Gerhart Hauptmann
Der Narr in Christo Emanuel Quint
Gerhart Hauptmann

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Fünfzehntes Kapitel

Eines Tages besuchte Quint im Gärtnerhause Schwester Hedwig, jene evangelische Pflegerin, die ihn im Krankenhause »Herr, hilf!« gepflegt hatte. Er begab sich mit ihr in die kleine Hütte des Schäfers hinüber, die dem Schafstalle gegenüberlag und wo, da es Sonntag nachmittags war, sich etwa zwanzig Landleute mit irgendwelchen Gebresten eingefunden hatten, die den Rat des Miltzscher Schäfers beanspruchten. Die angeketteten Schäferhunde unterbrachen ihr wildes Gebell, als der Narr mit der Schwester vorüberkam. Beide begaben sich zu dem Schäfer hinein, der das gebrochene Bein eines Erntearbeiters schiente, den zwei Männer auf seinem Bette gebracht hatten. Sie begrüßten den Schäfer, er hieß sie willkommen und stellte die beiden sogleich als Gehilfen an.

Schwester Hedwig ging dem Schäfer kunstgerecht an die Hand, während Quint mit einigen Frauen redete, die ihm die Art ihrer Leiden eröffneten. Dabei schielte der Schäfer zu ihm hin und richtete Blicke auf die Schwester, die sie auf Quints Betragen hinwiesen: dieses schien für den Schäfer ein Gegenstand geheimen, bewundernden Staunens zu sein.

Während der Schäfer eifrig arbeitete, schrie er laut zur Schwester hinüber durch den vom Massengeblök des nahen Schafstalls erfüllten Raum: »Sie verlassen mich alle und wollen zu ihm!«, worauf die Schwester bemerken konnte, wie sogar auch jener Patient, der eben unter den Händen des Schäfers war, zu Emanuel Quint hinüberlugte. Der Schwester war die Geduld bekannt, deren Emanuel fähig war, da sie ihn ja als Kranken gepflegt hatte. Er hatte sein Leiden hingenommen, gelassen und heiter, wie etwas, das ein guter Geist zu seinem Besten ersonnen hatte. Sie war ergriffen und an ihn gefesselt durch die wortlose Wärme seiner Seele, die sie empfand wie reinste Dankbarkeit; aber sie hatte zugleich, ein suchendes junges Weib, das sie war, etwas an sich wie eine heilende und beglückende Kraft seines Herzens gespürt. Sie wußte, was über ihn an Gerüchten in Umlauf stand. Allein da sie aus seinem Munde niemals ähnlich überspannte Dinge vernommen hatte, wie sie deren in ihren eigenen Kreisen und Konventikeln fast täglich zu hören bekam, dagegen aber eine unbestimmbare Macht aus seiner Person in sich wirken fühlte, nahm das Gerücht, das über ihn ging, mitunter in ihrem Geist den Hauch einer überirdischen Ahnung an.

Sie war beglückt, als Emanuel, gern bereit, sie, wohl anderthalb Stunden weit über Land, in das Haus ihrer Eltern begleitete. Schweigend schritt er neben ihr zwischen den Stoppelfeldern hin, auf denen sich Tauben und Krähen tummelten. Es wäre vielleicht mit größerem Fug zu sagen: die Schwester schritt neben ihm. Als beide in den Hof einer romantisch unter alten Linden gelegenen Dorfschule einbogen, die der Vater des Mädchens schon seit dreißig Jahren verwaltete, schlug ihr das Herz gewaltig gegen den Hals hinauf. Aber Emanuel wurde von ihrem Vater und ihrer Mutter mit herzlicher Freude aufgenommen.

Lehrer Krause war ein dreiundfünfzigjähriger, jugendlich frischer Mann, der etwas über seinen Stand hinaus Freies und Genialisches an sich hatte. Sein Weibchen glich einer dicken Fettkugel. Mitten im Wohnzimmer war ein altertümlicher Flügel, an der Wand ein Harmonium aufgestellt. Herr Krause, ein gesticktes Käppchen auf dem Scheitel, erhob sich aus der Ecke des geblümten Sofas, als seine Tochter mit Quint erschien. Mit lauten Worten der Bewillkommnung streckte er diesem die Hände hin. Der Rauch eines Knasters erfüllte die Stube, den Krause aus einer mannshohen Pfeife gesogen hatte; das Möbel war neben dem Sofa abgestellt.

Schon nach wenigen Augenblicken schien Emanuel Quint in dieser Umgebung heimisch zu sein. Hedwig hatte ihr Schwesternhäubchen heruntergenommen, war in die Küche hinausgegangen und sorgte, mit fleißigen Händen der Mutter zuvorkommend, für das Abendbrot. Maria, ihre jüngere Schwester, kam in hellem Kleid mit Strohhut und Buch von ihrem Lieblingsplätzchen hinter der alten Kirchhofsmauer zurück, wo sie unter Grillengezirp die letzte Wärme des Tages genossen hatte. Noch vor dem Abendbrot nahm der Lehrer am Flügel Platz, und das volle und stattliche Mädchen Maria mußte neben ihn hintreten, vor das Notenblatt, um, begleitet von den spinettartigen Tönen des alten Musikinstruments, einfache Volkslieder vorzutragen, was sie mit einer schönen, etwas zarten Altstimme, ohne sich im geringsten zu zieren, tat.

