Gerhart Hauptmann
Der Narr in Christo Emanuel Quint
Gerhart Hauptmann

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Fünftes Kapitel

Man hat erlebt, wie ein gewisser Wahnsinn wie Brand oder Meltau im Korn oder wie physische Ansteckung in weiten Distrikten um sich greift, und so hatte auch hier in dieser entlegenen Gegend sich bald das Gerücht verbreitet, daß, wenn nicht der Heiland selbst, so zum mindesten ein Apostel, wenn kein Apostel, so doch mindestens ein heiliger Mann, wenn kein heiliger Mann, so doch mindestens ein Wunderdoktor erschienen wäre – und so fand Emanuel am dritten Morgen das Haus von einem Gewimmel bresthafter Menschen umlagert. Um das aber glaubhaft zu finden, muß man in Rücksicht ziehen, welche Bedeutung der Laienarzt, der Schäfer, die weise Frau mit den Sympathiemitteln noch immer im Bereich des gemeinen Mannes hat.

Zufälligerweise war es der erste Pfingstfeiertag, der die Versammlung so vieler lahmer und blinder, hustender, fiebernder und ächzender Menschen sah. Es waren Männer wie Weiber, Kinder, Leute bei guten Jahren und Greise darunter. Die Sonne schien warm auf das kahle, steinige Feld herab, und da Martha, die den seltsamen Zustrom zuerst bemerkte, die an sich nicht ungeduldigen Leute ruhig zu warten veranlaßt hatte, saßen sie ganz gesittet auf den zerstreuten Blöcken Granits umher und harrten des wundertätigen Arztes.

Es führte aber in nächster Nähe einer jener Pfade vorbei, die angelegt sind, um wanderlustigen Bewohnern der Täler und Ebenen, Städte und Dörfer die herrliche Bergwelt zu erschließen, und heute, als am ersten Pfingstfeiertage, waren alle diese Pfade schon früh von heiteren, frühlings- und wanderfrohen Menschen belebt. Einige dieser Leute blieben nun auf dem nahen Wege verwundert stehen, um das seltsame Lager zu betrachten. Nach einiger Zeit bemerkten sie, wie jemand aus der windschiefen Hütte ins Freie trat, und gleich darauf eine allgemeine Bewegung unter den Wartenden.

 

Emanuel Quint hatte mit äußerer Ruhe und heimlichem Herzklopfen durchs Fenster die Menge der Hilfebedürftigen wahrgenommen und schließlich den Weber Schubert hinausgesandt, damit er den Leuten sagen sollte, Quint sei nur ein armer Mann wie sie und durchaus nichts weniger als etwa ein Wundertäter. Und als nun die Leute den ihnen bekannten Weber umringten, tat er, wie ihm befohlen war, aber doch nicht auf eine so überzeugende Art, daß es den festen Glauben der ihn Bestürmenden irgend beirrt hätte. Sie traten vielmehr in dichten Schwärmen bis an die Fenster des Hauses heran: Weiber hoben mit viel Geschrei ihre Säuglinge vor die Scheiben, Männer zeigten ihr hinkendes Bein, und viele Zeigefinger waren gleichzeitig auf die Augen von Blinden gerichtet, deren Heilung zugleich mit wilden Schreien erbeten ward.

Da trat der Narr mit einem stillen und festen Entschluß plötzlich in den Andrang der Mühseligen und Beladenen mutig hinaus, die sogleich die Falten seines zerschlissenen Rockes sowie seine Hände und nackten Füße mit Küssen bedeckten. Die Fremden sahen, wie der lange, groteske Mensch eine Zeitlang hilflos wie auf einer Woge des Elends schwamm. Dann aber gelang es den Brüdern Scharf, einen Raum zwischen ihrem Idol und der sinnlosen Menge frei zu machen. Es war nun für Quint kein anderer Ausweg möglich, als daß er mit lauter Stimme das Wort ergriff und zu der ganzen Versammlung redete.

Was aber der Inhalt seiner Predigt war, wird von denen, die sie gehört haben wollen, nicht einhellig dargestellt. Auch mengte der Narr im Feuer des Augenblicks wohl allerlei widersprechende Dinge zusammen, wie sie aus eigenem Denken und Bibelerinnerungen auf seiner Zunge zusammenströmten. »Was seid ihr gekommen zu sehen?« fing er etwa zu rufen an. »Wollt ihr einen Arzt sehen? Ich bin ein Kranker und nicht ein Arzt! Wollt ihr einen Menschen in schönen Kleidern sehen? In besseren Kleidern, als jene sind, die eure kranken Glieder bedecken? Wahrlich, ich bin so schlecht bekleidet wie ihr. Die aber in guten und weichen Kleidern gehen, wohnen geruhig in ihren Palästen! Wollt ihr einen Propheten sehen, der die Sünden der Welt verflucht? Ich bin nicht gekommen, um zu verfluchen! Wollt ihr einen Menschen sehen, der mehr ist denn ihr: ein Meister der Kunst, ein Meister der Schrift? Wisset, ich bin ganz ungelehrt und bin weniger denn ihr! Ich kann weder Kranke heilen noch Tote erwecken, außer von geistlicher Krankheit und geistlicher Not, und wenn ihr dergleichen wünscht und erbittet, so wird euch vielleicht geholfen sein. Ich habe eine Taufe empfangen, eine Taufe mit Wasser! Ich aber kann nicht mit Wasser taufen, meine Taufe geschieht durch den Geist.« – Die Brüder Scharf und den Weber Schubert anblickend, fuhr er fort: »Des Menschen Sohn ist nicht in die Welt gekommen, die Seelen der Menschen zu vernichten. Er ist auch nicht in die Welt gekommen, das Joch von diesen Schultern auf jene, die Last vom Rücken der Guten auf die Rücken der Bösen zu tun, sondern er selber will alle Lasten auf sich nehmen. Wer Ohren hat zu hören, der höre: Jesus der Heiland, ihr nennt ihn wahrhaftig mit Fug den Gottessohn. Gott aber ist Geist! Jesus ward aus dem Geist geboren! Es sei ferne von uns und von euch, etwa anzunehmen, Gott sei ein Leib und es habe ein irdischer Leib seinen leiblichen Sohn hervorgebracht. Was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Tretet in die Geburt des Geistes, so seid ihr in der Wiedergeburt! Geist ist der Vater, Geist der Sohn, und auch ich bin vom Geist wiedergeboren! Wohlan, ich zögere nicht, euch dies zu verkünden: wer aus dem Geiste wiedergeboren ist, der ist Gottes Sohn. Ich bin Gottes Sohn, so verstanden. Aber auch ihr: ein jeder von euch kann durch die Wiedergeburt eben das werden, was ich bin, ihr alle könnt Gottes Kinder werden.«

Im Innern der Hütte hatten das kranke Weib und die kleine Martha durchs offene Fenster die Predigt des blinden Blindenleiters mit angehört und hatten sie ebensowenig verstanden als irgendeiner unter denen, die ihr dort draußen andächtig zuhörten. Sie hatten, vom Klange der lauten und innigen Stimme Emanuels ergriffen und aufgeregt, der Worte wenig geachtet, die er hervorbrachte, noch weniger ahnten sie etwas von ihrem Zusammenhang. Alle, und auch die Brüder Scharf, fanden sich nur an das, was sie aus der Bibel wußten und kannten, erinnert, und diese, die Brüder, lebten durchaus nur in ihrem eigenen Wahn, den sie durch das gefährliche Wort Emanuels: »Ich bin Gottes Sohn« auf unerhörte Weise bestätigt fanden. Wie Quint, das heißt, in welchem Sinne er eine Gotteskindschaft behauptet hatte, vermochten sie nicht in Rücksicht zu ziehen.

Als Quint seine Predigt beendet hatte, stürmte die Menge heulend und flehend auf ihn ein, einer immer den andern zurückstoßend. Der Blinde ward zum Stolpern gebracht. Säuglinge schrien, während die Mütter unflätig aufeinander loskeiften. Nahe vor den Augen des Narren fuchtelten Stümpfe von Armen, verkrüppelte Hände, Stöcke und Krücken minutenlang; es begann ein entsetzliches Katzbalgen, wobei das immer wieder versuchte Zurschaustellen ekelhafter Gebresten besonders entsetzlich zu sehen war. Der Narr erschrak. Was waren hier Worte?

