Gerhart Hauptmann
Der Narr in Christo Emanuel Quint
Gerhart Hauptmann

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Viertes Kapitel

Eines Tages standen vor Emanuel Quint die Brüder Scharf. Sie hatten seit Wochen nach ihm gesucht, und es war den zuckenden Mienen ihrer bärtigen Angesichter abzumerken, was es für sie bedeutete, ihn endlich entdeckt zu haben. Auch der Narr war gemäß der neuen Verfassung seines Innern froh, sie wiederzusehen, und entschloß sich alsbald, mit ihnen die Herberge aufzusuchen, eine entlegene Baude, darin sie schon mehrere Tage genächtigt hatten.

Die Brüder hatten ihn gleich erkannt, trotzdem sein Bart und Haupthaar ein wenig verwildert waren, und wie sie nun, immer voll Demut, hinter ihm dreinschritten, gegen die Herberge hin, strahlte die Freude immer stärker und stärker aus ihren Blicken hervor, indessen sie seine Fragen beantworteten.

Sie berichteten Quint zuvörderst, daß ihnen vor mehr als drei Wochen der Vater gestorben war. Der Alte war selig in Gott entschlafen, im Glauben an Jesum und an die Gewißheit der Auferstehung. Sie hatten darauf ihre Wirtschaft verkauft, um nicht an die Scholle ferner gebunden zu sein und ganz den Spuren des Narren zu folgen.

Sie hatten um dieser Absicht willen, die nicht verborgen geblieben war, viel Spott und Hohn zu erdulden gehabt; denn weil eine Anzahl gläubiger Christen der Umgegend wunderbarliche Dinge über das Erscheinen und das Verschwinden Emanuel Quints geweissagt hatten, so ward eine überwiegende Menge zu Haß und Verachtung angereizt, und kaum fehlte viel zur Wut der Verfolgung.

Ein sozialistischer Agitator, Kurowski, hatte die Brüder Scharf besucht, und als er von ihrer Absicht hörte, hatte er sie davor gewarnt. Aber sie waren festgeblieben. Auf seine Behauptung hin, daß Quint, wahrscheinlich auf Nimmerwiedersehn, vielleicht über die Grenze entschwunden sei und daß sie ihn schwerlich finden würden, hatten sie ihren Glauben betont und den gewissen Geist ihrer Herzen.

Darauf hatte Kurowski ihnen mit vieler Umständlichkeit etwa dies auseinandergesetzt, was sie nun wiederholen mußten, da Quinten das Verhalten des Agitators und Redakteurs besonders zu interessieren schien.

»Ihr werdet durch euren guten Glauben irregeführt. Dieser Schwärmer, der ohne Zweifel in edler Absicht handelte, als er in der Stadt seine Kapuzinerpredigt hielt, betrügt euch doch. Er betrügt euch, wie er sich selbst betrügt. Warum? Er fußt auf dem Grunde der Unbildung! Wenn dieser Schwärmer gebildet wäre, was er nicht ist, weil die Verruchtheit der herrschenden Klasse die allgemeine Bildung verhindert, so könnte er Ungeheures leisten. Es gibt eine neue soziale Wissenschaft; und wer nicht auf diese, sondern auf alte törichte Märchen baut, der baut auf Sand. Das größeste Mitleid hilft uns nichts. Das tiefste Mitleid bringt uns nicht weiter. Es gibt einen Götzen, das Kapital, und solange man diesen nicht zertrümmert, hilft alle Güte und Mitleid nicht.«

Einer der Brüder zog aus dem ehrbaren, langgeschößten Rock, den er anhatte, ein Schriftchen hervor, das ihm der Agitator geschenkt hatte: Das Kommunistische Manifest. Und Emanuel las das »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Doch er achtete dieses Anrufs nicht. Er bat die Brüder, ihm mehr zu berichten.

