Gerhart Hauptmann
Der Narr in Christo Emanuel Quint
Gerhart Hauptmann

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Achtundzwanzigstes Kapitel

Einige Dorfleute blickten über den Gartenzaun und wußten nicht, was sie aus dieser bald lärmenden, bald flüsternden Menschengruppe machen sollten, deren Betragen sie befremdete. Plötzlich wurde der Weber Schubert durch den Wirt vor die Tür des Hauses hinausgerufen, wo seine Tochter Martha, bleich und atemlos, ihn erwartete. Die Polizei habe Quintens Zimmer im Grünen Baum um und um gekehrt, und eine wachsende Volksmenge rotte sich drohend um das Wirtshaus zusammen. Man höre Rufe ausstoßen, daß Quint ein Verbrecher, ein Mörder sei. Er müsse fliehen, er dürfe nicht in die Stadt zurückkehren, sagte sie. Man würde ihn sonst unfehlbar totschlagen.

Während draußen der Weber Schubert mit seiner Tochter verhandelte, hatte Emanuel seine Rede fortgesetzt.

»Zanket nicht, lieben Kinder, liebet euch untereinander! Hadert nicht mit mir, der ich euch liebe und geliebt habe von Ewigkeit! Oder hat jemand größere Liebe als der, der sein Leben lassen wird für seine Feinde? Wahrlich, es wird die Zeit kommen und ist gekommen, wo ihr mich alle allein lassen werdet. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir. Die Stunde wird kommen und ist schon gekommen, wo ihr zerstreuet werdet, ein jeglicher in das Seine, und werdet mich um meiner Liebe willen verwünschen, verfluchen, verleugnen, die ich zu euch getragen habe. Kommt, lasset uns niedersetzen und essen, denn die Stunde ist da, und der Abschied ist da, den ich von euch und der Welt nehmen muß: sie tötet die Propheten und steinigt, die zu ihr gesandt werden, die Kinder Gottes zu versammeln. Lebet wohl! Lasset uns diese letzte Stunde einträchtig beieinander sein! Sehet, schon bin ich nicht mehr in der Welt, ihr aber seid in der Welt. Fürchtet euch aber nicht! Die Welt kann euch nicht hassen, mich aber hasset sie, denn ich zeuge von ihr, daß ihre Werke böse sind. Kommt! Was hätte ich euch nicht alles zu sagen, aber eure schwachen Seelen ertragen es nicht.«

Aus diesen Worten des Narren in Christo strömte eine so volle, reine Güte und Zärtlichkeit, daß für den Augenblick der Sturm des Aufstands beschwichtigt wurde. Quint faßte Anton Scharf bei der Hand und legte den freien Arm um Schmied Johns Schultern, des starken Mannes, dem sogleich Träne um Träne der Rührung über die rauhen, behaarten Wangen rann: so aber schritt er um das von vielen Insekten belebte, buchsbaumumgebene bunte und duftende Blumenbeet und nahm als erster am Tische Platz, den Wirtin und Wirt nun fertig gedeckt hatten.

 

Der böhmische Josef, den es aus irgendeinem Grunde zu wissen zog, was es mit der Nachricht, die Schubert erhielt, für eine Bewandtnis hatte, erfuhr nun, vor die Haustür gelangt, von Martha Schubert das gleiche wiederum, was ihr Vater soeben erfahren hatte. Wunderlich war die Art, wie er die Nachricht schweigend und mit dem vergeblich angestrengten Versuch, irgendein Wort darauf zu sagen, entgegennahm. Noch waren die drei nicht von der Steinplatte vor der Schwelle ins Innere des Hauses zurückgetreten, als bereits Dominik und seine Geliebte in schneller Gangart gelaufen kamen. Sie hatten etwas in Erfahrung gebracht von einem gewissen Ehepaar, das, begleitet von einem Geheimkommissar, im Grünen Baum erschienen war, und wie es sich darum handelte, daß ein junges Mädchen seit einigen Tagen verschwunden war und man seltsamerweise von Quint eine Auskunft über ihr Verbleiben zu erhalten hoffte.

Diese Nachricht indessen mußte die ältere sein, denn wie Martha zitternd behauptete, war in der Menge bereits von dem Mord an einem Mädchen gesprochen worden: was schon in der gleichen Minute von Therese Katzmarek bestätigt wurde, die, nach einem verzweifelten, dreiviertelstündigen Lauf über Feld, auf der Steinbank neben dem Hause mit einem halbunterdrückten Schrei der Erschöpfung zusammensank.