Nachdem er eine Zeitlang vergebens versucht hatte, Ordnung in die entfesselte Menge zu bringen, zog er sich in die Hütte zurück, wo er aber von der Frau seines Wirtes auf eine Weise empfangen wurde, die ihn noch mehr als der Ansturm der Menge hilflos fand. Mitten im Zimmer kniete das Weib. Sie hob die Arme empor und betete. Sie sah ihn, Gebete murmelnd, mit irrsinnig leuchtenden, gläubigen Augen an, während Martha mit zitternden Lippen am Ofen stand und sichtlich ergriffen die Hände faltete. Bei alledem fühlte der Narr eine schwere Verwirrung in sich aufsteigen, verbunden mit einer Versuchung, die schwerer als irgendeine der früheren war. Um ihn her erhob sich ein Wahn, der, einem gewaltigen, aus der Erde dringenden Sturme gleich, etwas Unwiderstehliches an sich hatte. Es wuchs eine schreckliche Macht um ihn, von der er nicht wußte, ob er sie selbst oder wer sonst sie entfesselt hatte, eine Glaubensgewalt, die ihn, wie die Welle eines Bergbachs das dünne Reis, erhob und unaufhaltsam mit sich riß. Nun, wird man sagen, er war ein Narr, und also nahm er sich wohl ohne erheblichen Widerstand für das, wofür ihn die Leute in ihrer Torheit hielten: nämlich, wenn nicht für Gottes Sohn, so doch für einen mit übermenschlichen Kräften ausgestatteten Wundermann. – Gewiß, er faßte sich an die Stirn, er stellte sich in der Stille Fragen, ob er nicht etwa wirklich mehr, als er selber wisse, sei: aber dann stieß er doch mutig alles aus dem Bereich seines Geistes hinaus, was ihn zu einem überheblichen Selbstbewußtsein bereden wollte.

Und also wandte er sich mit Schmerzen, wenn nicht mit Abscheu, von dem fast nackten Körper zu seinen Füßen und den verzückten Blicken ab, die ihn lästerlich anbeteten, und entfernte sich durch die Hintertüre des kleinen Hauses eiligen Schrittes, fluchtartig über die Bergwiesen, so daß er der lärmenden Menge und denen im Haus, die nach ihm suchten, plötzlich unauffindbar entschwunden blieb.

 

Zwei junge Männer, jugendliche Touristen, hatten Emanuel Quint davonlaufen sehen und waren ihm, da sie von allem, was sie erblickt und gehört hatten, wie durch etwas ungeheuer Abenteuerliches sich berührt fanden, nachgefolgt. In ziemlicher Ferne gelang es den beiden, ihn einzuholen. Sie grüßten freundlich und sprachen ihn an.

Es waren zwei Brüder Hassenpflug aus dem Münsterschen, zwei »Zigeuner«, im Anfang der zwanziger Jahre stehend, die meist von geborgten Groschen lebten, in Berlin eine Zeitschrift herausgaben, die niemand las, kurz: Schwärmer, Dichter und Sozialisten. Sie sahen in Quint einen guten Fang.

Die Menge Fragen, mit denen sie ihn im Anfang belästigten, ließ er, sie dagegen nur groß und forschend betrachtend, vorübergehen. Es wäre ihm auch meist nicht leicht geworden zu antworten. Was war zum Beispiel ein Sozialist? Er wußte nicht, ob er ein Sozialist wäre!

Er hatte auch nichts von Anarchismus und russischem Nihilismus gehört. Auch nichts von einem Buche des Herrn von Egidy: »Ernste Gedanken«. Zuweilen überzog, aus Scham über seine Unwissenheit, dunkle Röte sein Angesicht.

Aber nachdem alle drei eine halbe Stunde und länger in der dünnen Luft der Kammhöhe miteinander gewandert waren, hatte sich zwischen ihnen eine Art von Vertraulichkeit erzeugt. Mit lebhafter Neugier erkannte Quint in dem, was seine Begleiter nach und nach auf eine sektiererisch eifrige Weise vorbrachten, eine ihm völlig neue Welt, die er mit hungrigem Geiste auffaßte und mit scharfem Blick zu durchdringen sich Mühe gab.

Das äußere Wesen der Brüder Hassenpflug behagte ihm nicht. Der eine und ältere von den beiden gefiel sich in einer spöttischen Lustigkeit, womit er die Äußerungen des jüngeren Bruders meist begleitete. Wenn dieser von Freiheit, von Recht auf Glückseligkeit, von einem allgemein harmonischen und sorgenlosen Dasein sprach, von der künftigen Vollkommenheit, zu der sich der Mensch entfalten würde, so hatte Quint den peinlichen Eindruck, der andere sei völlig beherrscht von Unglauben und bezweifle alles das. Aber wodurch die drei auf gleichem Boden standen, das war ihre Jugend, war die Liebe zu einer unbekannten und erst noch zu erobernden, wirklichen Welt, in die sie hineingesetzt waren und die den zur Mannesreife langsam erwachenden Jünglingen nun nach und nach ihre Wunder erschloß.

Seltsam, wie sehr der Geist einer geweckten Jugend in diesen Lebensaltern sich außer- und überweltlich dünkt und doch mit jeder Regung im Irdischen wurzelt. Sie selber zwar wußten nicht, wie über jeden Begriff köstlich und herrlich die Welt ihnen erschien, und würden, hätte man ihnen das vorgestellt, geleugnet haben. Die Brüder Hassenpflug hätten sicherlich Schopenhauer zitiert und mit Marx und Engels Kritik geübt an den verrotteten menschlichen Zuständen. Sie hätten vielleicht mit Bellamy oder anderen hingewiesen auf einen sozialistischen Zukunftsstaat, auf zu erstrebende paradiesische Zustände, ohne zu ahnen, daß irgendein höheres Glück sich auszudenken als das der Jugend, in der sie lebten, ihnen unmöglich gewesen wäre.

Emanuel Quint, der unter Verachtung, Not und Entbehrung ganz anders als seine Begleiter gelitten hatte und älter war, stand doch, wie diese, in einem schäumenden Jugendrausch. Und wenn wir den ganzen Ernst seines sonderbaren Geschicks und den fest bestimmten kurzen Weg seines arg verfehlten Lebens bis an sein Ende in Rücksicht ziehen, so müssen wir dennoch sagen, es war der Reichtum an junger, überwallender Liebe, den auszugießen, und sei es mit seinem Blute zugleich, unstillbar heißes Verlangen ihn zwang.

Als Karl, der jüngere Hassenpflug, die Bemerkung gemacht hatte, wie er dem eigentümlich würdevollen Wesen des Narren nur selten eine karge Äußerung abringen konnte, gab er sich seine Antworten selbst. Und so erfuhr Emanuel Quint nach und nach etwa dieses:

Es habe sich, und zwar in fast allen Ländern der Erde, die ganz bestimmte Überzeugung verbreitet, die ungerechte Gesellschaftsordnung, wo ein kleiner Teil der genießende, der weitaus größere aber der leidende sei, stehe unmittelbar vor dem Untergang. Auch ihm sei keineswegs zweifelhaft, daß die große soziale Revolution in kurzer Zeit, die vielleicht nur nach Monaten zähle, bestimmt zu erwarten sei. Der vierte Stand, der Stand der Arbeiter, der Stand der sogenannten Proletarier, werde die Revolution hervorrufen. Er bilde bereits durch fast alle Staaten des Erdballs hindurch eine große Partei. Der Wahlspruch dieser Partei aber heiße: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Sie werde, sobald sie zur Herrschaft gelange, zunächst einen schlimmen Götzen zertrümmern: nämlich den Moloch des Kapitals! und die Folge davon werde diese sein: daß jeder die Frucht seiner redlichen Arbeit genießen, statt sie durch Räuberhände der Reichen einbüßen werde.

Dieser große Augenblick der Befreiung werde die Folge eines natürlichen sozialen Prozesses sein, eine Art Zerfall der modernen Gesellschaft, naturgemäß, wie eine überreife Frucht verfault und zerfällt. Nun gäbe es aber Leute, die wollten nicht warten, und diese arbeiteten mit gewaltsamen Mitteln, Revolver und Dynamit, auf das Ende hin. In diesen Leuten, sagte Karl Hassenpflug, nehme die Wut des Unterdrückten entsetzliche Formen an. Ihr Wahlspruch laute: Krieg bis aufs Messer! Der Ordnungsbestie kein Pardon! Und er las Emanuel Quint einen anarchistischen Aufruf vor, der förmlich vom blutigen Atem der Rachsucht rauchte.

In diesem Aufruf, der die Hinrichtung eines Anarchisten auf der Place de la Roquette zu Paris als Mittel zur Aufreizung verwertete, wurden die Vertreter der gesetzlichen Mächte Ordnungsbande, Schweinebande, Hunde- und Mörderbande, Halunken und Schufte genannt, so daß, mit diesen Ausbrüchen verglichen, dem Narren die feindlichen Äußerungen der Brüder Scharf gegen die Wohlhabenden und Besitzenden wie ein lindes Säuseln der Güte erschienen. Aber ihn kam ein Grausen an. Und indem er sich ruhig dem Sprecher zuwandte, sagte er, so daß es die Brüder Hassenpflug wie etwas unendlich Naives berührte: »So gewiß ich ein Armer unter den Armen bin, diese sind ferne vom Gottesreich.«

Von nun an waren die Brüder bemüht, den originellen Landstreicher nach seinen geheimen Marotten auszuforschen. Sie waren ungeheuer erstaunt gewesen, bei einer Pfingstwanderung auf einen solchen Menschen und einen Vorgang zu stoßen, der wie aus dem Neuen Testamente herausgenommen erschien. Sie wußten recht gut, wie überhaupt die Kreise der jugendlich Intellektuellen von damals es wußten, daß im Volke der Mutterboden für alles ursprünglich Junge und Neue ist. Und hier, in einer Gegend, die, von den großen Verkehrswegen des neuen Eurasiens abgelegen, fremd für sie war, trat ihnen überall ein ganz unberührtes Volkstum entgegen. Sie gehörten zu jenen, denen die europäische Einheitsbildung Verflachung war. Mit Spannung aber und Wissensdurst suchten sie überall in das abgeschlossene Kastenbereich der niederen Stände einzudringen, als müßten dort Quellen der Offenbarung fließen, die im Bereiche des kultivierten Geistes versiegt waren.