Frau Oberamtmann Scheibler fiel sozusagen ins Abendbrot. Sie hatte sich durch ihren Neffen Kurt Simon, in der Stille des Abends, von ihrem nahen Pachtgute her begleiten lassen. Kurt Simon, der Emanuel Quint im Hause des Lehrers, seit seiner Begegnung mit ihm, zum erstenmal wiedersah, begrüßte ihn, ohne ihn zu erkennen. Es mußte eine geraume Zeit vergehen, bevor es ihm klarwurde, daß der reinlich gekleidete Mensch derselbe war, den er, halb nackt, auf dem Gange mit Bruder Nathanael, im Anbruch des Morgens betend getroffen hatte. Frau Scheibler erschrak, als sie Namen und Herkunft Quints durch den Lehrer erfuhr. Sie war noch immer von allerhand übertriebenen Gerüchten seines früheren Wandels erfüllt, obgleich sie, und zwar durch die Heidebrands, inzwischen über Wesen und Wandel des Narren in einem milderen Sinne beeinflußt war. Sie betrachtete ihn mit Neugier und Grauen: denn da sie neuerlich wieder mit Pastor Schuch auf einem Missionsfest zusammengetroffen war und dieser die alte Behauptung aufrechterhalten hatte, Emanuel habe sich selbst Jesus Christus der Gesalbte genannt, so hatte ihr Urteil nur die Wahl, ihn entweder als armen Kranken oder als einen vom Satan Besessenen aufzufassen. Ganz im Sinne des Pastors Schuch bekundete sie Herrn Krause gegenüber, sobald sie mit ihm allein war, Bedenklichkeit. Indessen, während sie danach forschte, durch welche Umstände dieser Emanuel Quint in der Familie Krause Eingang gefunden habe, und die Gefahren andeutete, die darin lagen, ihn zu beherbergen, ging der Lehrer in seiner temperamentvoll gütigen Weise über alle Bedenken hinweg, beiläufig Quinten das Zeugnis eines schlichten, bescheidenen Menschen ausstellend.

Frau Scheibler hatte allerlei Eßbares aus den Vorratskammern ihres Pachtgutes mitgebracht. Es entsprach ihrer resoluten und werktätigen Art, bei jeder Gelegenheit den Tisch der ihr innig befreundeten Lehrersfamilie aufzubessern. Es war in ihrer Natur, neben allerlei ideellen Rumoren, eine nicht gerade derbe, aber gesunde Sinnlichkeit. Die Krauses sahen in ihr, zugleich mit Bewunderung, eine Wohltäterin. Obgleich eine Blutsverwandtschaft nicht vorhanden war, hatte man das vertrauliche Du im Verkehr der Familien eingeführt, was allerdings mit großer Freiheit, aber doch stets mit respektvollem Anstand gebraucht wurde. Für die Mädchen, Hedwig und Maria Krause, sorgte Frau Scheibler in Mütterlichkeit, und diese, wie viele junge Mädchen der Umgegend, waren ihr manches schuldig geworden. Sie war eine eifrige Gärtnerin. Selbst mit einer klangvollen Stimme begabt, die allerdings unter den harten und rauhen Lauten ihrer Sprache verborgen lag, ward sie nicht müde, die etwas hilflosen Gutstöchter zu Musik und Gesang anzuhalten. Sie lehrte sie nützliche Künste: nicht nur, wie man sich in Gesellschaft bewegen, wie man sich einen Hut garnieren, wie man sich kleiden, sondern auch, wie man sich gelegentlich tüchtig mit Wasser und Seife waschen soll.

In ihrer Jugend war Frau Scheibler auf Bällen eine berühmte Tänzerin. Sie würde die Mädchen das Tanzen gelehrt haben, wenn nicht ihr Leben durch den frühen Tod ihres einzigen Knaben mitten im Wuchse geknickt worden wäre. Früher von einer heiteren Religiosität und vertrauenden Weltfreude, hatte sie seit der Zeit zwischen sich und der Welt eine Kluft gemacht. Sie lebte in Feindschaft mit der Welt, und zwar aus dem Grunde, weil diese sie im Laufe des Lebens um jede, auch um die letzte Hoffnung betrogen hatte. Ihr Hoffen war nun auf Christum gestellt. Und wenn die Welt sie um die nahen Erfüllungen einer heißen Jugendliebe geprellt, später der Mutter ihr Letztes und Liebstes genommen hatte, so hing ihres innersten Herzens Blick nun an dem himmlischen Jesuskinde und an dem himmlischen Bräutigam, mit dem sie, mystisch vermählt, zur traumwandelnden Einheit im Jenseits wurde. In diesem Betracht kam sie bei Quintens Anblick Entrüstung und Abscheu an, dessen Behauptung, er sei der Heiland, verbunden mit seiner platten gewöhnlichen Gegenwart, ihr eine freche Verhöhnung der göttlichen Glorie ihrer qualvollen Träume schien.

Sie sagte zu Hedwig: »Wie kommst du dazu, weshalb hast du dir diesen entsetzlichen Menschen mitgebracht?«

Der kleine Scheibler war auf dem alten Kirchhof in Dransdorf begraben, der, außer bei Todesfällen in der Familie des Kirchenpatrons, nicht mehr gebraucht wurde. Er war verschlossen, und der rostige Schlüssel zu seinem alten, schmiedeeisernen Gittertor sowie ein zweiter, größerer, mit dem man das Eingangsportal eines verwitterten Kirchleins, das die Gräber bewachte, öffnen konnte, wurden im Schulhaus aufbewahrt. Fast immer, sooft Frau Scheibler die Lehrersleute besuchen kam, geschah es, um auch das Grab zu besuchen. Die Nähe der Stätte, wo die Frucht ihres Leibes begraben war und in einem metallenen Sarge ruhte, erfüllte die Mutter mit jenem schmerzlichen Glück, das in der trockenen Wüste ihres Daseins allein die quellende Insel bildete. Man hätte ihr nochmals den Sohn und hätte ihr mehr als den Sohn geraubt, wenn man sie aus der Nähe des efeuumsponnenen Hügels hinweggezwungen oder sie an ihren fast täglichen Gängen zum Grabe gehindert hätte. Alles, was in ihrem Innern noch blühend war, hätte man so in Asche gelegt.

