaaren seines schmalen Spitzbarts unruhig zuckten. Das braune Haupthaar stand aufgerichtet bürstenförmig um seinen Kopf. Er rief dem Ehepaar ein »Gott grüß' euch« entgegen mit großer Lebhaftigkeit. Er warf die Mütze irgendwohin auf eine der Bänke der kleinen Schulstube, darin er die Lehrersleute mit dem Aufhängen eines Bildes »Der Heiland über das Meer schreitend« beschäftigt fand. Er war auf eine besondere Art erregt, die einen feierlichen Grundcharakter hatte. Aber es war auch Wildheit in ihm. Ein nicht zu verkennender Einschlag von Trotz, Kampflust, ja von Lust zur Gewalttätigkeit.

»Bruder«, rief er den Lehrer an, daß die Schulstube dröhnte, »die Zeichen und Wunder mehren sich! Wir haben in diesen letzten Tagen Dinge gesehen, die sich jedermann zu Gemüte führen soll. Wir haben die Kraft der Apostel, die Kraft Gottes lebendig gesehen! Uns ist ein Kind geboren, sage ich euch, es wandelt einer unter uns, von dem geschrieben steht, daß er kommen sollte. Nicht wir allein haben ihn gesehen! Hundert Arme, Kranke, Mühselige und Beladene haben sein Angesicht leuchten sehen, seine Stimme reden gehört und sind gesund geworden. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, dieser ist mehr denn ein Apostel und ein Prophet! Und auch die Kinder der Welt spüren sein Nahen und regen sich. Sie recken die Hälse. Sie wittern den Tag des Gerichts! Sie machen sich auf, mit Schwertern und Stangen, ihn zu fangen! Aber es steht nirgends geschrieben, daß Jesus zum zweiten Male von ihnen gekreuzigt werden wird.«

Drohend erhob der irregeführte Mann seine Faust nach der preußischen Seite des Gebirges hin, von der er, wie es schien, den Ansturm der Widersacher des Gottesreiches erwartete.

»Wenn aber dieses anfängt zu geschehen«, fuhr er funkelnden Auges zu reden fort, »so sehet auf und hebet eure Häupter auf, darum, daß sich euere Erlösung nahet!« Mit dieser Lukasstelle schloß er, zog ein mächtiges rotes Taschentuch und wischte die hellen Tropfen von Stirn und Nacken.

Der Lehrer Stoppe, dessen Stimme ruhig, beinahe eisig klang, wollte wissen, worum es sich eigentlich handele, was aber nicht sogleich bei dem aufgestörten Zustande Anton Scharfs zu ermitteln war. Nur so viel stand fest, Quint wurde auf der preußischen Seite behördlich verfolgt, und davon hatte der Lehrer auch bereits reden gehört, und zwar durch Passanten am heutigen Morgen. Schließlich konnte auch Scharf Genaueres mitteilen.

Es war am Morgen ein Gendarm bis vor die Hütte der Schubertleute geritten gekommen, die, geradeso wie am gestrigen Tage, von vielen hilfsbedürftigen Menschen umlagert war. Er hatte in ziemlich barschem Ton zunächst viele der Wartenden ausgefragt und endlich alle mit lauten Befehlen fortgewiesen, zugleich betonend, daß Quint ein arbeitsscheues, behördlich gesuchtes Individuum und nichts weiter sei. – Dann war der Gendarm mit klirrenden Sporen und schleppendem Pallasch in das Haus und die Stube der Schuberts eingetreten und hatte das Ehepaar, die Tochter und ihn, nämlich Anton Scharf – Martin war auf der Suche nach Quint schon seit gestern abwesend –, hatte die drei, mit Blei und Notizbuch in der Hand, aufs peinlichste ausgefragt.

»Er hatte dabei wohl gehofft«, meinte Scharf, »er werde uns Betteleien oder gar noch Ärgeres nachweisen.« Er, Anton, hätte indes dem Herrn Wachtmeister heimgeleuchtet und ihm den Beweis erbracht, daß sie unabhängige, vorläufig durchaus nicht unbemittelte Leute seien, die niemand um Gaben anzusprechen brauchten. Augenscheinlich habe dies dem Wachtmeister nicht in den Kram gepaßt, und man sehe daraus, wie wichtig es wäre, für Zukunft und Gegenwart durch einige Mittel vor Mangel geschützt und dadurch der Bosheit der Kinder der Welt entrückt zu sein.