Sie brachten nun das Gespräch auf ein anderes Gebiet. Sie sagten sich, weil dieser Mensch einen solchen Zulauf von Kranken hatte, so müsse ein Wundertäterwahn oder der hypochondrische Glaube an irgendein Heilmittel, das er vielleicht ererbt hatte, in ihm sein. Aber sein Vater war nicht Schäfer gewesen, noch hatte er irgendein Büchelchen mit Rezepten geerbt, vielmehr hörte man hinter den wenigen, schlichten Worten, die er sprach, nur immer wieder die Blätter des Buches der Bücher rauschen. Und es war nicht die Rede von irgendeiner wenn auch noch so geringen therapeutischen Einbildung.

Er sagte: »Ich habe nichts mit den Leiden des Körpers zu schaffen. Wessen Körper leidet, den mache ich nicht gesund. Wessen Körper gestorben ist, den kann ich nicht aufwecken; ich bin nur ein Arzt der Seele, die nie stirbt. Ich sehe, die Menschen leiden Not. Ich sehe, sie wollen die Not überwinden. Ich kenne die Hoffnung, von der sie zehren, auf endliche Überwindung der Lebensnot. Ich selbst bin in Not. Ich weiß auch, wie bitter es ist, das tägliche Brot zu entbehren, Hunger zu leiden. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern er lebt von solchen Worten, die durch den Mund Gottes gegangen sind. Ihr sagt«, fuhr er fort, »daß die Arbeiter auf der ganzen Erde einen Zustand erstreben und nahe voraussehen, wo jeder die Frucht seiner Arbeit genießen wird. Ich aber sage: genießet jetzt, genießet in jedem Augenblick das lebendige Wort aus dem Munde Gottes. Wenn dereinst, wie ihr sagt, das Arbeiterparadies auf der Erde blühen wird, so werde ich weit davon entfernt im Reiche Gottes sein.«

Als sie den Narren fragten, was denn und wo denn das Wort, die wahre Speise der Seele, wäre, zog er sein kleines Bibelbuch und las ihnen aus dem Evangelium Sankt Johannis: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.« Und nachdem er diese Worte gelesen hatte, fragte ihn Christian Hassenpflug, wie es denn aber mit der Verkündigung des Reiches Gottes auf Erden, darin die Bibel doch gewissermaßen eines Sinns mit den ringenden Kräften des Gegenwartslebens sei, beschaffen wäre; da schwieg er zuerst und sagte dann: »Es sei denn, daß ihr von neuem geboren werdet, so könnet ihr das Reich Gottes nicht sehen«, womit er Johannes 3, Vers 3 in einer Weise anführte, die für ihn eine mystische Wollust war, jenes Nahrungaufnehmen des Geistes, jenes Ernährenlassen der Seele durch heilige Worte, die durch den Mund des Heilands gegangen sind.

 

Ein wenig ermüdet, hatten sich alle drei in der Nähe der sogenannten Speidlerbaude niedergelassen, von der aus ein großer Bernhardiner mit gewaltigem Bellen über die feuchte Kammwiese näherkam: aber sie achteten seiner nicht, und Emanuel Quint entwickelte nun auch vor diesen Leuten, wie das Reich Gottes eben ein Geheimnis sei. Freilich, schloß er mit einem Lukas-Zitat, nichts sei verborgen, es werde denn zu seiner Zeit offenbar, und nichts so heimlich, das nicht doch dereinst kund werde, und wenn man auch eine Zeitlang wohl das Licht unter einen Scheffel zu setzen Ursache habe, so geschehe dies nicht für ewige Zeit.

Quint hatte sich ohne weiteres bereit erklärt, mit den Brüdern Hassenpflug einzukehren und in der Baude ihr Gast zu sein. Als sie sich nun dem Eingang annäherten, immer von dem Gebell des Hundes begleitet, der, wenn er schwieg, ihnen knurrend bis auf wenige Schritte nahekam, füllten sich Flur und Schwelle des Hauses schnell mit einer Menge glotzender Menschen an. Der Hund nahm immer den Narren aufs Korn, und in wenigen Augenblicken, indessen sich die Schar der Touristen vor der Haustür stark vermehrt hatte, fand er von da aus Ermunterung.

Die Predigt Quints war nämlich von einigen redlichen Männern und Frauen in Lodenstoff bereits in der Baude bekanntgemacht worden, und weil der Zweck einer Bergwanderung begreiflicherweise das Vergnügen ist, so muß alles, was etwa in den Gesichtskreis des wandernden Bürgers gelangt, durchaus die Eigenschaft des Vergnügens nach seinem Herzen sich aufzwingen lassen. Man darf aber nicht vergessen, daß edle und wahre Entrüstung ein echtes Sonntagsvergnügen des sich begnügenden Kleinbürgers ist.

Sobald sich also der vorläufig harmlose Unfug der Laienpredigt auf der Bergwiese in der mit Touristen überfüllten Gaststube der Speidlerbaude verbreitet hatte, weckte er sogleich einen wahren Sturm von Gelächter, aber auch von allen Seiten tiefste Entrüstung auf. In solchen Fällen pflegen die Herzen der Menschen sich zu vereinigen. Während der Schlachtermeister, der Bäcker, der Darmhändler oder der Vorstadtbudiker beim dritten, vierten Glas Bier und seine Gattin beim Kaffee sitzt, und besonders auf Reisen, ist er sich seiner moralischen Bürgerpflichten bewußt, und wer wollte das nicht in der Ordnung finden.

Das geflügelte Wort, das dem Narren durch Hundegebell entgegenschallte, war aber dies: Kohlrabi-Apostel. Denn etwas von jenem überspannten Unsinn des vegetarischen Lebensprinzips war den Gevattern natürlich geläufig: sowohl denen, die aus Breslau herübergekommen, als jenen, die in der Stadt Dresden ansässig waren. Ganz besonders in dieser Stadt sah man zuweilen Leute in härenen Hemden, barfuß und einen Strick um den Leib, die Haare bis auf die Schulter reichend, durch die Straßen ziehen.

Die Kommenden taten, als bemerkten sie Zurufe und Gelächter nicht: allein sie konnten ihr Gebaren, als ob dies alles nicht ihnen gälte, in dem Augenblick nicht mehr durchführen, als ihnen ein riesenhafter Tourist mit Bergstock, Rucksack und kurzen Schaftstiefeln unter frechem Lachen den Weg vertrat.

»Hier gibt's keine Rüben«, sagte der Viehhändler.

Die Brüder Hassenpflug wurden sehr heftig. Sie entrüsteten sich und fuhren mit einem Schwall von empörten Worten auf den blaurot aufgedunsenen, schwitzenden Bergfex ein, der aber statt jeder Antwort Emanuel Quint vor der Brust ergriff und mehrmals gutmütig hin und her schüttelte. Dabei johlte er: »Du bist verrückt, mein Kind!«

Im gleichen Augenblick war aber für den Bernhardiner so weit das Signal gegeben, daß er dem armen Landstreicher nach der Wade griff, worauf die Kellnerin den Hund auf die Schnauze schlug.

Vielleicht bereute der Viehhändler nun seine Handlungsweise. Auf jeden Fall geriet er in Wut, so daß seine Frau ihn beschwichtigen mußte. Am Ende hätte er sonst seine Drohungen wahr gemacht und die drei harmlosen Wanderer, Jüngelchen, wie er sie brüllend nannte, auf den Schornstein der Baude gesetzt.

Trotz dessen hatten die Hassenpflugs Emanuel bis an die Schwelle des Hauses mitgezogen. Hier stießen sie auf den böhmischen Wirt. Er stand in der Tür und ließ sie nicht eintreten. Er sagte nichts. Oder wenigstens bedeutete, was er in aller Ruhe, gelassen und schwerverständlich ausdrückte, etwa das: sie möchten getrost, und zwar sofort, ihres Weges gehn.

Diese unbegreifliche Dreistigkeit steigerte sehr natürlicherweise die Empörung der beiden Hassenpflugs. Sie waren Kandidaten der Philosophie, hatten das schwarz-rot-goldene Band getragen, und niemals, solange sie lebten, war ihnen etwas Derartiges von dem Wirt einer Kneipe geboten worden. Es half ihnen aber alles nichts. Trotz ihrer empörten Reden mußten sie unter dem wüsten Gelächter eines ganzen Touristenpöbels von dannen ziehn.

