Carl Hauptmann
Nächte
Carl Hauptmann

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Sechstes Kapitel

Das alte Jahr war vollends ins Land gegangen. Der Schnee des Winters hatte manches verschüttet. Und die Frühlingssonne hatte doch nicht alles weggetaut.

Oben in den Bergen am Waldhange, wo die goldenen Fließe der Rehheide breit und voll und prunkend wieder sich dehnten, wo die Fichten ihre zierlichen goldenen Tatzen aus den Zweigen hinaus gestreckt, wo Bussarde und Falken hoch im Himmel zogen und die Singdrossel flötete und in die Goldluft pfiff, war es wie immer.

Auch der alte Totengräber stand wieder vor dem Feuer in der Nähe der Schutzhütte, als die Berge ihren großen Schatten langsam ins Tal gesenkt, und der Kuckuck dazu unaufhörlich seinen Ruf in die Heide hallte.

Und wieder auch, wenn längst von tief unten und fern die Glockentöne der Dorfkirche die Mitternacht bis in den Waldwinkel verweht hatten, saß der alte Buchwald, den die Greisenunrast nicht schlafen ließ, und plauderte vor sich hin, indes die Flammen seines Reisigfeuers prasselten und die Funkenschwärme ihn noch immer lachen machten.

Drinnen in der Schutzhütte lagen wieder die alten Holzmacher und schliefen und schnarchten.

Auch Claus Tinnappel lag jetzt in der Schutzhütte.

Am Tage war es hart zugegangen.

Mit dem Forstgehilfen war schon lange kein rechtes Leben mehr. Er war streitsüchtig. Nun gar zu höhnen wie früher, das wäre niemandem mehr in den Sinn gekommen. Obwohl es den alten Totengräber in diesem Augenblick mit allerhand Gespenstern aus der Brauerei narrte, als er zum Ginsterhange hinüber sah.

Auf dem Holzschlage hatte man den ganzen Tag kein freundliches Wort gehört.

Claus Tinnappel hatte sich nicht vom Flecke gerührt.

Auch jetzt, wo Claus unter den Holzmachern sich lang hingestreckt hatte und endlich aus dieser unruhvollen Nachtwelt einmal ganz erledigt war, wäre dem knochigen Totengräberschädel, der vor dem Feuer hockte, kein Wort von all den Gesichten aus der Kehle gequarrt, die drüben in den goldenen Ginsterbüschen wie Schemen verwehten, indes die Welt, eine weite Hohlkugel, in ewigem Frieden schlief.

Claus Tinnappel schlief.

Aber der sanftmütige Arzt, der Schlaf, konnte Clausens Seele nicht von seiner Schmach heilen.

Der gütige Tröster Schlaf hatte Clausens junge Seele flehend umarmt, wie ein geängstigter Vater, und hatte sie hart und zerrissen und beleidigt gefunden.

Er hatte aus ihr nicht die Güte erflehen, nicht die Stricke und Bande des Hasses und seines hoffnungslosen Ersehnens lösen können.

Der Wind strich huschend und rauschend durch Waldgras und Ginster und sang und wogte Frieden überall in die Höhe des nächtlichen Himmels und tief in die Täler und an den flüsternden Hängen.

In Claus Tinnappel gab es Beängstigungen, Traumgesichte, Schlangen, die von Felsen auf ihn zuschossen, gewunden und scheu, die mit giftigem Zünglein seinem Munde ganz nahe wisperten. So daß er aufschrie.

Der Totengräber hörte manchmal seine Stimme deutlich aus der Schutzhütte stöhnen und rufen.

Buchwald wußte, daß es Tinnappels aufgescheuchte Seele war. Er ließ ihn stöhnen und rufen, auch wie sich Clausens Stimme zum zweiten Male deutlicher aufhob.

»Du wirst auch noch einmal Ruhe finden!« sagte er nur mit nebensächlichem Lachen, weil er Totengräber war.

*           *
*

Unten im Tale bei der Dorfstraße lag jetzt die Brauerei im versunkenen Schlafe. Der schnurrbärtige Herr Hecht lag noch immer mit den Bürstenpinseln geziert, die aus dicken Betten herausragten, und schnarchte.

Salie war aus ihrem Bette herausgekrochen.

Sie hatte nur erst nebenan scheu ein Licht gemacht.

Aber es trieb sie die Angst, rasch ein Kleid aus dem Schranke heraus zu reißen und in die Nacht hinaus zu fliehen.

Sie ängstigte sich jetzt vor allem. Vor dem Manne, neben dem sie Tag um Tag herlief. Und vor dem Kinde, das sie jetzt in ihrem Leibe lebendig fühlte, das aus seinem Blute gekommen war und sie aussaugte wie ein Vampyr.

Als sie am Tage vor dem Spiegel gesessen, war sie erschrocken vor sich zurückgefahren. Ihr Gesicht war fahl und hohlwangig. Die Augen lagen in Höhlen. Sie dünkte sich wie ein Totenkopf.

Die Angst hatte sie schon manchmal aus dem Bette getrieben, um jache Traumquälereien zu verscheuchen.

Jetzt hatte sie Kleider aus dem Schranke gerissen, weil sie gleich etwas trieb, das nicht in ihrem nächtlichen Zimmer und in ihrem eigenen Schatten an der Wand zu finden war.

Es war gleich wie ein Wahnsinn.

Schwangere Mütter zerreißt manchmal die Sehnsucht, daß sie aus ihrer Erwartung jäh zur Erfüllung drängen.

Salie war wie von Sinnen.

Sie wollte etwas ungeschehen machen, was ihr im Blute kreiste. Sie hatte eben von Claus geträumt. Sie wollte die ganze Herrlichkeit, die sie mit Claus Tinnappel gelebt hatte, zurückreißen wie mit Krallen.