Als der Kreisarzt gekommen war, der den Totenschein für den alten Scharf hatte ausstellen müssen, kam zugleich eine alte Frau in das Zimmer herein, halbblind, die sich nach Quint, als sei er ein Wunderdoktor gewesen, erkundigte. Da hatte der Arzt etwa dieses gesagt:

»Daß ihr armen, törichten, ungebildeten Leute doch immer wieder solchen Scharlatanen zum Opfer fallt! diesen Meuchelmördern und Giftmischern, die nichts weiter im Sinne tragen, als euch den letzten kupfernen Pfennig aus der Tasche zu ziehen und eure Leiden zu verschlimmern. Es gibt kein triefäugiges und besoffenes altes Weib, dem ihr nicht alsogleich eure Gesundheit zum Opfer bringt, wenn es ihr einfällt, euch mit irgendeinem noch so albernen dreisten Versprechen anzuschwindeln. Habt ihr denn keine Ahnung davon: es gibt eine ärztliche Wissenschaft! eine ärztliche Kunst! und die muß man gelernt haben. Angeboren ist sie uns nicht! Wenn ihr meinem Rat folgen wollt, guten Leute, so haltet euch jeden abgefeimten Halunken, Pflasterschmierer, Harnbeschauer und Wundertäter vom Hals! Sie saugen euch Leib, Seele und Geldbeutel aus wie die Blutegel. Und dieser Quint ist ein kranker Hanswurst, und sollte er nochmals hier bei euch auftauchen, so verständigt mich nur unter der Hand davon, und wir stecken ihn einfach ins Irrenhaus.«

Die Mutter Quints war ebenfalls, und zwar zu wiederholten Malen, bei den Brüdern gewesen und hatte nach ihrem Sohne gefragt. Sie war zuletzt heftig und dringend geworden in der bestimmten Meinung, die Brüder verheimlichten ihr seinen Aufenthalt. Sie habe geweint, erzählten sie und waren davon überzeugt, sie werde nicht nachlassen, bis sie ihn finde. Ihre Rede sei immer gewesen, Emanuel wolle zu hoch hinaus. Gerade ihm, wie keinem andern der Brüder, hätte es obgelegen, durch schlichten Fleiß und Verträglichkeit der Familie aufzuhelfen, den Zorn des Stiefvaters zu besänftigen, dessen Leiden ein Milderungsgrund bei Betrachtung seiner meist üblen Laune sei. Sie hatte Emanuel nicht geschont und erregt und entrüstet, wie sie war, ihm Dutzende bitterer Namen gegeben. Wie nun der stets zur Erregung geneigte Anton Scharf diese mit starker Entrüstung aufzählte, wurde er plötzlich von Quint gefragt: »Was glaubt denn ihr, du und der Bruder, wer ich sei?«

Die Brüder schwiegen und sahen einander an. Es lag aber in den Blicken der beiden ausgemergelten Schwärmer, die durch Arbeit, Nachtwachen am Bett des Vaters und die glühende Sehnsucht ihrer Herzen überreizt waren, ein seltsam entschlossener Glanz, vor dem Quint erschrak. Es war ihm zumut, als müßte er ein noch unausgesprochenes Wort auf den Lippen der Brüder zurückhalten: ein Wort, vor dessen verwirrender Macht er Furcht empfand und das zu vernehmen wiederum doch seine Seele hungerte.

Es hatte sich aber in den Brüdern Scharf eine Überzeugung festgenistet und war durch dasjenige, was sie von Nathanael Schwarz vernommen hatten, noch bestärkt worden: eine törichte Überzeugung, die aber eine unerhörte Empfindung von Glück in den beiden lebendig hielt, einen seligen Wahnsinn, wie er sich nur in dem engen, von der Welt geschiedenen Bezirke ihrer Kindereinfalt entwickeln konnte. Sie sagten: »Wir wissen, daß du der Gesalbte des Vaters bist.«

Es muß zur Ehre des Narren gesagt werden, daß er, kaum seines Entsetzens Meister geworden, die Brüder mit heftigen Worten strafte und den Versuch machte, ihnen die schreckliche Absurdität einer solchen Behauptung vorzustellen. Auch gebot er den Brüdern Scharf, ihre Meinung durchaus geheimzuhalten.

Allein diese beiden fanden sich durch die drohende Kraft seiner Worte und durch sein blitzendes Auge in ihrer Meinung durchaus nicht erschüttert, sondern bestärkt, obgleich sie mit ganzer Seele zum Gehorsam geneigt waren und dies mit dem Ausdruck wahrhaft hündischer Treue und Demut kundgaben. Schweigend gingen sie lange in der scharfen und klaren Luft des Gebirgskammes neben ihrem kläglichen Herrn und Meister her, bis alle eines entlegenen Häuschens ansichtig wurden, das mit tief heruntergezogenem Schindeldach auf einer verlassenen, von Steinblöcken übersäeten Berghalde stand.