Man konnte unschwer erkennen, wie sich Stoppe durch diese Erzählung, gleichwie durch das ungebändigte Wesen des jüngeren Scharf, aufs neue beunruhigt fand, und er wies mit bleichem Gesicht darauf hin, daß man der Obrigkeit nicht zu widerstreben nach einem ausdrücklichen Heilandswort gehalten sei. Er bat den etwas verblüfften Scharf, den er nach herrnhutischer Sitte Bruder nannte, sich zu beruhigen, und fragte ihn lange, zwar mit milden und gütigen Worten, aber beinahe noch eingehender als der Wachtmeister, nach Emanuels Vorleben aus, ob da nicht etwa sündliche Dinge verborgen lägen.

»Nein«, sagte der Bruder Scharf, »ich glaube, ich glaube mit Freudigkeit!« Er war überzeugt, Emanuel habe sich auf Grund eines göttlichen Vorwissens schon am gestrigen Morgen seinen Verfolgern entzogen, und fürchtete seltsamerweise nichts für ihn. Sobald er erfuhr, Quint sei mit ihm unter einem Dache, durchzuckte es ihn, und er schlug sich zugleich mit der harten Hand vor die breite Stirn, als sei ihm nun erst, mit einem Male, etwas verständlich geworden: nämlich ein unwiderstehlicher Zug und Drang hierher, in das kleine Blockhaus der Lehrersleute. Schon bewies sich übrigens, wie ein Blick aus dem Fenster lehrte, in anderen Bergbewohnern die Kraft dieser selben Anziehung.

Der Lehrer, in seinem Gewissen bedrängt und als ein Mann von echter und tiefer Frömmigkeit, schlug vor, nach apostolischer Weise Gott im Gebet anzugehen und um Erleuchtung der Seelen zu bitten. Er war von der Macht des Gebets überzeugt, gemäß der Verheißung Jesu, die da sagt: »Was ihr erbittet in meinem Namen, das alles will ich euch geben.« Er ging mit geringeren Sachen, als diese war, im Gebet zu Gott, und wenn er mit Gleichgesinnten fromme Meinungen austauschte, so unterließ er nie, auf gewisse Winke hinzuweisen, die ihm Gott hatte zuteil werden lassen nach dem Gebet, und auf bestimmte, unzweifelhafte Erhörungen.

Nachdem nun die drei in stillen und lauten Gebeten, wobei auch die Frau des Lehrers sanfte und innige Worte fand, Gott Vater, Sohn und Geist um Aufschluß darüber inständig gebeten hatten, ob Quint in der Gnade oder aber von einem Geist des Irrtums besessen sei, hörten sie plötzlich unter den Fenstern die Klänge eines Chorals anschwellen, von Kinder- und Frauenstimmen gesungen, der ihren erschrockenen Herzen eine unwiderlegliche Antwort schien:

O Jesu, süßes Licht,
nun ist die Nacht vergangen.
Nun hat dein Gnadenglanz
aufs neue mich umfangen.

Und sie stimmten in diesen Choral mit ein.

 

Es war aber Martha Schubert, die gekommen war und ihn intoniert hatte. Und es waren auch bereits wieder von allen Seiten viele Kinder und Frauen sowie einige Männer herbeigeeilt, von denen die meisten, schon weil es Feiertag war, sich am Gesange beteiligten. Der böhmische Josef und Schwabe hatten den Tod der Greisin im Wirtshaus der Sieben Gründe bekannt gemacht und auch der erlösenden Wirkung mit besonders lauter Überzeugung Erwähnung getan, die der Wunderdoktor dabei, ihrer Meinung nach, ausgeübt hatte. Von da aus nahm das Gerücht in kurzer Zeit von Hütte zu Hütte seinen Weg, wobei auch die augenblickliche Herberge Quints, das Schulhaus, zugleich bekannt wurde.