Sie hatte in der Fabrik, nichts ahnend, wie immer ihre Maschine bedient, als man den Polizeibericht eines scheußlichen Mordes um sie her zu erörtern begann. Man hatte ein etwa fünfzehnjähriges, augenscheinlich den sogenannten besseren Ständen angehöriges Mädchen tot, nicht weit von dem Weichbild der Stadt entfernt, unter den Erlen eines Baches aufgefunden. Zwar zeigte die Leiche keine Verstümmelung, aber es war doch unzweifelhaft, daß an ihr Mord, und zwar mit bestialischen Begleitumständen, verübt worden war.

Als die Katzmarek sich wieder ermannt und Dominik und den übrigen, in einer gewissen Entfernung vom Hause, dies alles erzählt hatte, wußten mit einem Schlag der Weber Schubert und seine Tochter, Elise Schuhbrich und Dominik, nicht minder Josef, daß der Verdacht, der Täter zu sein, sich auf niemand als ihren Meister gelenkt hatte, ebenso gewiß aber wußten sie: ihr Meister konnte der Täter nicht sein. Der Beschluß, den sie faßten, ging dahin, die Nachricht Quinten zunächst zu verschweigen und, da eine Verfolgung im Augenblick nicht zu befürchten war, Quinten erst auf dem späteren Gange einzuweihen. Die wirkliche Durchführung dieses Beschlusses beruhte auf der Entschiedenheit Dominiks, der ferner durchsetzte, daß man Emanuel die Aufklärung derer, die noch nichts wußten, allein überließ.

So schwebte denn über der Mahlzeit, die schon begonnen hatte, als die Neuangekommenen in den Saal traten, von Anfang an eine gewisse Beklommenheit, und diese nahm zu, als Therese Katzmarek, Martha Schubert, Elise Schuhbrich, die das bunte Sommerkostüm einer Dame trug, Schubert selbst sowie Josef und Dominik sich ebenfalls an der Tafel niedergelassen hatten.

 

Zwischen Quint und Dominik, Quint und Elise Schuhbrich wurden herzliche Worte der Begrüßung ausgetauscht. In Kleidung und Betragen der Liebesleute lag unverkennbar eine besondere Feierlichkeit. Ihr Wesen hatte etwas Festtägliches. Sie schienen gleichermaßen von tiefstem Ernst und von einem heiteren Glück durchdrungen zu sein.

Außer auf ihnen lag nur noch über Quint die gleiche ruhig-ernste Feierlichkeit, die durch Äußerungen eines geheimnisvollen Glücks abgelöst wurde. Dominik setzte sich zur Linken Quints, während Elise Schuhbrich, die Kellnerin, den Platz an seiner Rechten einnehmen durfte.

Schon im Anfang der Mahlzeit löste sich die herrschende Schwüle des sommerlichen Frühlingstags draußen gleichsam in das erste Murren des Donners auf. Die Jünger, die sich seit langem selbst als die »Gemeinschaft des Geheimnisses« bezeichnet hatten, schienen nun wirklich die Mitglieder einer solchen Gemeinschaft geworden zu sein. Nicht derjenige unter ihnen, der das schwerste Geheimnis in sich trug und über dem sich ein anderes Geheimnis wie eine schwere Wolke zusammenzog, nämlich Quint, erschien am meisten geheimnisvoll, auch nicht Dominik und die Kellnerin, die außer dem Schrecken, der über Quinten heraufzog, auch noch ein eigenes, für sie selber verhängnisvolles Ereignis zu verbergen hatten, das ihnen infolge eigenen Entschlusses nahe war: sondern die übrigen nicht Betroffenen, die einander mit unstetem Blick, angstvoll und scheu, wie Verurteilte, ansahen, bevor nicht der Wein, den Dominik von dem Gelde der Kellnerin auftragen ließ, ihr Wesen ein wenig zum Guten veränderte.