An der Grenze des Anwesens stand ein Knecht. Und als das Kleeblatt vorüberkam, schrie er mit lauter Stimme hinüber zu dem unter dem Beifall seiner Gäste geschmeichelt lächelnden Baudeninhaber, daß Quint der Mensch, von dem er schon mehrfach gesprochen hätte, sei, der sich schon wochenlang auf dem Gebirge herumtreibe. Was er im Schilde führe, wisse man nicht. Man müsse ihm den Gendarm auf den Hals schicken.

Sie mochten von da ab kaum eine Viertelstunde geärgert und schweigend gegangen sein, als Emanuel Quint vom Wege ab und querwaldein durch die niedrigen Bergföhren schritt. Er bat die Brüder, ihm nachzufolgen. Und plötzlich eröffnete sich inmitten der Fichten und Krüppelkiefern ein Wiesenplan, auf dem jener Quinten befreundete Hirt seine Herde von Rindern und Ziegen weidete. Als nun die Brüder aus einer Bewegung des waldmenschartigen Kerls und aus einer Gegenbewegung Quints entnommen hatten, daß diese beiden einander nicht fremd waren, rückten sie, hungrig wie sie waren, mit dem Vorschlag heraus, den Hirten in eine der nahen Bauden nach Lebensmitteln auszusenden. Gesagt, getan: es ließ sich bewerkstelligen. Mit Geld von den Hassenpflugs versehen, ward der Hirt durch Emanuel Quint am Schlusse verständigt, wohin er den Einkauf zu bringen hätte.

Emanuel aber führte alsdann seine neuen Bekannten auf unwegsamen Pfaden mit sich fort, bis sie zu jener in Felsen und Krüppelkiefern versteckten Behausung gelangten, die wochenlang sein Schutz vor Wind und Wetter gewesen war. Und als er dort, an einem glucksenden Rinnsal in der Nähe, die Wunde, die ihm der Bernhardiner zugefügt, gleichmütig wusch, ward er, wie jemand, der sich als Wirt und zu Hause fühlt, gesprächig, beinahe heiter und freimütig.

 

Mit wenigen Anklängen seiner Mundart sagte er, nicht ohne rednerische Anmut und Leichtigkeit, etwa folgendes zu den Brüdern:

»Ich habe hier mehrere Wochen lang beinahe in völliger Einsamkeit gelebt und bin mit mir über allerlei ernste Dinge zu Rat gegangen. Diese Hütte, die kaum eine Hütte ist, war jedenfalls ein Versteck für mich. Da aber das Reich Gottes heute wie je, trotzdem sich so viele Menschen Christen nennen, wie schon gesagt, ein Geheimnis ist, wie sollte sich der Bekenner beklagen, der Diener am Wort, wenn er sich auch vor den Menschen verstecken muß?

Ich merke sehr wohl, ihr seid gelehrt, ich bin ungelehrt« – er nahm aus dem arg zerschlissenen Rock, und zwar aus einem der langen Schöße, seine kleine Bibel hervor –, »ich habe nur immer wieder dies eine, heilige Buch gelesen: aber ich glaube, Gott wäre auch dann bei mir, wenn ich auch dieses Buch nicht gekannt hätte.« Er küßte das Buch und fuhr dann fort: »Gott ist in meinem Herzen so groß, daß mir den Gedanken zu denken nicht möglich ist, er sei an irgendein Buch gebunden. Ein Buch an sich ist ja wunderbar, besonders für die, die nicht lesen können. Ich glaube, die Furcht vor dem Buch stammt vielleicht aus jenen Zeiten her, wo es den meisten Menschen noch unbegreiflich erscheinen mußte, Bücher reden und gewissermaßen lebendig zu sehen. Und nun gar dieses Buch, das ich in der Hand halte.

Aber Gott wird nur immer in mir lebendig, nicht im Buch! Wenn ich das Buch hier unter die Steine verberge und liegen lasse und der Mensch, der lesen kann und in dem es zum Leben erwachen kann, findet es nicht, so bleibt es tot. Es ist immer tot, nur wir sind lebendig. Das Buch ohne mich ist tot wie ein Stein. Ich ohne das Buch dagegen bin, wenn Gott will, ein Gefäß seiner Gnade und ganz erfüllt mit dem Heiligen Geist.«

Und Emanuel wies mit dem Finger auf seine rotbewimperten Augen hin: »Ich werde entweder Gott selbst mit diesen Augen, die nach außen und innen strahlen, erblicken oder ihn niemals sehen!« Er wies auf die Sonne am bleichen Himmel: »Wer dies nicht sähe, er sähe denn vorher in ein Buch, für den hätte Gott keine Zunge zu sprechen. Das vornehmste Werkzeug der Offenbarung Gottes ist der Mensch, nicht irgendein Buch, wie immer geartet. Aber der Mensch, als Werkzeug der Offenbarung, schuf für die Menschheit ein anderes Mittel menschlich-göttlicher Offenbarung: nämlich das Buch. Das Buch«, sagte Quint, »ist nichts als ein Brief, durch den Menschen, die fern voneinander sind – und eigentlich sind alle räumlich und zeitlich fern voneinander –, sich gegenseitig von ihrem Leben und Leiden und dem, was Gott in ihnen wirkte, Meldung tun. Gott heiligt den Menschen, der Mensch das Buch, und der Mensch, durch das Buch, kann den Menschen heiligen.

So bin ich durch Jesum, mittels des Buches, geheiligt worden.«

Auf dem Antlitz des Narren verbreitete sich eine innige Heiterkeit. »Man muß sich an der reinen und stillen Erkenntnis genügen lassen. Es ist genug, wenn ich fühle, daß niemand – niemand! – nicht einmal ein Buch! zwischen mir und Gotte ist. – Aber neben mir steht mein Menschenbruder, des Menschen Sohn, steht Jesus, der aus Liebe zu seinen Brüdern um Gottes willen gestorben ist.

Man kann solche Dinge denen nicht aussprechen, die, auf Linderung ihrer Leiden harrend, auf Sättigung ihrer Begierden hinwirken. Am allerwenigsten denen, die einen Gott in Körpergestalt anstatt des Heiligen Geistes sehen. Jene sind in Hoffnung, ich bin in Gewißheit. Freilich, wenn ich den Jammer der Menschen wiedersehe, dem ich entronnen bin, so packt mich mitunter der alte Gram, das alte Grausen, die alte Verzweiflung, und ich schäme mich meiner Glückseligkeit.

Dergleichen Augenblicke«, fuhr Quint fort, »packen mich manchmal so mit Gewalt, daß ich mich bald so, bald so vernichten möchte. Das eine Mal ruft es in mir: Rette dein Himmlisches vor der Welt! Verlasse die Welt und fliehe noch tiefer hinein in Gott! Das andere Mal treibt es mich an, trotzdem ich weiß, warum der Heiland für uns gestorben ist, mich, gleich wie er, am Kreuze, der Menschheit, zum Wohle der Menschen nochmals zu opfern. Die Menschen, selbst wo sie sich roh gebärden, nicht zu lieben, gelingt mir nicht. Es ist in allen eine große Hilflosigkeit. Ich fühle ein schmerzliches Mitleid in mir sich steigern bis zur Qual, wenn ich die Menschen sinnlos gegen sich selbst, den Menschen, wüten sehe. Sie sind blind. Sie wissen nicht, was sie tun.«

Während er dieses sagte, war Emanuel Quint mit großen, langsamen Schritten auf dem kleinen, festgetretenen Pfade vor der Schutzhütte hin und her gegangen. Die Brüder Hassenpflug hatten, jeder an einen mächtigen, kantigen Block Granit gelehnt, schweigend und ernsthaft zugehört. Sie blickten sich an mit dem stummen Geständnis, daß von allem Sonderbaren, was ihnen die Zeit ihres Lebens begegnet war, dieses unerwartete Abenteuer der harmlosen Pfingstreise wohl sicher das Sonderbarste sei.

Jeder der beiden Hassenpflugs trug ein Notizbuch in der Tasche. Sie schrieben in diese Bücher allerlei Einfälle und Beobachtungen, die sie in späteren literarischen Werken – und sie gedachten unsterbliche Werke dieser Art hervorzubringen – verwerten wollten. So standen sie gleichsam über dem Gegenstand ihrer Beobachtung, über diesem interessanten Modell, das ihnen mit zur Vervollkommnung ihrer Kenntnis der deutschen Volksseele dienen sollte.

Als sie sich nun mit Blicken verständigt hatten, traten sie mit der Frage hervor: was eigentlich wohl das Ziel und die weitere, wahre Absicht Quints im Leben wäre, wie und für was er zu wirken gedächte und welche Hoffnung in seinem Herzen sei.

»Jesus!« sagte Quint, statt aller Antwort, nach einigen Augenblicken des Stillschweigens. Und »Jesus!« wiederholte er dann zum zweiten- und drittenmal. »Nichts will ich! ich will nur leben wie Jesus.« Er fuhr nun fort und entwickelte vor den mit ängstlicher Neugier horchenden Brüdern etwa das:

Er liebe die Menschen, aber er habe sich unter den Menschen stets fremd und allein gefühlt. Erst dann wäre sein Wesen hervorgegangen »aus dem ängstlichen Harren der Kreatur«, als er von Jesus erfahren habe, dem Menschensohn. Von da ab habe er sich auch nur noch auf Erden, wie Jesus, als Fremder gefühlt, gleichzeitig auch, wie Jesus, heimisch.