 

Alle Krauses, nur nicht die schwerbewegliche, freundliche Mutter, gaben ihr, nach genossenem Abendbrot, zum Grabe des Sohnes das Geleit. Quint hatte sich ihnen angeschlossen. Frau Scheibler, die mit männlichem Schritt voran neben Krause ging, schien Quint geflissentlich nicht zu beachten. Des Lehrers laute Stimme erscholl, als sie den kleinen Kirchhügel aufwärts kletterten, und hallte, in der lauen Stille der sinkenden Nacht, von den mondbeschienenen Giebeln der Kätnerhäuschen sowie von der weißen Rückwand des Kirchleins zurück. Die Schwestern Krause stiegen langsamen Schrittes hinterdrein, die eine rechts, die andere links neben Quint. Je ferner die Stimme des Vaters verhallte, um so lauter und ausschließlicher war die Luft vom Bakchantengeschmetter der Grillen erfüllt.

Quint erfuhr nun Frau Scheiblers Schicksal. Hedwig vor allem erzählte ihm, mit welchem Glanz, mit welcher allgemeinen Teilnahme der kleine Lorenz Scheibler zur Erde bestattet worden sei. Man hatte den Sarg vor den Altar gestellt, von dessen Stufen fünf oder sechs Pastoren nacheinander Worte der Liebe, Worte des Glaubens, Worte der Mahnung und Worte des Trostes über ihn ausschütteten. Den Segen am Schluß erteilte ein noch amtierender neunzigjähriger Greis, dessen tiefe Inbrunst, dessen edles, verklärtes Antlitz und silberweißes, bis zur Schulter wallendes Haar auf die damals noch kindlichen Schwestern einen erhabenen Eindruck gemacht hatten.

Maria übertraf ihre Schwester Hedwig an Frömmigkeit, obgleich diese das Kleid der Diakonissinnen trug und ihr an Werktätigkeit überlegen war. Im Wesen Hedwigs lag etwas Suchendes, während das in sich beruhende Wesen Mariens einer inneren Harmonie zu lauschen schien. Beide waren von einer großen Verehrung für Frau Scheibler erfüllt, deren beinahe abweisend festes Verhalten Quint gegenüber sie merkbar beunruhigte: deshalb und weil sie nicht ohne Grund annahmen, Quinten sei die lieblose Art der Frau Scheibler ihm gegenüber bemerkbar geworden, sprachen sie sehr viel Gutes von ihr und suchten sie mit dem Schmerze um den toten Sohn zu entschuldigen.

Allein Emanuel schien durch die Gegenwart der Frau Scheibler nur eigentlich in bezug auf sie selbst berührt und widmete dem Bericht ihres schweren Schicksals eine ruhige Aufmerksamkeit. Allerdings gebot er oben am Hügel, an der offenen Kirchhofspforte angelangt, den Schwestern, mit einer unwillkürlichen Aufwärtsbewegung der Rechten, Stillschweigen, und zwar gebannt durch den abendlich nächtlichen Zauber, der in der Natur zu walten schien.

Hedwig Krause, die Diakonissin, stand im vierundzwanzigsten Jahr, während Maria das zwanzigste noch nicht erreicht hatte. Maria war von einer blonden Anmut und bereits von einer vollen, weibhaften Lieblichkeit, deren Reiz durch die kindliche Anmut eines ovalen Gesichtchens gesteigert wurde: es atmete Unschuld und Jungfräulichkeit. Hedwigs Züge waren durch die Strenge ihres entbehrungsreichen Berufs bereits geprägt worden. Es war nicht schwer zu entziffern, was darin von bitteren Erfahrungen aller Art zu lesen stand. Immerhin war auch sie noch in einer schönen Blüte der Jugendlichkeit, und die beiden Dronsdorfer Lehrerstöchter wurden, jede in ihrer Art, zu den hübschesten Mädchen der Gegend gezählt.

Indessen war Frau Scheibler mit Vater Krause am Grabe gewesen, und ihre Stimmen näherten sich. Ein großer Schlüssel wurde hörbar in das rostige Schloß des Kapellenportales gesteckt, und man vernahm, wie die Türe sich öffnete. Im tiefen, flüsternden Schatten der tausendjährigen Lindenbäume fanden sich bald darauf Quint und die Mädchen, vor der dunklen Tiefe des Kirchenschiffes, neben Kurt Simon, der auf irgendeinem anderen Wege gekommen war. Im Innern des Kirchleins zuckte ein Licht, und vom Orgelchor fing es leise zu summen, stärker zu brummen und schließlich stark und harmonisch zu tönen an.

Die Orgel schwieg, und Kurt Simon wurde von Krause mit leiser Stimme hinaufgerufen. Kurt verstand sich aufs Balkentreten, und als er nun diese Tätigkeit im Dunkeln ausübte, begann Krause ernstlich zu präludieren. Endlich erfüllte, über den niedergedämpften Klängen schwebend, ein klarer, ergreifender Ton den Raum, der Quint und den Schwestern vom Himmel zu kommen schien und dem sie gebannt und ergriffen lauschten. Zuweilen geschah es, daß Frau Scheibler, wie jetzt, in der Kirche sang, mitunter mit dem Lehrer und einem balkentretenden Bauernjungen allein, gelegentlich, wenn der Wunsch, sie zu hören, bei einigen Freunden wieder besonders rege wurde.

O Jesu, süßes Licht,
nun ist die Nacht vergangen.
Nun hat dein Gnadenglanz
aufs neue mich umfangen.

Während des Liedes stieg Emanuel Quinten, der zwischen den Schwestern auf einer der alten Kirchenbänke Platz gesucht hatte, das Bild der armen, von Krämpfen geschüttelten Martha Schubert auf, die ebendas gleiche Lied, aber mit einem kunstlosen und kindlichen Stimmklang gesungen hatte. Er fühlte wohl, der Ton, wie er sich hier durch die menschliche Kehle rang, war von einer tiefen Begnadung erfüllt. Er war von Schmerz und Inbrunst geheiligt, und niemals, soweit Emanuel sich erinnern konnte, war der verehrte Name des Heilands, der Name Jesus, wie hier, auf so vollen, reinen und zärtlichen Liebeswellen zu seinem Ohr herabgeschwebt.