 

Der Eintritt in diese Hütte, darin die Brüder vor einigen Tagen Quartier gesucht und gefunden hatten, würde für solche Menschen, die nicht gewohnt sind, irdischem Jammer und irdischer Not ins Auge zu sehen, eine grauenvolle Überraschung gewesen sein, denn wenn man den kleinen nach Ziegendünger riechenden Hausflur durchschritten hatte, betrat man ein niedriges, ziemlich geräumiges, schwarzes Gemach, dessen schmutzig-bräunliches Dämmerlicht die Gestalten darin zu Schemen machte und dessen übelriechender Dunst den Atem benahm. Und wenn man sich dann, gewöhnt an die Dunkelheit, von allem, was dieses Zimmer barg, unterrichtet hatte, so konnte man Menschen in einem ungewöhnlichen Grade von Armut und irdischem Elende sehen.

Selbst Emanuel und die Brüder Scharf, die in ihrem Leben nichts anderes kennengelernt hatten als die ärgste Bedürftigkeit, denen ein Pfennig immer so viel und mehr als anderen Leuten ein Goldstück gewesen war, zeigten sich von dem, was sie sahen, auf eigentümliche Weise bewegt.

Zunächst hob sich ein älterer Mann, mit buschigem Bart und Haupthaar, von einem leeren, wurmzerfressenen Webstuhl heraus und kam, die Füße in Lumpen gehüllt, den Fremden lautlosen Schrittes entgegen. Dieser Mensch, der als alter Soldat an der ausgeblichenen, ehemals bunten Mütze, die er auch hier im Zimmer trug, zu erkennen war, beugte sich, nachdem er ihn mit beinahe erschrockenen Augen gemustert hatte, auf des Narren Hand. Als er sich danach wieder emporgerichtet, traf sein Blick in die leuchtenden Augen der Brüder Scharf und erkannte darin den Ausdruck eines verzückten Triumphes, aus dem ohne Mühe, mit Bezug auf Emanuel Quint, zu lesen war: Dieser ist es, den wir gesucht haben.

Quint merkte, er war erwartet worden, und dieses eigentümliche Erwartetsein, wohin er auch immer kam, bestärkte ihn auch hier in der närrischen Annahme, als ob die Welt seiner ganz besonders bedürfe und als wäre sein Wandel auf Erden eine göttliche Mission.

Er wurde an ein Lager geführt. Es war eine Bettstatt, mit Stroh bedeckt, deren Umrisse man im kellerartigen Dunkel nicht gleich unterschied. Doch als das Stroh zu rascheln begann, erkannte Emanuel einen nackten, mit Lumpen unzulänglich bedeckten, abgezehrten menschlichen Leib und weiter ein Haupt, das Haupt eines noch jungen blonden Weibes, das sich mit stierem, angstvollem Blick ihm entgegenhob. Und ohne zu fragen, wer Quint wäre oder aus welchem Grund er gekommen sei, fing sie sogleich mit lauter, herzzerreißender Stimme zu klagen an.

Sie lag seit Wochen hilflos und krank auf dem Stroh und konnte nicht arbeiten. Sie hatte vor einem halben Jahr, in einer stürmischen Herbstnacht, ein Kind geboren, das, in einen hölzernen Trog gebettet, neben ihr an der Erde lag. Sie wies auf das Kind, als Emanuel ihr mit wenigen, tiefbewegten Worten sein Mitleid zu erkennen gab, mit einer Gebärde grenzenloser Verzweiflung hin und gab zu erkennen, wo der Gegenstand ihres eigentlichen und letzten Jammers wäre.

Und wie sich nun das weiße und sommersprossige Antlitz des Narren über das schlafende Kind in dem hölzernen Troge herunterbog, sahen die Brüder, wie sich sein Auge mit Tränen füllte. Und wirklich erkannte Quint sogleich, daß jenes ausgemergelte, nackte Weib auf dem Stroh die Wahrheit gesprochen hatte; denn dieses schwer und fieberhaft atmende arme Kind war über und über mit einem einzigen widerlichen und schrecklichen Schorf bedeckt, so zwar, daß man kaum zu glauben vermochte, wie es trotzdem noch am Leben war.

Der bärtige Mann und Familienvater sagte nichts, aber man konnte ihm anmerken, daß er ein Bewußtsein, und zwar ein fast feierliches Bewußtsein, in sich trug, von Gott einer auserlesen furchtbaren Prüfung gewürdigt worden zu sein. War doch sein linker Arm durch Gicht verkrüppelt, die er sich in den Feldzügen 1866 und 1870 geholt hatte, und saß doch ein vierzehnjähriges blondes Mädchen, schmal und großäugig, an einer Garnspule hinter ihm, mit hohlen Wangen und hektischen Tupfen. Er wußte, seine morsche Hütte, von Menschen gemieden und vom Glück, war eine Lieblingsherberge für allerlei Krankheiten, Kummer und Not, die der Tod alljährlich besucht hatte, um einmal den Vater, einmal die Mutter, fünfmal je eines seiner Kinder mitzunehmen auf den kleinen Friedhof unten bei der Kirche im Tal.