Jesus wäre für ihn der Mittler geworden und bliebe der Mittler nicht nur zwischen ihm, Quint, und Gott, sondern auch zwischen ihm, Quint, und den Menschen, zwischen ihm und der Erde, der ganzen Natur, fügte er ausdrücklich noch hinzu. – Es gäbe zu Gott unzählige Wege. Aber er, Quint, sei Mensch, und es sei ihm natürlich und auch durchaus keine Sünde vor Gott und an Gott, ihn im Menschen zu lieben. »Ich bin ein Mensch«, hob er wieder hervor, »und das mir zugeteilte Erdenschicksal kann nur ein menschlicher Wandel Gottes sein. Kein anderer aber als Jesus, der Heiland, hat für Weg und Wandel Gottes auf Erden ein so reines Vorbild gegeben. Also das Leben Jesu, die Nachfolge Jesu ist mein Ziel! die Einheit im Geiste mit Jesu mein wahres Leben.

Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das tatet ihr mir, hat der Heiland gesagt. Nach diesem Wort und nach keinem anderen will ich handeln. Ich will mir den allergeringsten aussuchen, und ich will ihm tun, als ob er Jesus der Heiland wäre: Jesus der Heiland, hilfsbedürftig, in irdischer Not. Irgend etwas anderes auf dieser Welt zu verrichten liegt mir fern. Ich will die Wundmale des Heilands küssen. Die Nägelmale. Ich will, soweit es an mir liegt, seine Wunden waschen, die Schmerzen lindern. Und irgendeines Menschen Wunde soll mir die Wunde Jesu sein.«

 

Erst am späten Nachmittag, lange nachdem das Frühstück verzehrt war, das der Hirt herbeigebracht hatte, verließen die Hassenpflugs Emanuel Quint. Sie stiegen auf Pfaden, die der Narr ihnen wies, zu einem belebten Berghospiz hinauf, das mit einem trotzigen Turm aus Granitsteinen auf einer Klippe zwischen zwei Felsenkratern errichtet war. Als Emanuel ihren Blicken entschwand und nichts mehr von ihm zu sehen war, rieben die Brüder sich die Augen, nicht anders, als wenn sie beide den gleichen Traum gehabt hätten und nun zum Lichte des Tages wieder erwacht wären. Im Weitersteigen beglückwünschten sie einander dazu wechselseitig, nun wieder am Ende des neunzehnten Säkulums und nicht annähernd neunzehn Jahrhunderte früher zu leben, und damit schien dieses Intermezzo ihrer fröhlichen Bergtour zunächst für sie abgetan.

Oben auf dem Grat des Gebirges wiederum angelangt, zogen sie in Gemeinschaft vieler vergnügter Touristen der burgartigen Massenherberge zu und versäumten nicht, ebensowenig wie die anderen Ausflügler, den weiten Horizont zu genießen und mit dem Fernglas wichtige Punkte sowohl der preußischen als der böhmischen Seite aufzusuchen.

Quint hatte sich in der kleinen Schutzhütte auf seine Moosbank niedergestreckt. Er überdachte die jüngsten Ereignisse. Er war geflohen, weil etwas, er wußte nicht was, die Freiheit seiner Entschlüsse zu bedrohen schien: weil dunkle Gewalten, ohne Rücksicht auf das, was sein neugewonnener Glaube, seine neue Erkenntnis war, ihn gleichsam in eine starke Strömung hineinziehen wollten, die alles vielleicht, wer weiß wohin, in den Abgrund der Lüge, des ewigen Todes reißen würde.

Ich werde allein bleiben, dachte Quint – und auch das Zusammensein mit den Hassenpflugs hatte diesen Gedanken ihm wiederum nahegebracht –, ich werde, allein, weder jemand verführen noch von jemand verführt werden! Ich werde der Welt, und die Welt wird mir kein Ärgernis sein. Ich werde ganz nur mit allen meinen Gedanken, wie Johannes, der Jünger, den Jesus liebhatte, in stiller Versenkung dem Heiland leben. Ich werde nur immer dem Heiland, sonst niemandem, nahe sein.

Wahrlich, ich bin kein ägyptischer Zauberer, fuhr es in ihm zu reden fort. Ich habe mich niemals zu einem solchen noch irgendwie zu einem, der Zeichen und Wunder tut, gemacht. Ich weiß sehr wohl, was Jesus Markus 8, Vers 12 gesagt hat: »Wahrlich, es wird diesem Geschlecht kein Zeichen gegeben.«

Aber in Emanuel Quint war etwas, was einen solchen Entschluß, nämlich, ohne Rücksicht auf andere, sich selbst zu leben, stets wiederum untergrub: sein Herz, seine Liebe zu den Mitmenschen. Sie hielt ein immerwährendes, schmerzendes Mitleid, wie eine offene Wunde, in ihm wach, so daß er das »Seid umschlungen, Millionen!« im Jubel der Seele und im bitteren Schmerz eigener Leiden empfinden mußte.

 

Quint mochte wohl eine halbe Stunde und länger für sich fortgegrübelt haben und lag, halb wach, beinahe entschlummert, mit geschlossenen Augen still, als er sich von lebendigem Atem gestreift fühlte. Er tat die Augen auf und erschrak, denn über ihn stand ein Mensch gebeugt, dessen Antlitz so abstoßend häßlich war, wie Quint noch keines gesehen hatte.

Quint sprang empor, doch jener Abscheuliche, der nichts weiter als ein friedlicher, seiner Schlauheit wegen allerdings berüchtigter Schmuggler jener Grenzgegenden war, nahm ruhig den Schragen von den Schultern und stellte ihn, ohne Gruß, in der Hütte ein.

Er hatte das Gesicht eines Hundsaffen. Die Nase des Schmugglers war breit und platt, er hatte pechschwarzes Haar, einen niedrigen Wulst an Stelle einer menschlichen Stirn und Augen darunter, klein wie Hundsaugen. Um sein breites, rundes und vorgebautes Maul lag oben ein dünner schwarzer Bart. Ein starker Haarwuchs dagegen bedeckte die Gurgel und zog sich bis über die Schläfen und unter die Augen herum. Dieser Kerl, den man schließlich doch als einen Menschen ansprechen mußte, war übrigens klein und kräftig gebaut. Seine Kleidung bestand aus einer Art Hose, einer Art Rock und einer Art Hemde außerdem, das offenstand und den tierisch behaarten Leib bis beinahe zum Nabel herunter zeigte.

Der Schmuggler, der augenscheinlich Quint für einen Kollegen hielt, hatte sich an das Rinnsal unterm Knieholz auf alle viere niedergelassen, um so, einem Pudel ähnlich, gierig das eiskalte Gletscherwasser zu trinken. Sein Durst war groß. Er hatte einen langen, beschwerlichen Anstieg aus dem Hirschberger Tale über allerlei Kreuz- und Querwege hinter sich, mit denen er übrigens dermaßen wechselte, daß er im Jahre die gleiche Stelle kaum mehr als einmal zur Rast betrat.

Als jetzt der Hundsaff, den seine Schmugglerstreiche, verbunden mit einer großen Gutmütigkeit, und nicht zum wenigsten seine abscheuliche Häßlichkeit im ganzen Umkreis des Gebirges unter dem Namen des böhmischen Josef berühmt gemacht hatten, wieder zu Quint in die Hütte trat, bemerkte er diesem: es sei heute unsicher. Er nahm damit seinen Schragen auf, verschwand und kehrte ohne den Schragen zurück.

»Wir werden am Ende nicht hier bleiben können«, sagte er dann zu Quint und wies hinauf gegen die Felshöhe der Turmbaude, wo die Leute, klein wie stehende Ameisen, am Rande der Klippen herumkrabbelten und allerlei Rufe von sich gaben, die weithin durch die Felshalle schollen und in keinem Verhältnis zu den Insekten zu stehen schienen, die sie hervorbrachten.

»Das geht auf uns«, sagte der böhmische Josef in seiner Gebirgsmundart zu Quint und zögerte einigermaßen, indem er den großen Kanten Brot auspackte, der in ein buntes Tuch gewickelt war und mit dem er sich für die Reise stärken wollte.

Nun vernahmen die beiden Rastgenossen Hundegebell. Während Quint nicht begreifen wollte, da er das reinste Gewissen von der Welt besaß, was etwa Hundegebell und Rufe ihn angehen sollten, hatte das adlerscharfe Auge des böhmischen Josef schon einen Förster, einen Grenzer und noch einen dritten uniformierten Mann erkannt.