Der Narr in Christo hatte, seit er im Hause des Gärtners wohnte, ein stilles und heiteres Wesen angenommen, dessen Äußerungen, zumeist ohne jeden werbenden Zug, von nichts anderem zeugten als von menschlich herzlicher Einfachheit. Die gewonnene Einsicht, die Sicherheit des umfriedeten Daseins hatte den Sonderling mit einer heiteren, inneren Harmonie erfüllt. »Sehet die Vögel unter dem Himmel an, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln auch nicht in ihre Scheuern.« Der Geist dieses Heilandswortes schien wirklich in ihm beglückend lebendig zu sein. Nun aber stieg es gleich dunklen Schatten aus tiefen Abgründen seiner Seele auf, als die triumphierenden Klänge des Liedes, durch die Erinnerung an eine häßliche Kinderstimme entstellt, die Hölle des Weber-Schubertschen Hauses vor das innere Auge des Jünglings emporhoben. Ihn durchzuckte ein Schmerz, der nur zum Teil aus der Brust der klagenden Mutter stammte und der, einer schwarzen Flamme gleich, brennend und fressend in ihm aufloderte. Emanuel wußte, daß es sein alter Begleiter aus den Tagen seines erwachenden Daseins war, der sich wieder ankündigte: und zwar ein Begleiter von anderem Schlag als der Schmerz der Mutter um ihren Sohn. Emanuel dachte an seine Mutter, aber der feuchte Glanz seiner Augen, den der gleißende Mond durch die Kirchenfenster traf, galt ihr nicht. Er mußte der Mutter des Heilands gedenken und sich gestehen, daß diese ihm selber hart begegnende Frau, die er singen hörte, Marien am Kreuze nicht unähnlich war.

Kurt Simon hatte Emanuel Quint in das Gasthaus begleitet, wo ihm durch den Lehrer Krause ein kleines Quartier ausgemacht worden war. Zum zweitenmal fühlte der junge Mensch sich durch die Erscheinung des »Menschensohnes«, wie er sich selbst ja genannt hatte, angezogen. Er fand ihn verändert. Er unterhielt sich, am Wirtstisch des leeren Gastzimmers sitzend, mit ihm vertraulich und in unbefangener Natürlichkeit. Dazu hatte der arme junge Mensch im Scheiblerschen Hause wenig Gelegenheit, das er übrigens bald verlassen wollte, um in der nahen Hauptstadt der Provinz neuen Wegen und Zielen nachzugehen. Er befand sich in einem gefährlichen Alter, wo der gärende Saft in die Krone steigt und der quälende Rausch der Liebe sich ankündigt. Ein Alter, wo die Lockungen dieses Rausches am Herzen saugen, ohne daß er erreichbar ist, wo denn ein brennend heißer, ins Allgemeine drängender Liebestrieb zuweilen zu Rändern von Abgründen führt, ja den Liebenden dort, mit einer Verfluchung der Welt auf den Lippen, hinunterzieht. Denn die wilden Umarmungen, mit denen man das heiße Leben in Zeiten der Jugend zu fangen gedenkt, finden nicht selten einen ganz anderen Gegenstand, und das Quietiv der Liebe wird in einem ganz anderen Bette erlangt, als es die Sucht dem Knaben vorgaukelte.

Es ist durchaus nicht alles bekannt, was Kurt Simon und Emanuel Quint an diesem Abend miteinander geredet haben, jedenfalls trat Frau Scheibler ohne Kurt in Begleitung eines Knechtes, den Krause hielt, den Heimweg an. Sie hatte sich auch nach der Rückkehr vom Kirchhof im Zimmer der Lehrersleute noch weiter über Emanuel aufgeregt und besonders behauptet, wie gleichsam der Segen Gottes immer bei seinem Erscheinen zurückweiche.

»So«, sagte sie, »hat er auch in den häuslichen Kreis der allzuguten, allzuvertrauenden Heidebrands nur Verwirrung gebracht. Der junge Beleites ist bitter unglücklich, die arme, verleitete Ruth von einem fremden, trotzigen Geist erfüllt, dessen Ursprung schwerlich im Himmel zu suchen ist. Und übrigens geht er niemals zur Kirche.«

Frau Scheibler erlebte, daß die Lehrerstöchter den Narren verteidigten. Sogar Maria, obgleich ihre Stärke mehr das Zuhören als das Reden war. Sie vermaß sich, indem sie lebhaft errötete, für den reinen, gottgefälligen Wandel Emanuels Bürgin zu sein.

 

Von nun an erschien Emanuel wöchentlich mehrere Male im Lehrerhaus. Obgleich Frau Scheibler, sooft sie kam, dieselben Bedenken äußerte und sich auf jede Weise fern von dem Narren hielt, war er im Kreise der Lehrersfamilie ein immer willkommener Gast geworden. Man sah ihn oft stundenweit mit Marien an den Rainen der abgeernteten Felder dahinwandeln, und die Eltern des Mädchens machten sich allbereits mit dem Gedanken vertraut, eines Tages die beiden am Altar vereinigt zu sehen. Herr Krause, der freilich bisher den Mut nicht gefunden hatte, gewisse Erwägungen vor Quint zu verlautbaren, hatte sich die Zukunft der beiden sogar einigermaßen zurechtgemacht. Warum sollte Emanuel, dessen Lernbegierde in diesen Wochen und Monden besonders rege war, nicht die Begabung zum Missionar haben, und warum sollte er nicht eines Tages, von Herrnhut gesendet, mit Marien als Ehefrau an der Seite, als Heilandsapostel unter die Heiden gehn?