Nach einiger Zeit, noch ehe draußen der erste Blitz gezuckt hatte, der erste Regentropfen gefallen war, erhob sich Dominik plötzlich, das volle Weinglas haltend, mit einer leuchtenden Freudigkeit. Er sagte: »Die Welt ist schlecht, die Welt ist auf Verbrechen gestellt, und was die Menschen Tugenden nennen, ist fast immer nichts als faule Bequemlichkeit. Das Weltwesen wird von Henkern gebildet, und das, wodurch es aufrechterhalten wird, sind Galgen und Kreuz. Es war aber Kaiphas, der den Juden riet, es wäre gut, daß ein Mensch würde umgebracht für das Volk. Es ist nicht wahr, daß sie Halleluja singen. Ich habe gehorcht Tag und Nacht, Monate, Jahre lang, aber es war wie ein Sturm, den ich immer wieder von allen Seiten, millionenstimmig, zu hören bekam: Kreuzige, kreuzige!«

Und Dominik fuhr zu entwickeln fort, inwiefern die Welt ihm von Kindesbeinen an feindlich gegenübergestanden habe. »Es ist eine Fremdheit«, sagte er, »zwischen Mensch und Mensch, und ich bin selbst im Hause meiner Eltern fremd geblieben. Ich verstehe den Sinn des Lebens, das sie führen, nicht, und sie verstehen den Sinn jenes anderen Lebens nicht, wohin es mich mit allen Kräften der Seele zieht. Ich will eher alles andere drangeben, aber ich möchte nicht den reinen Besitz meiner Seele drangeben, um angenehm unter den Kindern der Welt zu sein. Man hatte mich in einen Kerker gesteckt, und unbarmherzige Kerkermeister haben mir meine Seele verstümmeln wollen! sie haben sich vergriffen an mir! Sie wollten mich in den gemeinen, häßlichen Schlamm ihres elenden Daseins herabzwingen. Ich habe Flügel und Ehrgefühl, sie aber haben weder Flügel noch Ehrgefühl. Vor Gott sind sie Parias, und vor den Gewaltigen dieser Welt sind sie ebenfalls Parias. Ich habe Parias zu Lehrern gehabt, die mir meine Flügel abschneiden, mich vor Gott und Menschen zum Paria machen wollten. Ich habe schlechte, kalte, gleichgültige, bösartige, verruchte, verderbte, gottlose und niederträchtige Lehrer gehabt, eh ich diesen erhabenen Lehrer erhielt, der zur Rechten neben mir sitzt.« – Er sprach es in jünglingshaft naiver Überschwenglichkeit. – »Dieser Mann hat mich den freien Gebrauch des Lebens gelehrt, zur Ehre Gottes des Vaters in uns. Durch diesen Mann ist mir und meiner Geliebten, unter dem felsenharten Druck der Knechtschaft und Sklaverei, in der wir schmachteten, das Mysterium der Freiheit aufgegangen. Die Welt nennt uns Phantasten: wäre die Welt doch voll solcher Phantasten! Jeder ist dem Philister ein Phantast und ihren matten und platten Gefühlen ein Schwärmer, der in einer menschlich großen Empfindung glüht. Wir sind keine Pferde für Göpelmaschinen, auch nicht für Droschken, auch nicht Automaten für Postschalter oder Anwaltsbüros, weder Unteroffiziere noch Bahnschaffner, wir sind weder praktisch, noch entsprechen wir dem Philisterbegriff der Nützlichkeit. Sie nennen uns leere Enthusiasten, und doch ist das wenige, was das Leben für alle möglich und erträglich macht, durch Enthusiasmus und durch den Geist erstritten worden. Wir sind ihnen untüchtig, aber ich schwanke nicht, wenn ich mich zu entscheiden habe, im Sinne der Welt oder im Sinne Gottes tüchtig zu sein. Du hast mich gelehrt, Meister, unbehindert von Menschenfesseln und Menschenfurcht in Gott frei zu sein und heiter die Welt und den Tod zu verachten.

Und so will ich denn meine Flügel gebrauchen, und die ich liebhabe, schwebt mit mir.«

Er trank. Die Jünger Quintens begriffen ihn nicht, aber dieser selbst und besonders Elise Schuhbrich taten Bescheid, an den Gläsern nippend, und wie es schien, verstanden sie ihn.