All dieser Ernst, all dieses strenge und nackte Elend versetzte Quintens ganzes Wesen in süße, heimlich-hoffnungsfreudige Schwingungen, die auf einem Himmelsinstinkt zu beruhen schienen, wonach der tiefsten Not die Hilfe Gottes am nächsten sei: dies Wort in keinem irdischen, sondern in einem tiefen, mystischen Sinne genommen. Im Leid, im Mitleid, in der Liebe offenbarte sich Gott. Er schien unter diesen bangen und qualvollen Pulsen nur kaum wie unter letzten dünnen Schleiern verborgen zu sein. Oft stieg dann vor Quint, sich aus dem Dunste der Martern gleichsam formend, das schwebende Haupt des Erlösers hervor, mit der Krone aus Stacheln über der Stirn, von denen langsam Tropfen um Tropfen des heiligen Blutes über die Augen des Schmerzensmannes herunterrann.

Es war nun, als wenn immer dort, wo Quint im Bereich des Kummers erschien, sich sogleich dieser heimlich-hoffnungsheitere Zustand seiner Seele auf alle verbreitete, wodurch dann jeglicher arme Schacher sein Nahen als eine Wohltat empfand, sein Scheiden wie etwas Schreckliches fürchtete. Die Art der Erregung jedoch, von der die drei Bewohner der kleinen Baude befallen waren und die von den Brüdern Scharf geteilt wurde, war mehr als das Wohlgefallen an menschlicher Güte und menschlichem Trost. Quint fühlte die Augen des Mannes, die Augen der Frau, die Augen des vierzehnjährigen Mädchens mit einem hungrig-fragenden Glanze auf sich ruhen, er sah ein seltsames Beben der Hände, wie wenn Zweifel und Glaube, unter sich ringend, dennoch bereits die Gegenwart eines ersehnten Wunders nahe empfänden. Er bemerkte dies wohl, und da er, was er mit kühlen Sinnen beobachtete, mit dem überspannten Ausdruck und Ausruf der Brüder zusammenhielt, der ihn noch eben überrascht und betroffen gemacht hatte, gestand er sich ein, daß ohne sein Zutun hier die Einfalt, die Angst und die Lebensnot sich in sündliche Einbildungen unglaublichster Art verstiegen hatten.

Diese armen, unwissenden Menschen, sagte er sich, halten mich am Ende in ihrem Fieberwahn wahrhaftig und wirklich für Jesum Christum, Gottes Sohn, aber anstatt nun gleich wiederum das zu tun, was er schon einmal vergeblich getan hatte, anstatt zu versuchen, den krankhaften Irrtum sogleich mit der Wurzel auszutilgen, schob er es auf und ließ es zunächst dabei bewenden. Ja, es schlug aus diesem Irrtum etwas zurück in ihn, was ihn hilflos in das gleiche innere und auch äußere Beben versetzte, das er im Kreise des Elends wahrnahm, dahin er zu Gaste kam.

 

Die Brüder Scharf, der ausgehungerte Veteran, der Schubert hieß, und Martha, die vierzehnjährige Tochter, dienten ihm, das heißt, sie verständigten sich mit Blicken und holten dann, nicht ohne besondere Wichtigkeit, einige Vorräte aus dem Kellergelaß der Hütte herauf, die mit den Pfennigen der Gebrüder Scharf gekauft worden waren. Martha, die Reisig zusammengelesen hatte, füllte das Loch des Ofens damit, wo es lustig erwärmend aufprasselte. Sie holte kaltes Gebirgswasser, in einer Topfscherbe, von draußen herein und stellte Kartoffeln ans Feuer, ein außergewöhnliches Festmahl für die Familie, die sich gewöhnlich mit einer Brühe aus Schalen begnügen mußte.

Es war aber noch etwas Köstlicheres im Keller der Hütte verborgen gewesen: nämlich Wein. Die Brüder hatten ihn von einem zigeunerhaft häßlichen Menschen gekauft, ohne zu wissen, daß jener ihn von Böhmen nach Preußen herüberschmuggelte: und dieser Wein, eine Flasche voll, ward nun ebenfalls auf den Tisch gestellt.