Zwischen Quint und Kurt Simon hatte sich eine Art Freundschaft entwickelt. Wenigstens hatte Kurt Simon den Sonderling zweimal in Miltzsch besucht und war auch von ihm zu Spaziergängen abgeholt worden. Wiederum zeigte sich Quintens seltsame Anziehungskraft, die ihre Wirkung vielleicht gerade deswegen ausübte, weil die Absicht zu wirken an Emanuel niemals zu spüren war. Kurt laborierte immer noch mit Für und Wider an einer gewissen Abart des protestantischen Christentums, wie es im Kreise der Scheiblers gepflegt wurde. Hier wurde ihm nämlich gleichsam täglich die Pistole auf die Brust gesetzt und ewiger Fluch oder ewiger Segen, ewiger Tod oder ewiges Leben, ewige Seligkeit oder Verdammnis in alle Ewigkeit zur Wahl gestellt. Die Verwirrung des Jungen war grenzenlos. Dabei hatte die unzulängliche Nachtruhe, die ihm beruflich gegönnt werden konnte, die Nerven des Jünglings überreizt. An beiden Enden durch das Leben auf eine geringe Spanne Zeit zusammengedrängt, wurde sein Schlaf von Leben, in Gestalt des Traums, überschwemmt. Seine Träume gaben den Ideen, die am Tage erörtert worden waren, zuweilen eine furchtbare Wirklichkeit. Düstere Landschaften, gleichsam vor Erschaffung der Welt, das Jüngste Gericht mit Posaunenstößen und nahem Weltuntergang, Qualen der Hölle wurden Ereignis und entließen den Träumer morgens mit einer bleiernen Müdigkeit. Aus diesen schwülen Gewittergärungen zuckte der befreiende und erlösende Blitz des Gedankens noch nicht. Es war alles ein dumpfes Schwelen und Hingären. Die schreckliche Mitgift der Todesfurcht, verstärkt durch die Angst vor Höllenstrafen, hatte Kurt Simon noch nicht aus dem Blute geschwitzt. Dazu war ihm das Leben verbarrikadiert worden. Wenn sich in heißen, libidinösen Träumen das Erwachen der Liebe ankündigte und mit einer entzückenden Wonne das Paradies in die angstvollen Schatten der Nächte sich eindrängte, so ward Kurt Simon, weil er dies alles für Lockung des Teufels hielt, in noch weit höherem Maße von Gewissensängsten gefoltert. Man sah ihn nach solchen Nächten scheu umherschleichen, gleichsam gezeichnet und schuldbewußt, wie jemanden, der ein Verbrechen verheimlichen muß.

Emanuel Quint, etwa zehn Jahre älter als Kurt, wurde für diesen zur Autorität. Der ganze ruhig gelassene Einfluß seines Wesens, wie es in jenen Zeiten war, die lautere Menschenliebe, die es ausatmete, gab Kurt ein Gefühl der Erneuerung und Geborgenheit. Es war kein drohender Zug in Quint. Das wenige, was er den endlosen Jugendbeichten des neuen Freundes entgegensetzte, hatte für diesen die befreiende Kraft des »Deine Sünden sind dir vergeben«. In Kurt erwuchs ein Gefühl unendlicher Dankbarkeit, nicht allein deshalb, weil er die Achtung seiner selbst, das Bewußtsein des eigenen Wertes durch den Schwärmer wiedergewonnen hatte, sondern auch weil ihm dieser, als erster unter den Menschen, wie gleich und gleich begegnet war. Und mehr noch: Kurt, der das edle und befreiende Glück der Freundschaft bisher nicht kennengelernt hatte, ward eben von diesem Glück und von dem Stolz auf dies Glück durchaus erfüllt, womit ein leidenschaftlicher Geist, eine leidenschaftliche Liebe sich einstellte, die ihn mit seinem Idol verband.

 

Quint wurde zuweilen eingeladen. Nicht allein weil seine sonderbare Apostellaufbahn unvergessen, sondern hauptsächlich weil er der Gast des Gurauer Fräuleins war, wurde seine Person an vielen Honoratiorentischen im Umkreis von Miltzsch Gesprächsgegenstand. Man konnte sich über ihn nicht einigen, hatte sich doch der allgemeinsten Geringschätzung das Urteil des Gurauer Fräuleins, der Heidebrands und endlich des allgemein beliebten und geachteten Lehrers Krause entgegengestellt. Im Volke wurde Emanuel nie anders als »Der Miltzscher Narr« genannt. Das war ihm selbst nicht verborgen geblieben. Und jene große Partei, die im Streit der Meinungen ihm entgegenstand, hatte reichlich Gelegenheit, sich auf die Vox populi zu berufen, die ja die Stimme Gottes ist.

Man weiß in Schlesien ebensowohl als in gewissen anderen Provinzen Ostelbiens, daß hie und da ein adliger Gutsbesitzer überaus kirchengläubig und doch zugleich von einer reizbaren Härte ist, die nichts von der Milde des Heilands atmet. Wenn solche Leute, deren es in der Miltzscher Gegend einige gab, gelegentlich zu hören bekamen, wie Quint in dieser und jener Gesellschaft, etwa beim Apotheker von Krug oder beim Rittergutsbesitzer Salo Glaser, zu sehen gewesen sei, so konnten sie sich kaum genügend entrüsten. Besonders ein Herr von Kellwinkel, dessen Eigentum an die Herrschaft Miltzsch grenzte, wurde, sooft er dergleichen vernahm, ja schon durch den Namen Quints in Wut versetzt.