Der Schneider und Schmuggler Schwabe sprang nun auf, der ein wenig getrunken hatte und den es seit langem wiederum das erste Mal zum Reden trieb. Er sprach davon, und zwar mit wachsender Leidenschaft, wie sie Emanuel zuerst in der Hütte der sterbenden Greisin getroffen und dann seine Straße treulich verfolgt hätten. Er entwickelte ganz nach den glühenden Phantasien seines eigenen Gehirns, welche Hoffnungen Quint in ihnen genährt hätte und wie das Beste, um dieser Hoffnungen willen, durch jeden von ihnen geleistet und getan worden war. Der Wahrheit zuwider behauptete er, daß Quint sie immer wieder von Woche zu Woche, von Monat zu Monat auf Erfüllung ihrer Hoffnung, auf die Einlösung seines Versprechens vertröstet hätte: auf nichts Geringeres als die Offenbarung seiner himmlischen Herrlichkeit. So hätten sie denn nur immer gewartet, aber es sei nichts eingetreten.

»Glaubt ihr vielleicht«, rief mit Entrüstung Dominik, »daß dieser Mann Gottes ausschließlich dazu in die Welt gekommen ist, euren acht blöden Köpfen den Star zu stechen?«

Auf diese Worte hin brach unter den Talbrüdern ein allgemeines Toben los. Es war, als habe sich ein lange gestauter Strom von Wut, Angst, Enttäuschung und Verzweiflung Luft gemacht und rase über ein Wehr hinunter. Als wenn eine Meute, die mit der ganzen Gier des Blutinstinktes stundenlang ruhelos auf der Fährte gewesen ist, sich plötzlich durch das Wild gefoppt und um seine Beute betrogen sieht, kläfften, bellten, schrien und heulten sie durcheinander. Besonders Krezig, der Handelsmann, kannte sich vor Entrüstung nicht. Es war, als seien sie alle gleichzeitig nüchtern und auf eine neue Weise verrückt geworden. Es hatte den Anschein, als hielten sie über ihren Meister von ehedem, als über einen gemeinen Betrüger, das furchtbarste Strafgericht, wobei Worte wie: »Er hat Gott gelästert! Er hat die Heilige Schrift entehrt! Er hat Kirchen geschändet, Abendmahlskelche zerstört!« und viele ähnliche Reden laut wurden.

Wer weiß, ob sich die Empörung der Seinen nicht bis zur Mißhandlung Quintens, Dominiks und seiner Geliebten gesteigert hätte, wenn nicht die erste beschwichtigende und zugleich gebieterische Bewegung des falschen Propheten zufälligerweise durch einen gewaltig prasselnden Donnerschlag, bei kaum sichtbarem Blitz, unterstützt worden wäre. Allein nun wurde es lautlos still, während draußen ein leiser Regen rieselte.

»Gott vergibt euch, denn ihr wisset nicht, was ihr tut«, sagte Quint – und während die lautlose Stille andauerte, begann er mittels eines Waschbeckens ruhig jene Zeremonie auszuüben, die an vielen Orten unter der römisch-katholischen sowie der griechisch-katholischen Kirche üblich ist: nämlich das sogenannte Fußwaschen. Die Jünger waren durch den Donnerschlag in ihren abergläubischen Herzen eingeschüchtert und diesmal im Unglauben wiederum schwankend geworden. Eine Art Grauen hielt sie gebannt, was durch die Handlung des Meisters in Hilflosigkeit und Beschämung verwandelt wurde. Es war offenbar, daß die eigentümliche Macht seiner Person noch einmal in alter Weise zu wirken begann.

Als Emanuel nach der Reihe bis zu den Füßen des böhmischen Josef gekommen war, starrte ihn dieser zuerst mit furchtbaren Augen an, rannte aber, schon von den ersten Wassertropfen wie von Weißglut berührt, gleich darauf mit Entsetzen davon.

Dies waren Emanuels letzte Worte, als die durch Schrift und Gebrauch überlieferte Zeremonie ihr Ende erreicht hatte: »Ihr nanntet mich Meister und Herr. So nun ich, den ihr Herr und Meister nanntet, mich erniedrige, so sollen sich die Herren, Meister und Gewalttäter dieser Welt voreinander erniedrigen! So sollt ihr euch voreinander erniedrigen: denn ich sage euch, wie der Knecht nicht niedriger ist als sein Herr, so ist auch der Herr nicht größer als sein Knecht. Und wer der Geringste ist in der Welt, der wird den ewigen Tag des Reiches Gottes in ihm heraufkommen sehen! Wer aber der Gewaltigste ist in der Welt, dessen Sonne geht unter.«

 


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