Emanuel Quint beachtete alle diese Vorbereitungen für ein schwelgerisches Gastmahl nicht. Er hatte einen Schemel ans Bett des kranken Weibes gerückt und saß nun, ruhig gebeugten Hauptes, leisen Tones auf sie einredend. Es war keine Spur von Scham, ihrer nahezu völligen Nacktheit wegen, in ihr. Der Mangel, vergebliches Ringen mit dem Elend, Jahr um Jahr, hatte jene Luxusempfindung vollständig in ihr abgetötet. Emanuel Quint, der kinderreiche Familien kannte, die, um Kleider zu sparen oder weil sie nur einige, von dem oder jenem abwechselnd zu benutzende Lumpen hatten, nackt im Hause umhergingen, – Emanuel Quint war angesichts dieses Weibes doch von einer Empfindung gestreift, die bewirkte, daß er soviel wie möglich vermied, sie anzublicken.

Oft hörte er gar nicht, was sie sprach, sondern lag im Kampfe mit inneren Regungen, solchen, deren er glaubte in den letzten Wochen Herr geworden zu sein. Dann kam es ihm vor, als ob dieses Weib, dessen Antlitz so abgezehrt war, daß sie die schmalen Lippen über den Zähnen nicht schließen konnte, im üppigen Schmucke ihres aufgelösten, rötlich barbarischen Haarschwalls, trotz ihres grausigen Elends, verlockend sei. Er schämte sich bitter seiner Gedanken. Aber der makellose Glanz ihrer runden und schmächtigen Schulter, dem sein Auge nicht wohl entgehen konnte, sowie der Perlmuttschimmer des Körpers aus dem Stroh hervor, der die umgebende Dürftigkeit zu verhöhnen schien, machte ihn immer wieder unsicher. Er liebte das Weib. Er liebte sie, weil er wie eine immer blutende Wunde das Leiden des Mitempfindens in sich trug, weil jener im Kampf der Menschen untereinander alles beherrschende Haß in des Narren Brust keine Stätte hatte und also Menschenhaß durch Menschenliebe ersetzt worden war. Aber wie im Raum eines Schiffes die Waren voneinander getrennt liegen, die es über die Meere trägt, in besonderen Räumen, durch Wände geschieden, und wie sie bei Sturm zuweilen durch die Wände, eins ins Bereich des anderen, durchbrechen, so trat auch jetzt in der Seele Quints etwas Ähnliches ein. Nämlich wenn wir mit anderen Menschen die Unterscheidung zwischen himmlischer Liebe und irdischer machen, so müssen wir sagen, daß die irdische Liebe des Narren heimlich in das rein getrennte Gebiet der himmlischen brach, wenngleich es ihm schien, als wäre dadurch diese himmlische erst recht zu ihren Himmeln gesteigert worden.

Das arme Weib erging sich in Anklagen, und zwar, was für Emanuel bitter zu hören war, nicht gegen Menschen, sondern vielmehr gegen Gott. Sie erzählte teilweise ihre Lebensgeschichte, das heißt nichts anderes als die Geschichte ihrer ununterbrochenen Lebensnot, und dem armen Narren schoß der Gedanke durch den Kopf: wie sie denn überhaupt von einem anderen Zustand, einem glücklichen, etwas wissen und daran verzweifeln könne. Sie hatte als Kind die furchtbaren Quälereien einer dem Trunk ergebenen Mutter zu dulden gehabt und, oft unter übermäßiger Arbeit zusammenbrechend, Dinge mit angesehen, die ihre Erinnerungen dermaßen vergifteten, wie sie vorzeiten die Kräfte ihres Verstandes unterwühlt hatten. Jegliches Unflätige, jegliches Viehische hatten Mutter und Vater von ihr verlangt und wie Kröten vor ihren Augen verrichtet. Die Mutter blieb endlich, zum Glück der Tochter, auf Bettel und Trunk immer länger und länger aus, so daß nun wenigstens wochenlang Ruhe herrschte und die Wände der engen, verfallenen Hütte nicht mehr von Gezänken widerhallten und von wildester Schlägerei.