Und plötzlich, ehe es Stoppe hindern konnte, stieß Anton Scharf, zu leidenschaftlicher Glut der Zeugnisablegung hingerissen, das Fenster des Schulzimmers auf und schrie in die immer wachsende Menge hinaus, wie ein Wahnwitziger, Worte, die ihm aus der Geschichte der Apostel im Gedächtnis hafteten: »Denn Moses hat gesagt zu den Vätern: Einen Propheten wird euch der Herr euer Gott erwecken aus eueren Brüdern, gleich wie mich, den sollt ihr hören in allem, das er zu euch sagen wird. – Und es wird geschehen, welche Seele denselben Propheten nicht hören wird, die soll vertilget werden aus dem Volk!«

Während nun alles dieses im Parterre und an der Vorderseite des Hauses vor sich ging, schlief der Prophet einen totenähnlichen Schlaf in der Giebelkammer. Frau Maria Stoppe jedoch fürchtete, als sie die Wogen der Erregung steigen sah und besonders die laute Begeisterung Bruder Antons, man möchte ihn vielleicht aus seiner wohlverdienten Ruhe aufwecken. Ihre Besorgnis teilte sie Bruder Anton und dann der draußen harrenden Menge mit, unter die sie getreten war, mit der vollen Zutraulichkeit einer Frau, die fast einen jeden der Harrenden persönlich kannte und fast jedem etwas Gutes gelegentlich angetan hatte.

Sie versuchte die Wartenden zu beruhigen und mahnte, selbst ein Bild der Gelassenheit, die Schar der ärmlichen Menschen zur Geduld. Sie betonte, Emanuel Quint sei zweifellos ein wahrer und redlicher Diener Gottes. Das sei genug, und man brauche und möge ihm nicht Kräfte und Absichten zuschreiben, die seiner schlichten Demut durchaus zuwider wären.

Die Wirkung jedoch dieser letzten Mahnung ward durch viele durcheinanderrufende Stimmen aufgehoben, die sich nicht genugtun konnten in der Beteuerung wundertätiger Wirkungen, die, jedweden Zweifel ausschließend, von Emanuel ausgegangen waren.

Nun aber drängte sich durch die schwatzende Menge der ehemalige Schneidergeselle Schwabe an die Frau des Lehrers heran, stotternd und mit der ihm eigenen Schüchternheit dem Wunsche Ausdruck verleihend, ihr etwas unter vier Augen mitzuteilen. Im dunklen Hausflur, hinter der von Frau Maria, die Hand auf der Klinke, verschlossen gehaltenen Türe, erzählte er, man sei nun auch auf österreichischer Seite Quint hart an der Ferse, und es wäre keineswegs unwahrscheinlich, dürfe auch keinen Menschen irgend verwundern, wenn österreichische Polizei vor der Schule erscheinen sollte, bevor noch eine Stunde verstrichen wäre. Eine Minute danach wiederholte Schwabe alles im Schulzimmer, vor dem Lehrer selbst und vor Anton Scharf.

Der Lehrer meinte: falls es der Gendarm aus Spindelmühle wäre, so könne er es wohl verhindern, daß Quint verhaftet und fortgeführt würde, er könne vielleicht auch sonst für ihn gut sagen, wenn nicht die vielen armen Leute rings das Schulhaus umlagerten: was in den Augen der Behörde ein Unfug sei. »Quint ist aber ohne Subsistenzmittel«, fuhr er fort, »weshalb man ihn möglicherweise, trotz aller Einreden, ohne weiteres über die nahe preußische Grenze bringt, das heißt, ihn an die Gendarmen drüben ausliefert.« Ihn wecken, ihm alles selbst eröffnen, schloß er, würde vielleicht das ratsamste sein.

Als sie in dieser und ähnlicher Weise noch berieten, erschien Martin Scharf und fragte, ob Quint im Hause wäre. Das allgemeine Ja, womit man ihm antwortete, hatte zur Folge, daß der überwachte und übermüdete Mann schluchzend unter Tränen der Freude zusammensank.