»Nu dalli! jetzt aber heißt's Beine machen.«

Mit zwei Sprüngen hatte er seinen Schragen erreicht, den er vielleicht, wo nicht die Hunde gewesen wären, vorläufig hätte im Stich gelassen. Er schnallte ihn auf den Rücken und winkte Quint, er möge ihm nachfolgen, wobei ein verschmitztes Schmunzeln um seine affenartig geschlossenen Lippen ging, das etwa ausdrückte: wenn sie uns fangen, so will ich nicht mehr der böhmische Josef sein.

Quint, ohne recht zu wissen warum, folgte doch fast mechanisch dem Schmuggler, und beide krochen auf versteckten Pfaden, selbst ganz verborgen vom Knieholz, eine gute Weile, seltsamerweise fast in der Richtung hin, aus der die drei Verfolger sich annäherten. Dabei überschritten sie mehrmals ein und denselben Wasserlauf, um die Hunde irre zu machen, und befanden sich, ungesehen, dicht unterm Fuße der Klippe, darauf hoch oben die Baude thronte, in dem gleichen Augenblick, wo Förster, Grenzjäger und Gendarm die Schutzhütte, die sie verlassen hatten, durchstöberten.

 

Förster, Grenzaufseher und Gendarm, die einander zufälligerweise in der Turmbaude begegnet waren, wo es ein gutes Bier zu trinken gab, hatten durch Touristen von dem sonderbaren Narren gehört, der die Berggegend unsicher machte, und der Mann des Gesetzes, der Gendarm, fand sich dadurch der Erledigung eines recht beschwerlichen Auftrags nähergebracht, den ihm seine Behörde erteilt hatte. Ein Amtsvorsteher aus dem Kreise Reichenbach hatte an verschiedene Amtsvorstände des Hirschberger Kreises ein Rundschreiben gerichtet, des Inhalts, daß ein gewisser Emanuel Quint aus seinem Heimatsdorfe verschwunden sei. Man fahnde, hieß es, nach diesem Quint, weil nach der Aussage vieler vertrauenswürdiger Zeugen allerlei öffentlicher Unfug von ihm zu vermuten stehe, wie denn dergleichen auch innerhalb verschiedener Kirchsprengel erwiesen wäre, und so fort. Man müsse aber auch übrigens feststellen, ob nicht die Unterbringung des pp. Quint in ein Arbeitshaus, bezugsweise in die Provinzial-Irrenanstalt geboten wäre. Aus allen diesen Gründen werde ersucht, den pp. Quint, dem auch seine Mutter, eine Tischlersfrau, kein gutes Zeugnis ausstelle, wo man ihn betrete, festnehmen zu lassen.

Nun hatten Passanten auch die Brüder Hassenpflug als Begleiter Quints wiedererkannt und den Wachtmeister auf sie hingewiesen, und dieser war denn auch sporenklirrend an den Tisch der Studenten herangetreten. Sie gaben ihm aber nur zögernd und überdies absichtlich ungenauen Bescheid, wobei sie allerhand Spottreden führten, die aber mit Latein untermengt und übrigens auch so schwer zu fassen waren, daß der Gendarm, trotzdem er mehrmals rot vor Wut wurde, nicht wohl etwas gegen sie einwenden konnte. Doch der Pächter der Baude trat hinzu, um den Gendarm an ein Fernglas zu nötigen.

Dieses lange Fernrohr war draußen auf einer Felsspitze aufgestellt, und man konnte gegen Bezahlung hindurchgucken. Natürlich wälzte sich, außer daß Grenzwächter und Förster dem Wirt und Gendarm ins Freie folgten, der sensationsbedürftige Teil der Baudenbesucher hinterdrein.

Seit Wochen hatte der Pächter, unten, in dem von Menschen wenig betretenen Teil der Schneegruben, durch das Rohr einen seltsamen Menschen beobachtet, der dort ein Eremitenleben zu führen schien, und eben jetzt wieder konnte man ihn am Eingang der kleinen Schutzhütte, und zwar in Gemeinschaft mit dem böhmischen Josef, deutlich feststellen.

»Leider haben die Leute«, sagte der Förster, als sie die Vögel nicht mehr im Neste fanden, »während wir durch das Fernrohr sahen, ein zu großes Hallo gemacht, so was läßt sich der böhmische Seppel nicht zweimal sagen.«

 

Die Flucht des böhmischen Josef, dem Quint nachfolgte, dauerte stundenlang; dann aber hatten die beiden eine Hütte auf der böhmischen Seite erreicht, wo sie sich jedenfalls vor den preußischen Beamten sicher fühlen konnten. Man hatte von hier über die schönen und alten Waldbestände der böhmischen Seite hinweg einen weiten Blick nach Österreich hinein. Und so einsam war das Häuschen gelegen, daß man andere Menschenwohnungen, rings ins Gewirr der mächtigen Bergtäler eingestreut, kaum größer als Zwergenspielzeug erblicken konnte.

Die Hütte selbst, in die sie eintraten, war innen mit vielen schwarzen Pfählen gestützt: man mußte sich gleichsam wie durch den Stollen eines Schachtes hineinwinden, bevor man die Stube erreichen konnte: und diese Stube wiederum lag unter einem geborstenen Tragbalken, der so niedrig war, daß Emanuel Quint, aus den tiefen Löchern darin, das Sägemehl der Holzwürmer mit dem Haupte abstreifte. Die Sonne war untergegangen. Durch die trüben Fensterlöcher, soweit sie nicht mit Stroh verstopft oder mit Brettern vernagelt waren, drang fahles Licht.

In diesem Raum schien der böhmische Josef, obgleich er von niemand begrüßt wurde, heimisch zu sein. Er setzte im Dunkel den Schragen ab und entzündete in einer Fuge der Ofenkacheln ein Streichholz, das mit blauem Licht und scharfen Phosphordämpfen alsbald zu brodeln begann. Mit diesem Streichholz suchte und fand er dann eine Unschlittkerze, die im Hals einer Flasche stak. Langsam verbreitete sich das Licht und enthüllte ein jämmerliches Bild der Verwahrlosung, dessen Eindruck sogar der böhmische Josef abschwächen wollte, indem er sagte: es sähe ein wenig »kurios« hier aus.

Quint, der im Bereiche des Elends und der Not zu Hause war, mußte das zugeben. Schon der beklemmende, widrige Dunst von Unrat, Fäulnis und kalter Feuchtigkeit, darin man nur widerwillig atmen konnte, drängte ihn fast ins Freie zurück. In dem Augenblick, als das Docht im Unschlitt Feuer fing, hatte er vier oder fünf Mäuse hastig über den schwarzen Lehm der Diele nach allen Seiten davonlaufen sehen. Ja, es huschte bedenklich da und dort über Fensterbretter und über den Tisch hinweg, der eine Ecke der Stube ausfüllte. Josef erklärte: »Das kommt davon, wenn sie die Katzen auffressen.« Aber Quint war bereits von einem anderen schemenhaften Anblick gebannt, ohne auf das zu merken, was Josef sagte, und wußte nicht, war es Wirklichkeit, was er sah, oder nur Einbildung seiner von allen Eindrücken dieses Tages übermüdeten Seele. Es kam ihm vor, als säße am Fenster, im schwachen Mondlicht oder wie aus Mondlicht geformt, schlohweiß in der Schwärze des Raumes, ein uraltes Weib.

Quint mußte wohl, von einer tiefen Ehrfurcht berührt, irgend etwas leise geflüstert haben, denn Josef ermutigte ihn alsbald, sich ganz ohne Zwang zu betragen und laut zu reden. Er sagte, die Alte sei hundertundzehn, ja, wie manche behaupten wollten, hundertundvierzehn Jahre alt. Viele meinten, sie könne nicht sterben. Sie könne deshalb nicht sterben, weil mit ihr, zeit ihres Lebens, nicht immer alles ganz richtig gewesen sei. Er wollte sagen, sie habe gottlose Dinge getrieben mit Wettermachen und allerlei ruchloser Hexenkunst und deshalb könne sie nun, zur Strafe, die Ruhe des Todes nicht finden.

In diesem Augenblick verbreitete sich ein fremdartig wunderliches Getön durch den Raum, eine Art Gesang, der Worte enthielt, der aber so unirdisch leise und rührend schwebte, daß man nicht denken konnte, er käme aus einer Menschenbrust. Denn weder, daß irgend zarte Knaben auf eine solche Weise zu singen verstünden, noch Mädchenkehlen, noch irgend Kehlen von Sängern und Sängerinnen dieser Welt, wie sie Quint in den Kirchen der Dörfer gehört hatte, geschweige, daß sie mit einer solchen rätselvollen, stillen Gewalt eine so rätselvolle, erschütternde Wirkung hervorbrächten.

Kaum hatte Emanuels Ohr der Klang berührt, als er sich selbst und seine Umgebung sogleich vergessen hatte. Ohne Bewußtsein und willenlos angezogen, nahm er der singenden Greisin gegenüber – und niemand anders war es, der sang – mit tränenüberströmtem Antlitz Platz, aber ohne zu wissen, daß er weinte. Er blickte, als gelte es irgendein Geheimnis aus fremden Regionen zu erforschen, in die starren, großen und edlen Züge der Hundertjährigen, in ein Gesicht, das, von langen, offenen, schneeigen Locken umflossen, welk, aber durchsichtig-wächsern-zart und leuchtend wie das eines Kindes war.