Inzwischen aber war der Vater zum Liegen gekommen, wie man sagt, und vermochte nicht mehr mit seinem Leierkasten auf den Kammweg hinauszugehen, wo die fremden Touristen vorüberstrichen, und damit ward dem Mangel die Haustür erst recht aufgetan, und der nagende Hunger war neben der Krankheit ein ständiger Einlieger geworden. Pflege des Vaters, Ernährung seiner und der Geschwister hatten von da ab auf ihren Schultern gelegen, den Schultern der Elfjährigen, bis eines Tages nach vielen Martern der Vater kalt, im Lichte der Wintersonne, auf seiner vermoderten Strohschütte lag.

Nun waren die Flüche verstummt, mit denen die Seele des Alten sich immer wieder entlud und die das Kind zu rastloser Arbeit gepeitscht und in der Hölle gebunden hatten; aber jetzt tauchte die Mutter auf, das heißt, sie erschien im Wahnsinn der Trunkenheit nachts vor der Hütte, Einlaß und Geld fordernd.

Zitternd öffnete ihr das Kind.

Die betrunkene Frau erkannte den Tod im Antlitz des Abgeschiedenen nicht. In deliranten Wahnvorstellungen befangen, nahte sie ihm, verspottete ihn und beschimpfte ihn. Sie geriet in immer steigende Wut hinein und vergriff sich am Ende rasenderweise an dem Leichnam, sein Antlitz durch Backenstreiche entwürdigend. Schließlich fiel sie, rot und gedunsen, Schnapsdunst um sich verbreitend, neben dem Toten aufs Lager hin, wo sie bewußtlos liegenblieb, die Nacht bis zum späten Morgen durchschnarchend.

 

Immer eifriger legte das Weib, unter mühsamen Atemstößen, vor Quint ihre Beichte ab, wozu das Stroh ihrer Bettstatt, auf dem sie sich unruhig hin und her wälzte, gleichmäßig knisterte. Es kamen ihre Leiden als Jungfrau und Weib. Es kamen die Leiden des Gebärens, des letzten Kindbetts, vor kaum einem halben Jahr, von dem sie sich, in Wochen vernachlässigt, bis jetzt nicht wieder erhoben hatte. Und immer klang ihre Frage: warum? warum alle diese Leiden auf sie gehäuft wären? Es hieße doch, meinte sie, daß ein gütiger Gott im Himmel sei.

Ob es denn wahr wäre, fragte sie weiter, was ihr Mann zu erzählen nicht müde werde: nämlich, daß der Heiland noch einmal erscheinen wolle in der Welt und tausend Jahr darin eitel Glück und Freude verbreiten? Sie glaube es nicht. Sie habe, sprach sie, zu oft immer wieder geglaubt und sei doch immer betrogen worden. Es käme ihr vor, als ob das Gerede von Glaubensollen und Besserwerden nichts als Lüge sei. Schubert, der Mann, trat nahe herzu, um ihr mit wenigen, ernsten Worten die Sünde des Unglaubens zu verweisen.

Wie gerne hätte nun Quint dem armen blutflüssigen Weibe gesagt: stehe auf und wandle! oder auch nur: trage das Joch, das ich dir auflege, mein Joch ist sanft, meine Last ist leicht. Aber in seinem Innern herrschte diese Überzeugung längst nicht mehr. Schon vor seiner ersten Narrenpredigt auf dem Markte zu Reichenbach hatte ihm bereits der Heiland der Bergpredigt vorgeschwebt, und: nehmt euer Kreuz auf euch! war ihm die Losung gewesen. Freilich begriff er damals diese Losung noch nicht, wie er sie später verstehen lernte.

Wie hätte Quint diesem unter der Rute der Trübsal ächzenden Weibe das »Nimm dein Kreuz auf dich!« predigen sollen? ihr, deren hungrige Augen, zu ihren Worten in Widerspruch, allen Sättigungen des himmlischen Paradieses entgegenflehten. Wie konnte er dieser Armen sagen, was er sich selbst immer zurief: verleugne dich selbst! oder: dein Leiden ist Lohn! hoffe keinen anderen! der Lohnsüchtige ist eben der Mensch in der Welt, der alles Böse immer wieder hervorbringt! der Lohnsüchtige ist des Menschen Wolf! sei du der Wolf nicht, den der Böse in die Hürden der Menschheit losläßt! sei das Lamm! sei Gotteslamm! sei das geduldige Schaf unter den Händen des Scherers und des Schlächters? – Nein, alles dieses behielt er für sich, und er konnte nicht anders, als ihre Hoffnung auf einen gerechten Ausgleich, einen himmlischen, jenseitigen, anzufachen und aufzunähren.