Wie wenn aber etwa der Funke in einen Haufen erhitzter und brennbarer Stoffe fällt und der Haufen in Flammen auflodert, so ward durch den unvermittelten Ausbruch Martin Scharfs die kleine Gemeinde in einen schluchzenden Rausch der Tränen versetzt, einen Paroxysmus der Brüderlichkeit und Gemeinsamkeit, der sich außer durch Tränen in Umarmungen und apostolischen Küssen äußerte.

 

Emanuel war nun doch in seinem verhängten Zimmer von dem Lärm und Gepolter unten im Hause aufgewacht und lag horchend und grübelnd auf dem Rücken. Er deutete die Geräusche, die er schon bei den Schuberts kennengelernt hatte, sogleich auf sich und wußte, daß eine gläubige Menge, Hilfe aus aller Not von ihm fordernd, seiner wartete. Unwillkürlich die Hände faltend, betete er zu dem Göttlichen, tief versenkt in sich.

Dies aber war stets das Wesen seines Gebetes, sich ganz nur als Werkzeug unter den Willen der Gottheit zu stellen. Er übersah den vergangenen Tag. Er hatte nicht das Gefühl, irgend etwas außer Gott im Leben gesucht zu haben noch auch vermöge eigenen Willens und klarer Absicht den Weg bis hierher gegangen zu sein; dennoch lautete seine Frage: »Bin ich auf rechtem Wege geschritten? Habe ich auch wirklich nicht meinen, sondern deinen Willen getan?« und er warf sich, im Geiste bemüht, den letzten Rest von eigenem Willen aus sich zu tilgen, aufs neue vor Gott aufs Angesicht und flehte:

»Mache mich ganz nur zu einem Wort, einem Hauch, einem Blick, einem Herzschlag von dir!

Es wird gesagt, Jesus Christus habe die Kraft des Wunders seinen Aposteln hinterlassen. Ich bin kein Apostel. Ich bin seiner ganz unwürdig. Die Liebe des Heilands ist wie ein Meer! die meine ist nur ein sickerndes Bächlein. Die wahre Heilandsliebe ist eine Kraft, die nicht nur kranke Leiber sogleich zu gesunden macht, sondern sie verwandelt verdammte und zur Hölle verfluchte Seelen mit einem Hauch ihres Mundes in selige Engel des Paradieses. Ich bin ein Blinder. Auf meinem äußeren geschlossenen Augendeckel liegt von dem Schatten solcher Liebe ein Schein. Ja, wäre ich dessen sicher, daß es wirklich ein Schatten des Schattens der Heilandsliebe ist, ich könnte damit allein schon die Wüste der Welt zum tausendjährigen Paradiese umwandeln.

Aber ich kann keine Wunder tun. Ich will keine Wunder tun. Es sei ferne von mir zu meinen, ich könne mehr tun, als da bereits geschehen ist, aus der Liebesfülle der ewigen Weisheit. Sollte ich etwa dein Werk verbessern wollen, du Heiliger Geist? Ich bin nicht so hochmütig, diesen Wahnwitz der Überhebung berge ich in mir nicht.

Du weißt das, der du in mir bist! Dir ist nichts verborgen! Aber warum sendest du diese Bedürftigen hinter mir her, die etwas wollen, was irdisch, nicht himmlisch ist, etwas, was ihnen vielleicht die Kinder der Welt, nicht die Kinder des Himmels vorenthalten? Sie dauern mich, ich fühle ein überquellendes Mitleid in meiner Brust. Ich möchte ihnen gern und von Herzen gern alles das geben und mitteilen, was Himmlisches in mir ist, geschweige das Irdische, wovon mich zu trennen mir nichts bedeutet. Führe mich! Lehre mich, ob ich ihnen und wie ich ihnen Mitleid und Liebe beweisen soll, meinen tastenden, in irdischer Finsternis tappenden Brüdern und Schwestern! Oder soll ich mich abkehren von ihnen und ihrer kläglichen, bitteren, flüchtigen Lebensnot und ganz zurückkehren in dein Herze?

