Carl Hauptmann
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Carl Hauptmann

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Fünftes Kapitel

Unterdessen war Frühling geworden. Krabben lagen am Strande und sonnten sich. Die See gewann blauen Glast weit in die Ferne. Da waren im Fischerkruge alte, lange, umfräste Gesichter laut über die Aussichten der beginnenden Fänge. Und in dem Strandschlößchen der Kroen hatte man gelüftet und die Vorhänge aufgezogen. Und bald war das Leben über Friesdecken und Teppiche neu herein gesprungen, und Frau Hartjes klingendes Gelächter und Herrn Kroens sehr männliche Stimme hallte in Zimmern und Gängen. Es war auch Besuch in das Kroensche Haus miteingezogen. Eine alte, vornehme, breite Dame, eine gräfliche Dame, die die Mutter von Frau Kroen war, und ein junges lustiges Fräulein, die Jüngste der alten Gräfin, die also Frau Hartjes Schwester und jetzt eine rechte Spielgefährtin war.

Aber obwohl jetzt auch der Garten voll von Blüten sproß, die Büsche sich mit Grün behingen, und die jungen Augen, die hell in die Welt sahen, von der hellen Sonne noch lebendiger wiederglänzten, in den Augen der Frau Hartje blieb etwas ungestillt.

Hieronymus van Doorn, der junge Priester, war noch nicht ins Kroensche Haus gekommen.

Man vergnügte sich.

Herr und Frau Kroen mit der jungen Komtesse ritten täglich am Strande hin. Sie ritten durchs Dorf, wo mitten die Kirche lag. Sie sahen dem jungen Pfarrer wiederholt in die Fenster. Der schlanke heilige Mann, wie ihn nun auch Herr Kroen bezeichnete, war ihnen nirgend in den Weg gelaufen.

Und einer direkten Aufforderung, die ihm Herr Kroen auf Frau Hartjes Wunsch einmal zugesandt, hatte er seine allzu reichlichen Pflichten in seinem Priesteramte entgegengesetzt. Herr Kroen sah seine junge Schwägerin mit dem Monokle drollig an und machte spöttische Bemerkungen.

»Ein Priester fürchtet sich immer vor jungen Damen. Aber da tut auch ein Priester sehr recht«, sagte er schon jetzt ein paarmal, wenn auf den hohen, bleichen Hieronymus die Rede wieder einmal gekommen war.

Hieronymus banden wirklich Pflichten genug. Mit Gott zwischen Erde und Himmel vermitteln. Die Einen, die trachten und tun, weihen, die Andern verfluchen! Die losbinden für die Ewigkeit, und die andern mit Heilsrufen nennen, die in der Zeitlichkeit ihre ersten Schritte tun! Heute am Grabe den Namen Gottes in die sonnige Strandwelt rufen, und morgen ein bekränztes Paar als des Gottes bindende Hand selber berühren zum ewigen Bündnis unter Jubilieren der hellen Knabenlobgesänge vom Holzchore nieder in die hellbesonnte Backsteinkirche. Und neben dem allen ein Mensch sein und mit sich selber fertig werden, in dieser Zeitlichkeit ein himmlischer Diener Gottes sein, eine Seele zu sein, die Gott in sich trägt auf allen Wegen! Hieronymus begriff es, daß da volle Kraft quellen, volle Liebe sich hingeben, der Stolz und die Strenge Gottes einherschreiten und nicht rechts noch links auf Blumen und Steine groß achten dürfe.

Und so schritt Hieronymus auch jetzt wieder wie ein Heiliger unter den Fischersleuten und ging zu denen in ihre niedrigen Türen ein, die ihn riefen um Gottes willen.

Da war es eines Sommertages. Der Sommer war langsam herangekommen. Der Strand war weit und breit leer. Boote und Schaluppen lagen draußen auf dem Fischfang in Seeferne. Und Hieronymus hatte sich auf einem Gange in die Dünen befunden, nachdem er ein kleines, sterbendes Fischerkind mit inbrünstigem Gebet für seinen Weg in die Himmel Gottes gesegnet. In Hieronymus zitterte wie immer die heilige Handlung im Blute nach, und er sann, indem er ging.