Während des Essens blieb der Narr stumm und in sich gekehrt. Dieses Weib, so erwog er bei sich, wird das irdische Paradies der Zukunft nicht sehn. Keiner von uns. Wir haben uns hinzugeben ohne Hoffnung auf Anteil, als Beispiele, als aufopfernde Bauleute einer Kirche, die wir selbst nicht betreten werden. Nicht für Gott, dachte Quint weiter, mich zu opfern, treibt mich der Durst! sondern mit Gott und in Gott, nach Jesu Beispiel, für den Menschen! Der Mensch, des Menschen Sohn, er ist es allein, dem meine irdischen Kräfte, ohne Rückhalt, in Liebe sich darbieten.

Aber die Brüder Scharf und der Weber Schubert ahnten von solchen Betrachtungen nichts. Diese beschränkten und armen Menschen lebten innerlich ganz in ihrem festen, gläubigen Wahn, der wie jedweder Wahn für den Nüchterndenkenden schwer zu begreifen ist. Es kommt von Zeit zu Zeit über die alte Welt ein Verjüngungsgefühl, verbunden mit einem neuen oder erneuten Glauben, und gerade zu jener Zeit, um das Jahr neunzig verwichenen Säkulums, schwamm neuer Glaube und Frühlingsgefühl in der deutschen Luft. Es war ein Rausch, dessen Ursachen vielfältig waren und späterhin zu erörtern sind. Genug, zu wissen, daß dieser Rausch bis in die entlegensten Winkel des Landes drang und, ich möchte fast sagen, das Blut der Menschen blühen machte – und daß er auch unvermerkt die Brüder Scharf mehr und mehr vom Boden der nüchternen Wirklichkeit entfernen half.

Der ungeheure Wahn, als die ersten der Gemeinschaft mit Gott, bei seiner Wiederkunft in die Welt, gewürdigt zu sein, erfüllte ihr waches Leben, gleichwie ihre nächtlichen Träume, mit einer schwer zu bemeisternden Trunkenheit. Während sie nun aber aßen und tranken, konnten sie dies gebändigte Glück nicht ferner in seinen Fesseln zurückhalten, und es tat sich, trotz der Gegenwart Quints, hervor in Selbstgerechtigkeit und in Übermut.

In ihren Reden, die sie mit heiseren, immerhin noch gedämpften Stimmen vorbrachten, war nicht die Erlösung aller das Wichtige, sondern vielmehr die Verfluchung der Schlechten, das Gericht! nicht so das Verzeihen als die Rache! nicht so das Leiden um Jesu willen als um des erduldeten Leidens willen der Lohn. Mit Schrecken gestand sich Quint, wie weit diese, seine einstweilen treuesten Jünger, vom Reiche Gottes, wie er es ersehnte, entfernt seien.

Die Nähe des Tausendjährigen Reichs, das die Erde zum Paradiese umwandeln sollte, beschäftigte sie, und es war zu merken, daß sie auf neue Leiden vor dem Eintritt des Millenniums der Glückseligkeit nicht mehr rechneten. Zwar spukte die Offenbarung Sankt Johannis mit allen ihren Schrecken in ihnen, aber sie waren ja ihrer Meinung nach unmittelbar in des Heilands Schutz. Sie stellten sich vor, wie dieser zur Rechten des Vaters herniederfahrend Gerichtstag hielt und wie er die Schafe von den Böcken absonderte, und es befreite sich ihre Wut gegen alle jene Mächte der Zeit, die sie für gottlos hielten und denen sie die ganze ungeheuere Summe des Erdenjammers ins Schuldbuch schrieben.

In dieser Beziehung dachten sie an das Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus und wie dieser endlich im Himmel lustwandelte, während der reiche Mann im russisch-türkischen Bade der Hölle durstete. Daß jenen durstete, tat ihnen wohl. Und wie der Wein und die Speisen sie anregten, stießen sie nach und nach eine nicht geringe Anzahl ihrer Mitmenschen: den Müller des Dorfes, in dem sie gelebt hatten, den Pfarrer, den Barchenthändler, für den sie am Webstuhl geschwitzt hatten, und manchen anderen lieben Nächsten zu dem gepeinigten Reichen in die ewige Flamme der Hölle hinab.

Quint dachte daran, die Scharfs mit harten Worten zu strafen. Er besann sich jedoch und erwog, wie weit, seit der Trennung von ihnen, die Kluft zwischen ihnen und ihm geworden war. Er hielt sich zurück und dachte, daß diese Menschen, obschon erwachsen, in einem gewissen Sinne doch Kinder wären, die man von Stufe zu Stufe zur Wahrheit hinanführen müsse, sollten sie anders fähig werden, sie zu begreifen. Überdies: wir wollen es rund heraus sagen, Quint grauste ein wenig vor seiner eigenen neuen Wahrheit. Er fürchtete sich. Sie frei zu bekennen, war nicht ganz in ihm der volle sichere Mut vorhanden.