Aber freilich, warum denn bin ich hier in die Welt gestellt? Warum denn bin ich herabgesendet in diesen irdischen Leib der Gebrechlichkeit und trage dich in mir wie ein Licht? Soll ich nicht meinen Mitbrüdern leuchten? Wem soll man leuchten als denen, die im Finsteren sind? Wem soll man Gott bringen als dem Gottlosen? Wen soll man heimholen als das verirrte, verlaufene Schaf? Wen soll man trösten und zurückführen als den in Finsternis Ausgestoßenen? In Finsternis, wo Heulen und Zähneklappern ist? Wer kehrt zurück und wird mit Jubel empfangen von der Liebe des Vaters im Vaterhaus? Wer anders als der verlorene Sohn, der da ausgezogen war im Hochmut seines geringen Vermögens und mit den Schweinen Treber aß« – und Quint warf sich herum, rang seine Hände, drückte sein Angesicht in die Kissen und flüsterte weinend: »Ich habe gesündigt im Himmel und vor dir. Herr, Herr, ich bin nicht wert, daß ich dein Sohn heiße.«

Unvermittelt gleichsam kam ein Gefühl der Zerknirschung über ihn, das mit dem glühenden Wunsche, für den Vater zu leiden, zu sterben, sich auszulöschen, verbunden war, – ein Gefühl von Schuld erfüllte ihn, deren Ursache ihm verborgen war, denn er hätte sich nicht erinnern können, jemals, wie der verlorene Sohn, mit eigenem Willen in die Fremde gegangen zu sein. Aber er zweifelte nicht an der eigenen Schuld. Und jetzt glaubte er zu begreifen, in diesem Rausch, nicht nur, warum die verirrten Schafe ihm nachfolgten, sondern auch, daß gerüstete Männer zu Pferd, mit Waffen zum Töten der Menschen, rastlos auf ihn fahndeten. Weshalb er gehetzt wurde wie ein Wild. Seine Schuld lag früher! Sie lag nicht im Irdischen. Nicht daß man Gott nachzufolgen sich bemühte, in Jesu Fußstapfen, war die Schuld, sondern daß man den Vater verlassen hatte.

Und in seiner Seele überdachte er lange hin und her die Mythe vom Sündenfall, bis er plötzlich mit einem Ruck sich vom Bette erhob, dabei leise sprechend: »So will ich euch weiter dienen, meine Brüder und Schwestern.« Und es kam über ihn eine neue Entschlossenheit, die ihn mit einer Art freudiger Hoheit umgab, als er unter den bänglichen Menschen in der Schulstube plötzlich erschien. Er liebte die Brüder Scharf, und sie hatten für ihn eine grenzenlose menschliche Zuneigung. Mit Leidenschaft küßten sie seine Hände, was er um ihretwillen mit leisem Lächeln geschehen ließ.

 

Die Leute aber, die draußen standen, drängten, kaum daß sie das Angesicht Quints durch das Fenster erkannt hatten, mit einem stürmischen Anlauf ins Haus. Der böhmische Josef war unter ihnen. Es gelang zwar der Lehrersfrau, den Schlüssel im Schloß der Haustür umzuwenden, aber da Emanuel Quint das kleine Katheder bestiegen hatte, ward sie von den Brüdern umgestimmt. Sie öffnete wieder, und Weiber, Kinder, Greise und Männer, voran der böhmische Josef, strömten herein. Aller bemächtigte sich eine erwartungsvolle Festlichkeit, still schoben sie eins um das andere sich in die Schulbänke, und die keinen Platz bekamen, standen und hockten eng gedrängt. So viele indessen waren gekommen aus irgendeinem dumpfen Triebe heraus, daß sie Kopf an Kopf den Hausflur erfüllten, die Schwelle draußen und schließlich dichtgezwängt einen weiten Raum vor dem offenen Schulfenster, durch das sie mit offenem Munde hereinblickten.

Es war eine tiefe Stille eingetreten, ehe Quint zu reden begann. Seine Predigt, in die das Piepsen der Sperlinge von draußen hereinschallte, ward aber an diesem Morgen in einem Ton gesprochen, der hinreißen mußte, wenn man auch ihren Inhalt meist nicht verstand.