Sie hastete.

Die Glieder, die noch am Tage den runden Leib müde und schleppend einhergetragen, begannen zu spielen.

Sie hatte das Bauernkleid ergriffen, das Claus Tinnappel liebte.

Sie huschte hinaus.

Niemand im Brauhause hatte einen Laut vernommen.

Der alte Hund im Flur hatte Salies Hand zärtlich geleckt.

Sie eilte in die Berge.

Das Bauerntüchel aus Seide hatte sie wieder um ihren Kopf geschlungen.

Und wie sie bergan schritt, mußte sie plötzlich nach Atem suchen und die Schnüre lösen, um nicht auf dem steinigen Wege umzufallen.

Aber sie klomm bergan.

Es war eine warme Julinacht. Balsam der Stämme ergoß seinen Duft.

Sie atmete schon höher.

Es war wie ein Freiheitstraum.

Jetzt wußte sie auch, daß sie Claus Tinnappel finden würde.

Claus Tinnappel träumte noch in der Schutzhütte. Und der alte Totengräber sah in den goldenen Ginsterflächen nur bleiche Gespenster und lachte vor sich hin. Das Feuer brannte hoch, weil der alte Buchwald es neu mit Reisig versehen. Und es schien Frieden in den Nachträumen.

Aber Claus Tinnappel konnte jetzt nicht mehr Ruhe finden.

Der Wind erhob sich, zerbrach Äste und brachte wie Rufe.

Obwohl noch bleiche Finsternis war, sprang Claus sofort auf die Beine und ergriff sein Gewehr, das an der Wand hing.

Auch dem alten Totengräber, der schon ein wenig taub war, war es jetzt plötzlich so vorgekommen, als wenn eine klägliche Stimme von ferne gerufen.

Es klang, als wenn eine Hirschkuh einen Schreckruf getan.

Vielleicht hatte Claus Tinnappel diesen Ruf gehört. Vielleicht hatte er gar die Stimme erkannt.

Claus Tinnappel stand gleich wie gebannt und horchte in den Wald und zum leuchtenden Hange hinüber.

Die klagende Stimme klang jetzt deutlich herüber.

»Gehen Sie nicht hinüber, Herr Tinnappel,« flüsterte der Totengräber hastig und von Grausen gepackt.

Aber Claus war wie von Furien gejagt.

Er klapperte mit den Kiefern wie ein Totenmann.

Er lief und war nicht aufzuhalten.

Äste brachen, weil er Schriemwege nahm und jach über Blöcke und Stämme sprang.

Das alles sah und hörte der alte Buchwald genau.

Auch er hatte jetzt das klägliche Rufen genau vernommen.

Aber alles war noch einmal wieder in der tiefen Nachtstille erstorben.

Nur neu Ästekrachen wie von einem durchbrechenden Hirsche, der zur klagenden Hinde hin will.

Claus war zu den Ginsterbüschen hin gelaufen.

Da hatte er Salie vor Augen.

Und er fing an sie zu streicheln und zu liebkosen.

Er war im Blicke wie ein Kind.

Er war ganz sinnlos selig versunken.

Er hatte Salie auch gleich eisenzerbrechend in die Arme genommen.

Er hatte sie in seine Arme geborgen.

Eine ganze Ewigkeit.

Alles ging wortlos.

Und er hatte sie auch ebenso schnell wieder aus seinen Armen gelassen.

Mit Stöhnen, wie ein sehnsüchtiges Tier aufstöhnt.

Weil er es jetzt bemerkt hatte, daß sie das fremde Kind unterm Herzen trug.

Er hatte sie gleich wie gelähmt aus den Armen gleiten lassen.

Obwohl ihre flehenden Arme sich noch immer nach ihm streckten und ihn halten wollten. Und der Glanz ihrer Augen ganz gebrochen schien. Sie dann nur noch abgewandt wie eine Verurteilte, demütig und zum Tode bereit mit schlagenden Gliedern und lautlos gebunden vor ihm stand.

Da war es Claus auf einmal gewesen, als wenn alle Hoffnungslosigkeiten der Erde gespenstisch aus den rauschenden Morgenlüften über ihm zusammenbrächen.

Und es hatte ihm gar keine Zeit gelassen.

Kaum, daß er schnell genug und im Erbeben die Büchse an die Schulter riß.

Der Schuß war in dem nächtlichen Dämmer schon verhallt.

Der Totengräber hatte dabei seine Pfeife aus dem Mundwinkel ins Waldgras verloren.

Dann gab das Echo am Hange einen zweiten Schuß wieder.

So daß der alte Buchwald jetzt vor das Feuer ganz niederkniete, als hätte ihm vollends der Schreck die Beine weggezogen.

Der alte Totengräber begann gleich ein Gebet feierlich vor sich hin zu sprechen.

Drüben in den schimmernden Goldfeldern der Rehheide verrauchte der Pulverdampf.

Der Frühwind rauschte neu auf.

Salie lag neben Claus Tinnappel, nach dem sie sich doch gesehnt hatte. Beide lagen jetzt aus der Herzwunde blutend. Lebendige Tropfen sickerten auf Kleid und Jagdhabit. Beide waren ganz still ins Waldgras gebettet. Die Mütze Clausens war beim Falle ein Stück fortgerollt. Die Büchse lag neben ihm im Grase.

Treffen tat Claus gut.

Beider Ängste waren auf einmal ganz ausgeblasen.

Am andern Morgen trugen die acht alten Holzfäller die beiden Leichen auf Bahren mit Tüchern verhüllt zu Tale nieder, nachdem Gerichtspersonen an Ort und Stelle den gewaltsamen Tod durch Tinnappels Gewehr festgestellt hatten.


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