»Es muß seltsam selig sein, wenn ein kleines, lachendes Kind in die Pforte eingeht,« dachte er und hatte vor Augen noch immer das Kindergesicht, dem er die Unruhe des Sterbens aus den bleichen dürftigen Zügen mit Handauflegen und innigem Flüstern genommen.

Das Kind hatte noch kein Lächeln in seiner Seele gekannt.

Und darum grade dachte Hieronymus jetzt daran, daß im Himmel das kleine, hülflose Wesen ein Lächeln und Fröhlichsein finden und ein kleiner seliger Engel eingehen werde. Denn er wollte jetzt nur Himmelsgedanken und die Wonne seiner Berufung fühlen, den armen Erdenmenschen voll Schweiß und Genügen immer neu die Freuden der Gnade auftun.

Da sah er in den Dünen am Muttergottesbilde ein paar Frauen stehen.

Hieronymus war aus seinen Gedanken gleich wie aufgeschreckt. Hieronymus hatte Sinne wie ein junger Falke. Er hatte sogleich erkannt, daß die eine der beiden jungen, sommerlich losen Frauen Frau Hartje war. Und er war auch sogleich von seinem Wege abgebogen. Er nahm eine Haltung, als wenn er mit ruhigen Schritten querfeldein durch die Dünen heim müßte. Dann begann ihn der Gedanke der Flucht wie eine Feigheit zu quälen. Und er blieb eine Weile hinter einem Hügel an einem Weidengebüsch stehen. Da sah er, daß die beiden Frauen noch immer im Sande vor der heiligen Jungfrau knieten und sich nicht gerührt und ihn nicht bemerkt hatten. So wandte er sich wieder auf seinen alten Weg zurück.

Man kann sagen, daß in dem jungen Pfarrer gleich alles wie aufgescheucht und wie gejagt war. Der Gedanke und die Vision der Paradiespforte war verwichen, wie Träume verweichen. Darin war keine Macht, wenn sich Frauen vor der Gottesjungfrau im Sande knieend, lieblich bunt wie Blumen im Dünengras und in sinkender Sonne vor das Auge stellen. Der asketische Hieronymus kämpfte heimlich, um sich still und gemessen auf dem Wege zu halten und nicht furchtsam abzuirren und nicht feige der Versuchung auszuweichen. Es dünkte ihn jetzt richtig eine Schmach, nicht aller wegen ein stolzer, freier, hochgemuter Helfer und Mittler Gottes zu sein. So gewann er allmählich auch die vollste Hoheit wieder in seine Schritte und die innerste Umklammerung dessen, der ihn durch das Leben führen sollte. Er ging, wie Adler über Abgründe fliegen, mit sicherem Niederblicken. Oder wie Kriegsrosse, wenn unter ihren Füßen Leichen um Leichen liegen und Gestöhn die Luft zerrüttet, und dann ihr Atem fast hörbar sich spannt und ihr Gang hinschwebt wie aufgeschnellt, erhaben und doch sicher gebändigt.

In den Lüften schwammen Möven in kleinen Scharen in großen Runden. Er sah ins Licht auf und sah eine Weile nicht mehr die Erde.

Aber wie Hieronymus van Doorn wieder die Erde nahe fühlte, war Frau Hartje einsam geworden. Er sah, daß sie allein noch auf dem Wege stand. Die andere sommerhelle Gestalt war in der Richtung nach dem Stranddorf verschwunden. Frau Hartje stand aufrecht. Sie zögerte offenbar, wohin sich wenden. Der Wind ging leicht in den Dünenhügeln hin. Glockenläuten verklang in der hegerigen Abendluft vom Dorfe herüber. Das Kleid der Frau Hartje wehte, so daß sie wie eine Fischerfrau stand, die sehnsüchtig in die See blickt, vielleicht den Liebsten aus der Sturmferne erwartend. Auch die Bindebänder ihres Hutes wehten. Ihr Kopf und Nacken waren in einer großen, gelben Strohkiepe, die das Gesicht tief beschattete, ganz verborgen.

Die schrillen Rufe der Möven klangen nahe. Hieronymus klammerte sich an diese Rufe, um noch immer wieder mit sich und der leuchtenden Gotteswelt allein zu sein. Obwohl er jetzt wirklich ein Gefühl der Schwäche schon im Blute empfand, und seine Beine müde waren im Sande zu stapfen. Er schlürfte eine Weile nur so hin. Aber er tat noch immer, als wenn er nicht ahnte, daß Frau Hartje näher und näher heran kam.