Die Kraft Jesu, begann er, sei in den Schwachen mächtig. Und der Apostel sage: wenn ich schwach bin, so bin ich stark, und also solle sich niemand fürchten etwa um seiner Schwäche willen oder weil er unwissend sei oder krank oder etwa arm. – Auch solle sich niemand fürchten, wenn er verfolgt werde von den Kindern der Welt. Jesus sei gekreuzigt, seine Apostel verfolgt und getötet worden. Aber es habe nichts auf sich mit denen, die den Leib töten. »Die da tot sind, werden getötet, die aber lebendig sind in Christo, können nicht getötet werden von den Toten. Wer Ohren hat zu hören, der höre!« fuhr er fort. »Wir wandeln im Fleisch, aber wir streiten nicht fleischlich. Wir sind der Friede, wir sind die Liebe Gottes, sonst nichts, wir sind der Geist! Christus ist in menschlichem Leibe auf Erden gewandelt. Er wandelt noch unter uns. Aber sofern wir ihn selbst mit Augen gesehen, mit den Händen berührt hätten, nach dem Fleisch, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr, außer im Geist.

Er ist in uns und wir in ihm. Damit sind wir getrost und haben viel mehr Lust, außer dem Leibe in seinem Geiste zu wallen, als dazu, leiblich zu wallen. Denn so ist jegliche Trübsal, die uns drohen will, zeitlich und leicht: uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich, was aber unsichtbar ist, das ist ewig.

Wollen sie uns verfolgen, quälen und hinrichten auf Erden, so zerbrechen sie unser irdisches Haus, aber nur, auf daß offenbar werde, daß wir ein Bau sind, nicht mit Händen gemacht, sondern von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Gott der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Darum können sie uns nicht fangen mit Schwertern und Stangen. Können uns nicht in einen Kerker legen, außer mit vielen offenen Türen ins Himmelreich.

Möge uns nicht betrüben, daß wir töricht sind vor der Welt: was töricht ist vor der Welt, was unedel ist vor der Welt, was verachtet ist vor der Welt, hat Gott erwählt. Freilich, daß ihr nicht töricht bleibet im Fleisch, sondern teilhaftig werdet jener göttlichen Torheit, die weiser ist denn Menschen, und der göttlichen Schwachheit, die stärker ist als die Macht der Könige, dazu helfe euch Gott. Er helfe euch zu der verborgenen Weisheit, auf daß ihr nicht greifet nach Brot, außer nach dem Leibe des Herrn Jesu Christi, weder nach Wein, außer nach dem Blute des Herrn! Weder nach einem Gastmahl, denn nach seinem heiligen Abendmahl! Denn wenn wir fröhlich sind, so gilt es seiner Trübsal.

Wer Ohren hat zu hören, der höre: ziehet den natürlichen Menschen aus, sterbet im Leib und werdet im Geiste wiedergeboren! Der natürliche Mensch vernimmt nichts von dem, was ich sage, vernimmt vom Geist Gottes nichts. Es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen. Solche aber sagen von mir, wie die Juden von Paulus sagten: Er ist um Christi willen zum Narren geworden. Es ist aber nichts verborgen, es wird dereinst offenbar, und denen unser Evangelium verdeckt ist bis diese Stunde, die mögen ausharren und der Verheißung warten mit der Geduld.

Denn Gott, der da heißt das Licht, aus der Finsternis hervorleuchtend, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, daß durch uns entstünde die Erleuchtung und Erkenntnis der Klarheit Gottes im Angesicht Jesu Christi. Dann wird sich des Herrn Klarheit mit aufgedecktem Angesicht in uns allen spiegeln.