Dies aber waren die schlichten Worte, die aus der gefangenen Seele der alten erhabenen Frau, ohne daß sie die schmalen, weißen Lippen auch nur irgendwie merkbar bewegte, hervorzitterten:

Mein Hemdlein ist genäht,
mein Bettlein ist gemacht.
Komm, o komm,
du letzte, lange Nacht.

Der böhmische Josef brach in lautes Gelächter aus. »Das Lied«, sagte er, »hat die alte vertrocknete Hutzel wohl schon manch liebes Mal heruntergeplärrt. Deswegen stirbt die noch lange nicht. 's gibt Sachen! 's gibt in der Welt eben so allerhand, was einer kann und der andere nicht! Die hat's verstanden! mit der war niemals gut Kirschen essen.«

Jetzt kam plötzlich mit lautem Gemecker eine Ziege von draußen durch den Flur in die Stube herein und fing an, die Greisin, die wie ein Gebilde aus Schnee im schwachen Mondstrahl des Fensters saß, mit der Schnute zu stoßen, allein die Alte rührte sich nicht. Sie hielt den Blick geradeaus gerichtet, die welken, gekrümmten Hände wie tot im Schoß, und schien mit inneren Sinnen einem anderen Bereiche der Schöpfung anzugehören, mit allen äußeren Sinnen dagegen gestorben zu sein.

»Na nu, jetzt Wirtschaft!« sagte der böhmische Josef und trat in den Flur, von wo man alsbald, wie Weltuntergang, die schadhaften Orgelpfeifen eines Leierkastens dröhnen hörte. Dies war die Art und Weise, durch die er, der immer einen gewissen Überschuß an guter Laune besaß, seine Gegenwart in der Leierbaude anzukündigen pflegte, worauf denn meistens der siebzigjährige Enkel der Greisin, der nahezu taube Leiermann, aus seinem Verschlage die Heubodenleiter herunterkletterte.

Auch heute erschien der betagte Enkel. Er glich einem riesenhaften, in schmutzige Lumpen gewickelten Turm, als er, rauhe und nur für Josef verständliche Laute ausstoßend, über die knackenden Sprossen der Leiter niederstieg. Er begann sogleich Reisig über dem Knie zu brechen, bis er ein starkes Bündel beisammen hatte, das er sogleich in die Wohnstube trug und aus dem zerlumpten, alten Militärrock, den er, wie Frauen die Schürze, vorn aufgenommen hatte, vor das Heizloch des Ofens hinfallen ließ. Dabei redete Josef in ihn hinein.

Quint, der noch immer in den Anblick der Greisin versunken war, hörte mit halbem Ohr, während die Ziege nun eifrig den Handteller seiner Linken ausleckte, wie verschiedene Namen genannt wurden: Namen von Leuten, die wahrscheinlich ihr Gewerbe, nicht anders als Josef, auf Schleichwegen ausübten, und er schloß, als nach einiger Zeit sich neue Besucher durch Fußgetrappel im Hausflur ankündigten, es möchten die von Josef namhaft gemachten Schmuggler sein.

Wirklich waren drei andere Pascher angelangt, die sich laut und lebhaft mit Josef begrüßten. Sie waren sichtlich vergnügt, nach langer, beschwerlicher Wanderung an einem sicheren Orte der Rast zu sein. Und wieder ertönte der Leierkasten des Leiermanns, der seine Stelle auf einer gerammten Bank im Hausflur hatte und dessen Kurbel von Josef aus Liebhaberei und Spaßmacherlaune aufs neue in Bewegung gesetzt worden war.

Bald darauf saßen die Schmuggler um den Tisch herum und hatten begonnen, Karten zu mischen, während die Selterflasche, mit Kornschnaps gefüllt, von einem zum andern ging, bis sie auch schließlich zu Quint gelangte, der sie, ohne zu trinken, weitergab.

Es trug ihm grobe Bemerkungen ein.

Und eine Menge solcher Bemerkungen zielte auch auf die Greisin hinüber, da die Schmuggler den Festtag zwar durch Arbeit entehrt, dafür jedoch durch reichlichen Schnapsgenuß gefeiert hatten. Sie bezeichneten sie mit rüden Worten und Schimpfereien, die sie ohne Rücksicht verlautbaren ließen. Einer der Schmuggler wollte dann wissen, wo Quint herkäme und wo er hinginge.

Ohne ihm Antwort zu geben, erhob sich der Narr und küßte der Greisin beide Hände. Gleich darauf trat er an den Enkel, der einen eisernen Topf mit Kartoffeln in die Röhre des Ofens schob, mit einigen festen Schritten nahe heran, um einige Fragen an ihn zu tun. Er wollte unter anderem wissen, wo die Lagerstätte der Greisin sei. Als das strobelköpfige Untier von Leiermann ihm ein altes, kahles Holzgestell im Winkel gezeigt hatte, brachte er mit einer wunderbar selbstverständlichen Leichtigkeit die Alte auf seinen Armen dorthin. Sie war allerdings überraschend und fast zum Erschrecken leicht gewesen. Und nun benahm sich der närrische Sonderling nicht anders als ein Samariter und Arzt von Beruf. Er trug Wasser herzu und wusch die Greisin, die unter seinen mildtätigen Händen auf eigentümliche Weise zitterte und langsam, schwer und tief zu atmen begann.

Die Spielenden mäßigten ihre Stimmen nicht, vermieden es aber, sich einzumischen.

Es war aber unter ihnen ein kleiner, bleicher und buckliger Mensch, der Schwabe hieß, ein ehemaliger Schneidergesell, der, Gott weiß wie, zu ihrem Gewerbe gekommen war. Er war meist schüchtern, bewies aber seltsamerweise den größten Mut – und das wußten die Schmuggler –, wo immer Gefahr im Verzuge war. In seinem Betragen lag etwas Drolliges, was ihm die rauhesten Herzen geneigt machte, auch war er allen und immer dermaßen zu Liebesdiensten bereit, daß er überall einen oder mehrere Steine im Brette hatte. Er war Protestant, dessenungeachtet stand er jedoch auch vor jedem der sogenannten Marterln auf der böhmischen Seite still und betete, während er beim Aufstieg bald weltliche, bald geistliche Lieder wahllos durcheinander sang. Auch hatte er sonderbare Ideen, die seine Kollegen lachen machten. Er gab ihnen Schilderungen aus der Welt, die seinem beschränkten Verstande entstammten, teils geglaubt, teils bezweifelt wurden, ihn selbst aber und seine Unterhaltung geschätzt machten.

Dieser Schwabe, der übrigens statt Karten zu spielen in einer fettdurchtränkten Zeitung geschmökert hatte, war nicht ohne Interesse dem gefolgt, was Quint unternahm, und hatte dann die Aufmerksamkeit der Genossen von den Karten ab und auf einen seiner Wunderberichte gelenkt, die seiner Suada stets zur Verfügung standen. Es sei ihm heut etwas Wunderbares begegnet, sagte er. Er wiederholte immer: »Ihr glaubt nicht daran! aber ich kann euch sagen, ich kann mit heiligen Eiden beschwören, es ist wahr.«

»Na was denn, Schneider?« fragten die andern.

»Es ist so wahr, wie ich hier in der Leierbaude sitze, daß ich heut morgen das Weib in der Klennerbaude habe Schäffer aufwaschen sehen, der Kuh Tränke in den Stall tragen und auf den Heuboden klettern, ganz wie wir.«

»Was, die Klennern? Die ist doch seit Jahr und Tag kontrakt, die kann doch von ihrem Stuhl nicht aufstehen!«

»Na ja, und heute morgen haben sie das Weib nach der Schubertbaude geschafft, und von da ist sie lustig und flink wie ein Wiesel zurückgekommen.«

Und nun erzählte er alles das, aber schon bedeutend ausgeschmückt, was sich mit Quint vor dem Hause der Schubertleute am Morgen desselben Tages ereignet hatte. Emanuel wurde in dieser Erzählung zu einer Art medizinischem Wundermann, der den Sultan und den Kaiser von Österreich zweimal vom sicheren Tode errettet und der unter einem Steine, unten in Ungarn oder wo, das Rezept zu einer Salbe gefunden habe, die ein unwiderstehliches Heilmittel sei. Das Sonderbarste war aber dieses, wie er meinte, daß der Wundermann, und zwar mitten aus der Menge heraus, mit einemmal, förmlich wie in die Luft, verschwunden sei.

»Wartet doch mal«, sagte der böhmische Josef in das Gelächter hinein, das nach den letzten Worten des Schneidergesellen sich erhoben hatte, »wir wollen uns den August da drüben jetzt mal 'n wenig von nahe besehn.