Er blieb ohne Absicht noch einmal stehen. Er begann in den Meersand zu blicken, wo die Kiesel knirschten. Wo die letzten Wellenschäume mit perlmutternen Blasen im Sande verebbten, und worüber die Strandflöhe ihr ruheloses Hüpfen und Springen betrieben. Er war lange stehen geblieben, als ob ihn dieses Spiel ewig fesselte. Und er mußte kindlich in sich hinein lachen, weil von den Pforten des Paradieses, darein er noch eben dem verbleichenden Kindlein selig nachgesehen, bis zu diesen elenden Strandhüpfern eine ziemliche Kluft übersprungen werden mußte. Und nun stand er auch schon, ohne daß er sich weiter wehrte, vor Frau Hartje selber.

Frau Hartje sah licht aus wie eine Heilige, von flaumiger Rosenhaut und doch jetzt ein wenig erblassend. Die hellen Blicke voll Lieblichkeit verrieten an sich nichts Schwaches mehr. Sie hatte lange, weiße Spitzenhandschuhe in Händen. Ihre schönen, sonnigen Hände und Arme tändelten mit den Handschuhen und mit Strandblumen. Daß sie aus einer Bestürmung des Blutes nicht gleich heraus fand, verwirrte auch den jungen, hastigen Mann zuerst. Sie sprach schüchtern. Während sie sprach, kaute und knabberte sie wie eine Maus mit ihren silbernen Zahnrändern an einem Grase herum, womit sie immer wieder neu in den feuchtschwellenden Mund fuhr.

»Aber sagen Sie doch, ehrwürdiger Herr Pfarrer . . .«

Sie hatte dem jungen Pfarrer ihre kühle Hand in seine nervige Hand gelegt. Sie war unschlüssig.

»Warum denn nur das ewige Fernbleiben? . . . Sind immer nur heilige Pflichten ins Buch Ihres Lebens geschrieben?« sagte sie.

Hieronymus bewahrte ganz seine Würde. Seine sengenden Blicke hafteten nirgend. Sie glitten in dieser Zeit über die schimmernden Dünen und das glühende Meer hin. Und sie sogen sich allmählich ganz voll Fröhlichkeit.

»Seien Sie mir deshalb nicht ungnädig . . .« sagte er ganz sanft und hoheitsvoll. »Ja wirklich . . . die heiligen Pflichten halten mich völlig gebunden . . . ich habe in der langen Zeit die Erde kaum gesehen . . . aber jetzt sehe ich es wieder . . . die Erde ist schön! . . .« sagte er.

»Aber Sie sehen gar nicht munter aus, Ehrwürden,« sagte Frau Hartje lebhaft mit sorglicher Betonung. Sie wagte jetzt dem jungen Pfarrer ins Gesicht zu sehen und sah, daß er verhärmtere Mienen trug als je.

»Das merkt ein Mann nicht, der sich in Gottes Schutze weiß,« sagte Hieronymus mit weichem Gelächter.

»Sie müssen auch einmal einen irdischen Feiertag machen,« sagte Frau Hartje.

»Und einmal wieder von den alten Burgen und Schlössern Derer van Doorn erzählen . . . und mich auf meinen irdischen Namen und meine flüchtige irdische Vergangenheit eitel besinnen . . .« sagte Hieronymus.

»So furchtbar streng sind Sie mit sich?« sagte Frau Hartje.

»Ein Priester Gottes muß Gottes Gebote kennen und achten,« sagte der junge Asket.

»Oh lieber Himmel!« sagte lieblich schüchtern Frau Hartje, nahm ihre Strohkiepe vom Haar, zeigte ihren schönen, hellen Kopf mit den dicken Flechten und bog ihn kindlich lachend zur Seite. »Solch kleine Abirrung ins Weltliche kann noch heute Ihr Kummer sein?« sagte sie nachdenklich und schwieg dann lange.

»Nein nein,« sagte Hieronymus lebhaft und wie erwachend. »Gott vergibt dem die Sünde, der Buße tut.«

So gingen die beiden mit einander. Manchmal in Schweigen. Manchmal auch, daß der Priester stehen blieb, mit seiner Krücke in den Sand malte und zu Frau Hartjes kindlichen Worten fröhlich aufsah.


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