Ihr Männer, lieben Brüder, und ihr Weiber, liebe Schwestern, fürchtet euch nicht darum, daß ich verfolgt werde. Wir haben das Zeugnis unseres Gewissens, daß wir in Einfältigkeit und göttlicher Lauterkeit, nicht in fleischlicher Weisheit auf der Welt mit Frieden wandeln. Unser Amt ist, Christum zu predigen, Versöhnung und Frieden. Haben wir Trübsal, so ängsten wir uns nicht. Ist uns bange, so verzagen wir nicht. Leiden wir Verfolgung, so werden unsere Seelen doch nicht gefangen! Werden wir unterdrückt, doch bleiben wir frei. Denn es ist keine Liebe und Sehnsucht so heiß in uns, so unwiderstehlich glühend als die, allezeit das Sterben des Herrn Jesu an unserem Leibe zu tragen und das Leben des Herrn Jesu in unseren Herzen.«

 

Ungefähr bis zur Anrede »Ihr Männer, lieben Brüder, und ihr Weiber, liebe Schwestern, fürchtet euch nicht« hatten alle mit Andacht zugehört. Es versteht sich von selbst, daß Anton und Martin Scharf durch den Vortrag des Narren in Christo vollständig hingenommen waren. Aber auch der bärtige Schullehrer hing, ohne nur einen Blick zu verwenden, am Munde Quints und hatte über dieser seltsam neuen Verkündigung des Geistes alle seine Bedenken, betreffend wahre und falsche Propheten und den Gehorsam gegen die Obrigkeit, beiseite getan. Die Frau des Lehrers, die neben Martha Schubert auf der niedrigen Schwelle des kleinen Katheders saß, blickte, mit dem Mädchen zugleich, andächtig zu dem Prediger auf, sichtlich von einer Andacht befallen, die mehr der Verzückung ähnlich sah. Aber nun hob ein Geflüster an. In den Bänken reckten sich mehrere Hälse. Ein Säugling quäkte laut aus der Menge, die unter dem Fenster stand. Und wie das Geflüster nicht enden wollte und sich viele Gesichter von Emanuel ab- und forschend den Vorgängen unter dem Fenster zuwandten, war es kein anderer als der böhmische Josef, der sein braunes, häßliches Indianer- oder Zigeunerantlitz entrüstet herumwandte und Ruhe gebot.

Es half einen kurzen Augenblick. Dann war es, als sei draußen vor der Tür mit einemmal ein Habicht mitten unter Scharen von Spatzen hineingestürzt: so flogen die Menschen mit lautem Gekreisch auseinander. Sogleich pflanzte sich das Geschrei in den Hausflur fort, von wo sich die Menge unter Knüffen und Gepolter ins Freie wälzte. Nun stießen auch die Weiber im Schulzimmer gellende Schreckenslaute aus, wodurch eine jähe Panik entstand, die jedermann kopflos durch Tür und Fenster ins Freie trieb.

Nachdem nun jene sich von ihrer Verblüffung erholt hatten, die noch im Zimmer geblieben waren, wußten sie nicht sogleich, was etwa die allgemeine Flucht verursacht hatte. Da tönte der Ruf »Polizei!«, mit lauter Stimme warnend gerufen, durchs Fenster herein.

Es waren aber außer Quint, dem Lehrer und seiner Frau, außer Martha Schubert und den Gebrüdern Scharf auch Schwabe und der böhmische Josef im Zimmer geblieben. Dieser seufzte laut und kopfschüttelnd ein »Jaja!«, schob eine Schulbank zurecht, die im Durcheinander der allgemeinen Flucht beinahe umgestürzt worden war, und sagte dann, daß alle Menschen eben leider so und nicht anders wären. Er schloß mit einer Bibelerinnerung irgendwoher: der Geist sei willig, das Fleisch sei schwach.

Dagegen erhob sich Anton Scharf und redete mit trotziger Wut und Entrüstung, ein wenig unzusammenhängend, so:

»Wenn ihr denkt wie ich, lieben Brüder und Schwestern, so lasset uns diese Stätte Gottes, diese Krippe des Herrn, dieses neue Bethlehem mit Riegeln verschließen und mit Fäusten verteidigen gegen den Ansturm der Welt! Hier hat der Dornbusch des Herrn gelodert. Hier hat die Stimme des Herrn aus dem Dornbusch geredet zu uns. Hier ist heiliges Land! Und kein Abgesandter des höllischen Abgrundes soll es betreten.«

Damit riß der ekstatische Mensch die niedrigen Schaftstiefel sich von den nackten Füßen los, was dem Narren ein kleines Lächeln abnötigte.