Er war bereits über die Sechzig hinaus. Sein bebrilltes Gesicht, das unter der Nase ein weißer, gewaltiger Schnurrbart zierte und das sich im Zorn martialisch mit weißen, buschigen Brauen zusammenzog, sprach vornehmlich von Härte, Intelligenz und rücksichtsloser Unduldsamkeit. Er hatte sich durch eine Reichstagsrede vorübergehend in das Bewußtsein der Nation gebracht, in der er die Prügelstrafe verteidigte. Gelegentlich selbst im Bereich seines Gutsbezirks mit Prügeln zur Hand, suchte er mit seinem scharfen geistigen Auge nach gewissen suspekten Zeichen der Zeit umher, von denen er fürchtete, sie könnten das Bereich seines herrschenden Arms einschränken. Soziale Fürsorge liebte er nicht. Not wollte er niemals anerkennen. Dazu gezwungen, führte er sie ausschließlich auf die Schuld des Betroffenen zurück und nannte sie eine verdiente Strafe. Die ewige Mahnung zum Mitleid und zur Barmherzigkeit hätte er nicht nur am liebsten aus allen, auch frommen Schriften, sondern auch von den Kanzeln verbannt. Schilderungen gewisser arger und schlimmer Mißstände, Darstellungen von Beispielen himmelschreiender Dürftigkeit, wie sie mitunter in Büchern oder Journalen vorkommen, machten den Autor, dem sie entstammten, in seinen Augen zuchthausreif. »Schloß und Riegel« – in Sätzen wie: »Der Kerl gehört hinter Schloß und Riegel!« – war sein Lieblingswort. Er sagte: »Wenn Schiller heut gelebt hätte . . .«, und dann brachte der Nachsatz: »Schloß und Riegel.« Kurz, Herr von Kellwinkel hätte, wenn es nach ihm gegangen wäre, die ganze deutsche Herzens- und Geisteskultur hinter Schloß und Riegel gesetzt.

Ohne daß er ihn jemals gesehen hätte, nährte er einen wütenden Haß gegen Quint. Er war nicht nur durch den Schlächtermeister und Viehhändler geschürt worden, an den Kellwinkel sein Mastvieh persönlich verhandelte und der, ansässig in Quintens Heimatsdorf, den nächtlichen Überfall auf den Toren in Jesu mitgemacht hatte. Ebensowenig hatte diesen Haß allein der kirchenfeindliche Sektierergeist in Brand gesetzt, schließlich war es auch nicht der Kastenhochmut allein, der sich in Wut umsetzte, weil, nach Meinung von Kellwinkels, etwas von Sklavenaufstand in Quintens Verhalten zu wittern war: vielmehr lag in der bitteren Feindschaft des Edelmanns die Erbschaft des alten Räubers gebunden, der sich durch Quintens bloße Existenz in seinem Gewaltmenschentum beleidigt fand.

Aller Augenblicke nahm er an etwas, das man ihm aus der Nähe Quintens zutrug, Ärgernis. Vor allem war es die leider von Emanuel eigensinnig festgehaltene Wunderlichkeit, weder Geld zu nehmen noch auszugeben, die ihn immer wieder erheblich aufreizte. Es würde von Emanuel klüger gewesen sein, wenn er nicht durch eine solche verrückte Gepflogenheit immer wieder, auch im niederen Volk, den Ruf seiner Narrheit erneuert hätte: es zeigte sich aber, daß über diesen Punkt auf keine Weise mit ihm zu markten war. Von Kellwinkel nahm aber auch an dem Zulauf, den der Miltzscher Schäfer durch Quint erhielt, Ärgernis. Das Gurauer Fräulein bekam mehrere heftig gefaßte Briefe von ihm, worin er auch allerlei Bassermannsche Gestalten erwähnte, die sich im Umkreis von Miltzsch bemerklich machten und vielfach auch seine Grenzen beunruhigten. Arbeiten wollten diese Leute nicht. Von ihm oder seinem Inspektor gestellt, hatten sie ordnungsmäßig ihre Papiere vorgewiesen, hatten auch im Wirtshause, ohne zu betteln, ihre bescheidene Zeche bezahlt, aber über den Grund ihres verdächtigen Umherstreichens bekam man, wie Herr von Kellwinkel ausdrücklich hervorhob, nicht das geringste aus ihnen heraus. Er stellte dem Gurauer Fräulein anheim, dem ganzen Quintischen Unfug zu steuern, der eine Plage der Gegend sei.

 

Emanuel ahnte die Gerüchte und Machenschaften, die gegen ihn im Umlauf waren, in ihrem ganzen Umfange nicht. Sein Gefühl, in einem Versteck von der Welt getrennt und vor ihr geborgen zu sein, erfuhr indessen einige Störungen. Es war gegen Ende Februar, als ihm zum ersten Male, auf einem Gange nach Dronsdorf, Zeichen eines unter der Oberfläche schwelenden Volksunwillens bemerkbar wurden, und zwar mitten in einer Wolke sogenannter Kirchleute, die ihm, es war Sonntag und gegen die Mittagszeit, entgegenkam.

Es wurden ihm Schimpfworte nachgerufen, ja Hohn, Wut und Gelächter waren bald allgemein.

Als erste hatte ein altes Weib hinter ihm dreingelacht. Ein Bauer im schwarzen Begräbnisrock und Zylinder hatte »Achtung, paßt auf!« geschrien, mehrere Stimmen durcheinander »Der Miltzscher Narr« und »Der Giersdorfer Heiland« gebrüllt. Es war ein milder Vorfrühlingstag. Das Gelärm der Spatzen in den nackten und nassen Pappeln, die in Reih und Glied die Straße begleiteten, mischte sich mit dem Glockengeläute der Dorfkirchen, wozu das gehässige Rufen der Menschen den schneidendsten Mißton gab. Quintens Seele verstummte in schmerzlicher Bitterkeit. Es war ein Gram ohnegleichen, der ihn anwandelte, als er das Rudel hinter sich ließ und die Beleidigungen nochmals durchkostete, womit ihn die fromme Gemeinde bedacht hatte. Hatte sich nicht schon einmal jemand, dem er den Frieden bringen wollte und dann gebracht hatte, der alte Scharf, als sähe er Satan selber, abgewandt? und womit konnte er es verdient haben, daß ihm von jungen Burschen heiß ins Gesicht der Name des Gottseibeiuns gebrüllt wurde?