Und plötzlich, er wußte kaum wie und warum, fing der Narr vom »Geheimnis des Reiches Gottes« zu reden an, hiermit unwillkürlich einen Ausdruck des Heilands aufgreifend. Mit sorglicher Schonung des Jüngerwahns machte er dadurch ihre das nahende Reich betreffenden Meinungen und Erwartungen unsicher, so daß die Männer schließlich verdutzt zurückblieben, als Quint sich erhob und auf den leeren Dachboden der Hütte zur Ruhe ging.

 

Emanuel hatte nur wenig geschlafen, als er wieder erwachte, mit dem kleinen Bibelbuch in der Hand in den Mondschein des Dachfensters trat und mühsam Bibelstellen entzifferte. Dann ging er ruhelos langsam auf und ab, der ganzen Länge des Dachfirstes nach, dem Geheimnis des Gottesreiches nachgrübelnd. Plötzlich drang aus dem unteren Zimmer Geschrei herauf, und gleich darauf knarrte die Stiege heftig. Anton Scharf, der im Hausflur geschlafen hatte, erschien und bat inständig, Quint möge herabkommen.

Als Quint in das untere Zimmer trat, schrie der Säugling in seinem Troge laut. Die Frau auf der Strohschütte rang ihm beide Arme entgegen, heftig weinend und Hilfe erbittend. Der alte Schubert, der im Webstuhl saß, hielt etwas in seinen Armen fest, das sich in konvulsivischen Windungen regte. Martin Scharf stand ratlos dabei, einen qualmenden Lichtstumpf in der Hand.

»Sie hat wieder ihren Krämpfeanfall bekommen«, sagte der ältere Scharf. Nun erkannte Quint, daß es die vierzehnjährige Martha war. Er nahm das Licht aus den Händen Scharfs. Sobald der Schein ihr entsetzlich verzerrtes Antlitz nahe berührte, fauchte und sprudelte sie wie eine Katze danach. Aber sie wachte nicht auf, sondern verharrte durchaus in Bewußtlosigkeit, und alle erschraken, als unerwartet ein wildes, tierisches Heulen aus ihrer nackten und schmalen Brust erscholl, wild und dem eines Hundes nicht unähnlich, und als sie darauf mit rasender Überstürzung Gott, den Heiland und alle Engel zu verfluchen begann.

Quint fühlte, was man von ihm erwartete, aber auch ohne das war sein ganzes Wesen Hilfe zu bringen innigst geneigt. Ganz instinktiv tat er sogleich dasjenige, was, sofern man jemand aus einem Schlafe erwecken will, gebräuchlich ist, und erhob, nachdem er Wasser vom Brunnen erbeten hatte, die eigene Stimme laut, mit strengen Worten auf Martha einredend.

Wahrscheinlich hatte nun der Anfall an sich und in sich sein Ende erreicht, doch es konnte nicht fehlen, daß, als sich Friede und Schlaffheit durch den Körper des jungen Mädchens verbreitete, dies für die Glaubenswilligen ein neuer Beweis für die Wunderkräfte des Narren war. Und in der Tat, als jener sich schweigend wieder entfernt hatte, und zwar, für sich, in die eisige, klare Mondnacht hinaus, das Mädchen aber ruhig schlummernd zur Seite der Mutter lag, hielten die Männer noch bis in den Morgendämmer hinein Gespräch miteinander, vom vermeintlichen Wunder völlig durchdrungen.

Martha erwachte erst spät am Nachmittag, und was sie erzählte, war wiederum dazu angetan, die Einbildungen des kleinen Kreises anzufachen. Es lag über ihr eine stille und selige Feierlichkeit, nach deren Ursache ausgefragt sie glatthin behauptete, sie habe Jesus, den Heiland, und zwar umleuchtet von himmlischer Glorie, mit allen Wundenmalen im Traum gesehen.

O Jesu, süßes Licht,
nun ist die Nacht vergangen.
Nun hat dein Gnadenglanz
aufs neue mich umfangen.

Solche und ähnliche Verse sang das Mädchen von jetzt ab beständig vor sich hin, welche Hausgeschäfte sie immer verrichtete.

 


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