Quint war im übrigen ruhig geblieben und blieb es auch jetzt, als er durch ein Schütteln des Kopfes die Heftigkeit seines treuen Bekenners mißbilligte. »Wir haben«, sagte er, »nichts mit Gewalt zu tun. Es ist die Weise der wahren Jünger des Heilands von Ewigkeit, daß sie dem Übel nicht widerstreben: auf Erden nicht widerstreben und nicht mit Gewalt.

Wer immer mich sucht, der findet mich!«

 

Inzwischen war die Lehrersfrau zweien österreichischen Gendarmen entgegengegangen, die sie durchs Fenster hatte herankommen sehen. Der Lehrer, im Begriff, ihr nachzufolgen und gegen die Polizeileute beizustehen, besann sich anders. Er trat mit einem Entschluß ans Katheder, zu Quint, und richtete die treuherzig offene Frage an ihn: »Sage mir, was du willst, daß wir tun sollen.«

Quint erhob sich schlicht und ein wenig bleich, und indem er kaum merklich die Achseln zuckte, antwortete er: »Wandelt in Jesu Christi Fußstapfen!«, erhob sich und schritt gelassen dem Ausgang zu.

Die Zurückgebliebenen aber hörten, wie er in seine Kammer ging.

Die Gendarmen verhandelten mit der Lehrersfrau zunächst in behaglicher Höflichkeit, was sie jedoch nicht hinderte, auf der Verhaftung Quints zu bestehen und dieses Ziel, ihrer Order gemäß, schnurstracks zu verfolgen. Ins Schulzimmer tretend, ließen beide Herren zugleich sich mit einem erstaunten »Aha!« vernehmen, da unerwarteterweise ihnen zwei Leute entgegentraten wie Schwabe und der böhmische Josef, deren Leumund in den Amtsstuben auf beiden Seiten der Grenze ein gleicher war. Nachdem die Scharfs ihren Namen gesagt hatten, wurde auch ihnen überraschenderweise, wie irgendeine freundliche Neuigkeit, ihre Verhaftung mitgeteilt.

Nun wollten sie wissen, was sie verbrochen hätten.

»Ja, mein Lieber«, lachte der eine Grünrock den ihn mit Blicken vernichtenden Anton an, »was du verbrochen hast, wirst du wohl selber wissen. Übrigens habt ihr, was man so sagt, einen guten Umgang!« Und er machte eine Bewegung mit dem Kopf nach Schwabe und dem böhmischen Josef hin.

Schwabe kroch in sich selber zusammen.

Allein der böhmische Josef, der vollkommen furchtlos den österreichischen Gesetzesvollstreckern in die Augen sah, meinte in schnellem, nicht gerade wohlerzogenem Tonfall: wenn er immerhin manchem schon manchmal eine Nase gedreht habe – und er werde mit Gottes Hilfe noch manchem manchmal eine Nase drehen! –, so würden sie ihm doch nicht etwa einen Strick zum Aufhängen daraus machen, daß er einer Bibelstunde beiwohne.

»Ja was!« meinte der Grünrock, »Bibelstunde?!«

Da aber fuhren die Scharfs auf ihn ein. Einander mit heftigen Stimmen unterbrechend, redeten sie von allerlei apokalyptischen Dingen, von denen keiner der Herren Grünröcke jemals auch nur das geringste gehört hatte, und bauschten den sehr gewöhnlichen Vorgang der Predigt Quints in einer Schulstube zu einem ungeheuren Ereignis auf. Mit Drohen, Bitten und Schreien war es beinah ein Bekehrungsversuch an diesen braven und ahnungslos lächelnden Offizianten, die einander mit Blicken sagten, daß es sich hier um Leute handele, die vielleicht nicht ins Zuchthaus gehörten, wohl aber in eine Irrenanstalt.

»Na, wir wissen ja schon«, sagte einer der Grünröcke.

 


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