He, du dort drüben: bist du heut morgen in der Schubertbaude gewest?« wandte sich Josef an den Narren. Dieser, ganz mit der Greisin beschäftigt, nickte zur Antwort nur mit dem Kopf. Und nun wollte der böhmische Josef in einer Laune, wie sie manchmal plötzlich über ihn kam, mit den anderen Schmugglern nicht weiterspielen, wodurch, da die anderen im Verlust waren, sogleich ein großes Geschrei entstand: aber der kleine Schwarze blieb kaltblütig.

Es war ihm etwas, man wußte nicht was, durch den Sinn gefahren. Hatte ihm Quint von Anfang an einen unerklärlichen Eindruck gemacht? oder dachte er plötzlich, es wäre für einen guten Katholiken, wie er selbst einer war, eine Sünde, am ersten Pfingstfeiertage Karten zu spielen? oder ward er plötzlich von Mitleid erfaßt für die Alte, die der Tod vergessen zu haben schien? Kurz, er stand auf, er trat zu dem Narren und fing mit ihm, eigentümlich seufzend, über das traurige Dasein im allgemeinen und das der Alten im besonderen zu philosophieren an.

Wenn jemand mit einem solchen Ton in der Kehle zu Emanuel trat, so wußte er immer, daß der Acker bereitet war, und begann sogleich den Samen des Reiches auszusäen. Bei einem jeden solchen Beginn stand ihm Wort und Ton dermaßen rein und schlicht zu Gebot, daß es jedem wie immer gearteten Menschen weniger als ein Beginn denn als etwas Altvertrautes erschien. Da war irgend etwas Trennendes nicht mehr vorhanden, und das Innerste und Echteste der Menschennatur verband sich hemmungs- und hindernislos mit dem Innersten und dem Echtesten.

Da die langausgestreckt und starr daliegende alte Frau sich kalt anfühlte, trotzdem Emanuel sie mit allerlei Lumpen und seinem eigenen Schoßrock bis an das Kinn zugedeckt hatte, holte Josef einen Ziegel herbei, der im Herde gewärmt worden war: weshalb sich vom Tisch der verlassenen Spieler Spott und Hohn über ihn ergoß und noch mehr über Quint, der ihnen den Kameraden entwendet hatte. Dagegen wurde mit einemmal der böhmische Josef von seinem gefürchteten Jähzorn gepackt und stand, den Ziegel hoch in den Händen haltend, unerwartet vor den Radaulustigen, mit einer maßlosen Drohung, die bei seiner wilden Natur nicht mißzuverstehen war.

Der kleine zigeunerhaft häßliche Kerl hatte bei mancher Gelegenheit und auch in den Schenken »zum Spaß, der Lust halber« oft Proben herkulischer Kräfte abgelegt. Er hatte auch einigemal im Gefängnis gesessen, gewalttätiger Handlungen wegen, die der meist gutmütige Mensch, gereizt, in besinnungslosem Zustand verübt hatte. Jetzt rief ihn ein Wort des Narren an das Sterbelager der Greisin zurück.

Auch Schwabe verließ seinen Platz neben den Spielern und trat mit schüchtern zusammengekrochenen Schritten an das Lager heran. Es war ihm die seltsam feierliche Gewißheit aufgetaucht, daß hier der große und letzte Augenblick eines mehr als hundertjährigen Lebenskampfes endlich nahe wäre. Es schien ihm auch deshalb nicht verwunderlich, als Quint den siebzigjährigen Enkel mit lauter Stimme davon verständigte.

 

Es mußten dann aber beinahe noch acht Stunden vergehen, bevor die Greisin den letzten Atemzug ihres Lebens aushauchen konnte. Es geschah um die Zeit, wo die Sonne mit dunkelroten Strahlen gewaltig aus dem Tore des Ostens brach und das wächserne Gelb des Angesichtes mit purpurnen Tupfen färbte. Quint band das Kinn der Toten, das herabfallen wollte, mit einem blauen Sacktuch, das Schwabe darbot, fest und knüpfte das Sacktuch über dem feinen, rosigen Scheitel. Dann herrschte lautlose Stille im Raum, darein sich stumm die Helle des Morgens ausbreitete.

Die anderen Schmuggler hatten sich längst davongemacht. Quint aber saß mit Schwabe und Josef am gleichen Tische, auf den die Karten und Fäuste der Spieler dröhnend geschlagen hatten, und sprach oder las aus dem Bibelbuch. Er hatte nur wenig geschlafen und beim Anblick der alten Frau auch immer an seine eigene Mutter gedacht, die ihn nun schon seit Wochen vermissen mußte. Er hatte sich vorgestellt, wie im innersten Wesen schmerzlich das Schicksal jedweder Mutter war und wie insonderheit die Last eines langen Lebens durch Lasten schwerer gemacht wurde, die eine letzte Vereinsamung in sich schließt. Der böhmische Josef hatte, als Findling, Vater und Mutter niemals gekannt. Schwabe war von seinem siebenten Jahre an ausschließlich in der Hut seiner Mutter gewesen und hatte im vierzehnten Jahre einmal in Begleitung der Mutter einen Menschen besucht, der im Gefängnis einer großen Stadt hinter Schloß und Riegel gehalten wurde und der, wie man sagte, sein Vater war. Einigermaßen aufgewühlt, einander nahe durch verwandte Erinnerungen, hatte sich über die drei ein ernster Geist der Einkehr gesenkt, der sie zu ernsten Gesprächen veranlaßte.

»Warum haben Sie«, fragte Josef Emanuel, und wagte es nun nicht mehr, ihn mit du anzureden, »warum haben Sie, nachdem die Alte gestorben war, am Fenster gestanden und haben lange für sich geweint? Sind Sie etwa verwandt mit der Alten?« – »Weil das Leben«, gab der Gefragte zurück, »für die meisten ein unsäglich schweres, schmerzliches Schicksal ist!« Danach fuhr er fort, von den Finsternissen der armen nachtbefangenen Erde zu reden, und sprach davon, wie der Geist der Gestorbenen unzweifelhaft nach den Läuterungen des Lebens – denn Leben sei immer Läuterung! – zu Formen reineren Lebens verklärt worden sei. Und als sie dies nicht zu verstehen schienen, las ihnen Emanuel aus der ersten Epistel St. Pauli an die Korinther das zweite Kapitel vor:

»Und ich, lieben Brüder, da ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten oder hoher Weisheit, euch zu verkündigen die göttliche Predigt.

Denn ich hielt mich nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, ohne allein Jesum Christum, den Gekreuzigten.

Und ich war bei euch mit Schwachheit und mit Furcht und mit großem Zittern.

Und mein Wort und meine Predigt war nicht in vernünftigen Reden menschlicher Weisheit, sondern in Beweisung des Geistes und der Kraft.

Auf daß euer Glaube bestehe nicht auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft.

Da wir aber von reden, das ist dennoch Weisheit bei den Vollkommenen; nicht eine Weisheit dieser Welt, auch nicht der Obersten dieser Welt, welche vergehen;

Sondern wir reden von der heimlichen, verborgenen Weisheit Gottes, welche Gott verordnet hat vor der Welt zu unsrer Herrlichkeit,

Welche keiner von den Obersten dieser Welt erkannt hat; denn wo sie die erkannt hätten, hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt,

Sondern wie geschrieben stehet: Das kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehöret hat . . .«

Diese Worte, die ohne Pathos gelesen wurden, erregten ganz anders, als von der Kanzel herab zu geschehen pflegt, die Wißbegierde der Zuhörer. Als Menschen immer und von Natur auf die Offenbarung von etwas Verborgenem gerichtet, hofften sie durch Emanuel zugleich ihn selbst und die Schrift erklärt zu sehen, die so rätselvolle Dinge andeutete. Emanuel hatte dagegen die Bibelstelle gewählt in der Meinung, sie werde für ihn sprechen, und zwar ebensowohl für das, was er sagte, als was er verschwieg, aber er hatte damit nur erreicht, daß ihn die beiden Hörer geradezu nach dem Geheimnis fragten, von dem sie, zwar nur halb und halb überzeugt, vermuteten, es wäre die wunderbare Kraft, die am rechten Ort zu heilen und zu töten verstand.

Somit war er gezwungen zu sagen, er wäre aus freiem Antrieb ein Träger des Evangelii. Er habe als Kind die Taufe derer empfangen, die tote und laue Scheinchristen wären, später die Wassertaufe Johannes des Täufers und endlich die durch den Heiligen Geist: und diese, die letzte, schließe das Geheimnis des Reiches ein.

»Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi«, fuhr er fort, »sei mit uns allen! Amen.« –

Nachdem er diese Worte gesagt hatte, stand er auf und war im Begriff davonzugehen, als eine schlichte, saubergekleidete Frau, die Frau des Lehrers aus der Schule einer nahegelegenen, ärmlichen Berggemeinde, ins Zimmer trat. Sie sah, daß die Greisin gestorben war, der sie in Übung jahrelanger Mildtätigkeit täglich Suppe zu schicken oder selbst zu bringen pflegte. Und als sich ihr die volle Erkenntnis mitgeteilt hatte, wie ihr schwacher Versuch zur Mildtätigkeit nun von einer stärkeren Hand überboten worden war, versank sie merklich ergriffen in Stillschweigen.

 


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