»Das ist der Teufel! der Gottseibeiuns! Ihr Leute, ihr Leute, nehmt euch in acht!« Und einige Tagelöhnerweiber, die sich besonders hervortun wollten, wiesen mit Fingern auf ihn hin und kreischten: »Er hat einen Pferdefuß.« Es war aber damit noch nicht genug. Quint glaubte schon mit seiner Bestürzung, mit seinem Gram allein und dem Pöbel entronnen zu sein, als er, von irgend etwas hinterrücks gewaltsam getroffen, für einen Augenblick die Besinnung verlor und zu taumeln begann. Ein Triumphgejohl und andere Zeichen belehrten ihn, daß man ihm mit voller Wucht eine harte Erdscholle, untermischt mit Gestein, gleichsam zum Abschied, nach und gegen den Nacken geschleudert hatte.

Die Ursache dieses Ausbruchs stand mit vielen unsichtbaren Gegnern Quints im Zusammenhang: Gegnern, die zumeist nur durch das Anderssein Emanuels ihm erwachsen, zum Teil aber auch durch den Neid auf die Gunst des Gurauer Fräuleins bewegt waren. Er ging indessen vor allem auf die eine und andere Predigt des Pastors Beleites zurück, unter dessen Kanzel auch jene Gemeindemitglieder soeben erst das Wort Gottes genossen hatten, denen der Narr zu seiner bittren Belehrung begegnet war.

 

Am gleichen Tage, als Emanuel vor Marien auf sein Erlebnis zu sprechen kam, konnte er recht wohl merken, wie durch seine Erzählung ein gewisser, lange verschwiegener Kummer in der Brust des Mädchens geweckt wurde. In ihrem Grame verriet sie sich. Die still und reichlich fließenden Tränen, die von einigen bitter schmerzlichen Worten begleitet wurden, machten es Quinten plötzlich klar, daß man ihr den Umgang mit ihm zum Vorwurf gemacht hatte.

Wirklich hatte der Lehrer Krause, allein und mehrere Male sogar in Mariens Gegenwart, scharfe Verhöre Emanuels wegen zu bestehen gehabt. Wie ein von Gewissensängsten gejagter Geist erschien eines Tages in der Schule Bruder Nathanael und füllte das winterlich warme, behagliche Zimmer der Lehrersleute stundenlang, gleichsam bis an den Rand, mit seinen leidenschaftlichen Reden an, in denen das Ärgernis, zu dem Emanuel Quint den Anlaß gegeben hatte, aufgebauscht und verurteilt ward. Der Bruder schien von Dämonen gejagt. Der Glaube von ehemals, den er dem armen Toren entgegengebracht, die heilige Handlung der Taufe, die er an ihm vollzogen hatte: beides lastete jetzt wie Verbrechen auf ihm! Er sah den Jünger und Meister von einst als einen von Gott Verworfenen und vom Teufel Verführten an und war überzeugt, durch allerlei angstvolle Träume beunruhigt, der Richter der Welt, zur Rechten des Vaters, werde die Seele dieses Verirrten von ihm fordern am Jüngsten Tag.

Krause versuchte ihn zu beruhigen. Nicht nur gegenüber Bruder Nathanael, sondern auch Pastor Beleites, ja sogar gegenüber dem eigenen Kirchenpatron stand er entschieden bei dieser Meinung: daß Emanuel Quint ein Mensch ohne Arg und nichts als ein schlichter Bekenner des Heilandes sei.

Aber die Stimmen der Gegner, derer, die sich in ihrem Glauben verletzt fühlten, derer, die sich, in ihrem Standesbewußtsein gekränkt, über das »Glück« des Narren ärgerten, und vieler anderer, mehrten sich. Die Protektion des Gurauer Fräuleins erweckte den Neid. Man schreckte durchaus nicht davor zurück, sie nicht allein unbegreiflich zu finden, sondern man näherte die Gunst der Dame eigner Fassungskraft dadurch einigermaßen an, daß man Quint zum Betrüger stempelte.

Alle diese feindlichen Stimmen widerlegte und bekämpfte Lehrer Krause mit dem schlichten Freimut seiner Natur, immer unentwegt, mitunter gelassen, mitunter heftig.

Von alledem erfuhr nun Quint und schloß daraus, wie sein im ganzen eingezogenes Leben, niemand zulieb, niemand zuleid, ihn vor den gehässigen Mächten der Welt nicht bewahren konnte. Sogar die Autorität des Gurauer Fräuleins schützte seinen stillen und wortkargen Wandel nicht. Das schöne Asyl, das ihm die Dame bereitet hatte, erschien ihm plötzlich von bösen, lauernden Mächten umstellt, die er auf eine ihm selber nicht bewußte Art und Weise beleidigt hatte. Man gönnte ihm auch das andere Asyl in der Familie des Lehrers Krause nicht. Hier, noch mehr als in der Familie Heidebrand, hatte Emanuel die Harmonie eines klugen und sonnigen Christentums durch Wochen und Monate eines schönen Herbstes und Winters hindurch kennengelernt. Hier war der Glaube etwas Lebendiges, das eher den blühenden Astern im Garten, dem Geschmetter des Harzer Kanarienvogels im Fenster als einem auf Gebot des strengsten Lehrers eingeprägten und hergeleierten Pensum glich. Der Lehrer Krause pflegte zu sagen: jede Religion ist falsch, die den Menschen finster macht. Er sagte, man könne dem Teufel vielleicht aus Zwang, aber Gott nur aus freiem und frohem Herzen dienen. Deshalb herrschten am Krauseschen Herde meist fröhliche Laune und Gesang. Die Liebe des Lehrers zu seinem Beruf war aus der Liebe zu Kindern entstanden. Krause selbst war ein großes Kind, dessen lustige Blicke und schalkhafte Worte von dem frischen Behagen Zeugnis ablegten, das ihm, durch die Güte Gottes, schon hier auf Erden beschieden war.

Obgleich nun Krause im weiten Umkreis bei hoch und niedrig respektiert wurde, fiel man ihm doch Emanuels wegen immer wiederum mit der Tür ins Haus. Er mußte allerlei Dinge erfahren, vor denen gleichermaßen seine unantastbare Berufstreue wie seine starke Persönlichkeit ihn bisher bewahrt hatte. Niemals hatte zum Beispiel Pastor Beleites, der die Schulaufsicht führte – und überdies sich mit Krause duzte –, bis zu dem Zeitpunkt irgend etwas zu rügen gehabt, wo er es ganz entschieden tadelte, daß der Lehrer den gefährlichen Narren Emanuel zuweilen während des Unterrichts im Schulraum geduldet hatte. Fest und energisch, wie er war, hatte Krause der Mahnung des vorgesetzten Duzbruders zwar seinen lachenden Eigensinn gegenübergestellt, aber dadurch den verletzenden Strom zudringlicher Ratschläge nicht aufgehalten. Vielmehr hatte der Pastor den Umgang Quints und Mariens wie eine schwere Gefahr berührt und damit die alte Freundschaft beinahe jählings zum Bruch gebracht, die ihn mit dem Lehrer verband.

An jenem schneelosen Nachmittage im Februar, als dem Narren in Christo alles dieses, durch Marien, bei einem Spaziergang über Feld auf entlegenen Pfaden, eröffnet wurde, tat er, ohne daß man ergründen konnte, was in ihm vorging, diese Aussprüche: »Wenn sie sich jetzt schon an mir ärgern, wie erst werden sich diese Menschen in der Zukunft an mir ärgern!« Dann sagte er: »Gott ist bei mir, und ich bin bei Gott!« und außerdem: »Ich habe gepredigt wie Johannes und zur Buße gerufen öffentlich! Wenn sie mich deshalb verfolgt haben, will ich nicht klagen. Daß sie mich aber jetzt verfolgen, wo Licht und Leuchter unter dem Scheffel verborgen ist, wer will dies deuten?« Vor sich hinstarrend, sagte er mehrmals gedankenvoll: »Vergib ihnen, Herr, sie wissen nicht, was sie tun.« Er seufzte mehrmals: »Schweigen heißt sündigen.« Dann wieder erklärte er: »Es ist Zeit« und fügte nach mehreren Seufzern an: »Des Menschen Sohn muß ein Pilger bleiben auf dieser Welt, und der uns voranschritt, hatte auf ihr keine bleibende Stätte, es heißt von ihm, er hatte nicht, wo er sein Haupt hinlegte auf dieser Welt.«

 

Maria Krause war mit Quint um die Vesperzeit in die Schule zurückgekehrt. Während Emanuel einige Bücher durchblätternd im Wohnzimmer saß, hatte sie ihrem Vater berichtet, was Emanuel widerfahren war und was er gesagt hatte. Krause begab sich, betroffen und erregt, stehenden Fußes zu Quint hinein.

In einer nun sich entspinnenden, durch einige Stunden währenden Aussprache hatte Krause mit vielen klaren und klugen Worten Emanuel seine Lage den lokalen Mächten gegenüber nicht nur bis ins letzte deutlich gemacht, sondern er war noch weiter gegangen und hatte dem Toren, als offenherziger älterer Freund, anheimgestellt, ob es nicht möglich sei, erstlich die Marotte von wegen des Geldablehnens einzustellen, durch die nun einmal die Leute gereizt würden. Überdies empfahl er Quinten, doch gelegentlich sonntags einmal, und womöglich zu Pastor Beleites, in die Kirche zu gehen. Daß er dort niemals gesehen wurde, war nämlich der hauptsächlichste Anlaß allgemeiner Erbitterung.

Der kluge Freund und Berater traf indessen bei Emanuel Quint auf einen unerschütterlich festen Widerstand.

Mit vieler Vorsicht, aber trotzdem mit herzlicher Dringlichkeit versuchte der Lehrer auf die, seiner Ansicht nach, schwächste Seite im Wesen Emanuels einzuwirken: ein Beginnen, wozu der lange erwartete Anlaß nun endlich gekommen war. Das Mundstück der langen Tabakspfeife bald hier, bald da zwischen die Zähne geklemmt, ernste Rauchwolken aus beweglichen Nüstern blasend, rückte er sein gesticktes Käppchen temperamentvoll bald gegen das rechte, bald gegen das linke Ohr und schien so in seiner nüchternen Frische alles andere eher als ein Freund von Verstiegenheit. So war es denn auch nicht das Abenteuer mit den Kirchleuten, das ihm die stärkste Besorgnis einflößte, ja nicht einmal die hinter dem Vorgang lauernde Gegnerschaft, sondern es waren die abgerissenen Worte, die Quint gebraucht hatte.

Zum Unterschiede von vielen frommen Leuten seiner Umgebung mischte Krause in seine alltägliche Rede niemals oder selten ein Bibelzitat. Und auch Emanuel hatte in dieser ganzen stillen Epoche seines Daseins kaum einen Anlaß dazu gefunden: und niemals in Krauses Gegenwart. Aber nach und nach unterrichtete sich der Lehrer unter der Hand genau von Quintens Vergangenheit und konnte sich also nicht verhehlen, daß große und heilige Worte im Munde zu führen Quintens besondere, ärgernisstiftende, üble Gewohnheit war. Hier lag ein Keim, aus dem der Lehrer jedwede Gefahr für das sonst ihm so angenehme Wesen Quintens herleitete. Als er nun aber auf die von jenem vor Marien gebrauchten Heilandsworte zu sprechen kam, indem er gedachte, das Gottesschicksal des gebenedeiten Heilands der Welt von dem schlichten Erlebnis Quintens zu sondern, fehlte dem sonst so gewandten Manne selbst das Wort. Unter dem Blicke der großen und ruhigen Augen Quints vermochte er jenen seiner Ansicht nach nötigen ärztlichen Schnitt nicht auszuführen, wodurch er den Rückfall in eine Krankheit, die gefürchtete, schon beinahe überwundene Narrheit des Narren, verhüten wollte.

 


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