Carl Hauptmann
Nächte
Carl Hauptmann

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Zweites Kapitel

Das gierige Essen in einem Automaten, wo Franz für seine letzten Groschen wie sinnlos Schnitte um Schnitte verschlungen, hatte seinen grollenden Magen stille gemacht.

Er war am Nachmittag nach Hause zurück gekehrt.

Er wußte, daß Eduard zu Fräulein Hellen Raddas gefahren war, um mit ihr noch einiges für das Konzert zu proben. Er hatte auch die alte Frau Popjel nicht daheim angetroffen.

Er hatte sich nur gleich, wie er ging und stand, auf sein Bett hingeworfen und war in gänzliches Vergessen eingesunken.

Wie er langsam wieder zu sich kam, war es in der Wohnung immer noch still.

Er begann sich vollends zu ermannen, und sich in der Küche nach irgend einer Kanne kalten Tees oder nach etwas Eßbarem umzusehen.

Er sah kreidig aus.

Seine Glieder waren schwer wie Steine.

Er konnte nicht einmal sagen, daß ihm elend oder schmerzlich zu Mute war. Nur die Gebundenheit hockte in allen Muskeln und allen Gelenken. Er schien sich wie abgestorben.

Bis Franz dann die Abendsonne im Fenster blinken sah, und die Schornsteine der Fabrik gegenüber wie lächerliche Schattengestalten mit Grimassen fast seine Nase zu berühren schienen. Da mußte er lachen und kam noch mehr zu sich.

Lachen oder schluchzen.

Sein aschfahles Gesicht war noch immer ganz starr.

Ganz aus seinem Banne ging der Laut aus und konnte auch ein Fluch sein.

Franz saß dann ewig.

Von ferne nur kamen Überlegungen mit zerrissenen Gedankenfolgen.

Er wußte jetzt auch, warum Frau Popjel noch immer nicht heim kam.

»Die Mutter ist zu niemand so hündisch wie zu mir,« sagte er vor sich hin.

Frau Popjel war unbegreiflich in ihrem Narrenhange zu Franz. Oder vielleicht auch zu begreiflich, weil sie beide Söhne geboren hatte, und beide Söhne auch aus ihrer Seele stammten.

Wenn man die alte, kleine Dame im Winkel des Musikzimmers sitzen sah, die Beine auf den Sessel gezogen, wenn man in dem runzeligen Gesicht unter dem violetten Spitzenhäubchen das Spiel der Wonne und Entrückung sah, das über die zarte, leise Gestalt kam wie ein seliger Reigen, wenn man die Augen dieses mit einigen haarigen Warzen gezeichneten, mütterlichen Antlitzes groß werden sah, sobald die gezogenen Striche des Geigenbogens, den Eduard führte, volle, reiche, breite, jubelnde oder schluchzende Tonfülle in den Raum ergoß, da sah man, daß der in leidenschaftlicher Hingabe an die Töne seiner Geige versunkene, kaum dreißigjährige Mann ihrem innersten, nie alt gewordenen Mutterherzen verwandt und ihr erlösendes Leben war.

Und doch war auch Franz in ihrer Seele als Teil lebendig.

Dort lag der leidende, ewig mißratene Menschensohn. Dort, wo die alte Frau Popjel den dunklen Franz im Blute fühlte, lag Gebet und Klage, heiße Sehnsucht und ewiges Verfehlen. Dort brannte es im eigenen Blute wie heiße Verdammnis, von der sie sich und den bleichen, zerfurchten Franz losringen und loskämpfen gemußt, schon zur Zeit, als sie ihn erst als Frucht in Leib und Blute getragen.

Wenn die kleine, alte Dame auf der Straße ging, murmelte sie oft Worte.

Das galt alles nur einer ewigen Zwiesprache mit Franz.

Wenn sie aus ihren Selbstgesprächen aufsah, geweckt von einem Automobilgetöse, da waren ihre Augen gleich erschrocken wie über ein Unglück. Wo eine Gefahr drohte, da hinein warf ihr inneres Auge ihren Sorgensohn.

Auch jetzt war sie wieder hinaus, um für ihn sich wegzuwerfen.

Das hatte sie jetzt schon manchmal getan.

»Ach was! Sich demütigen! Nur helfen!« redete sie vor sich hin. Franz mußte auch jetzt wieder geholfen sein.

Franzens Blicke konnten sich in die Blicke der geängstigten Mutter einsenken wie Tauben ins Licht.

Die Mutter wurde ganz nur Zärtlichkeit und Mitleiden.

Franz hatte wieder Geld nötig. Viel.

Baron Vogelsang hatte immer Geld. Der hatte auch ein Reitpferd im Stalle. Auch Asmussen hatte Geld, dessen Vater ein reicher Brauer war. Und Oliven hatte Geld, dessen große. väterliche Eisenwerke vor der Stadt rauchten.

So war auch heute Frau Popjel hinaus, um sich hinter Eduards Rücken von fremden Leuten für Franz Geld zu verschaffen.

Franz wußte es jetzt. Er horchte in sich hinein. Ahnend und dumpf und blöde. Und jetzt schon wieder scheu überkommen von der beginnenden Dunkelheit, die seine Zeit war.

Aber Frau Popjel kam nicht.

Franz war auf den Balkon hinaus getreten und musterte die Straße, darin vereinzelte Goldlichter im grauen Dämmer glänzten. Dann erinnerte er sich des Gesanges des Hirten, der in der sechsten Symphonie Beethovens den vierten Satz mit Schalmeiklang beginnt.

Wenn ihm Musik in den Sinn kam, begann er immer einen Augenblick zu genesen. Er sehnte sich dann nach seinem Bruder, und gute Entschlüsse gewannen die Oberhand.

Der Gesang des Hirten ist eine selige Weise.

»Wohl denen, die im Licht leben! Wohl den Lämmern auf der Blumenflur! Wohl den schauenden Augen, die im Anblick der Aue ruhen und ohne Willen hierhin und dorthin wandern!«

So etwas kannte Franz. So klangen die Sehnsuchtsrufe in ihm, wenn er an Eduard dachte.

In der Wohnung der Popjels war eine geheime Zelle. Jenes war einfach ein ganz stilles, unbenutztes, vornehmes Zimmer. Einmal vor Jahren war es das Zimmer des Vaters gewesen, der auch ein erfolgreicher, sehr ruhmreicher Künstler war. Die schönen Instrumentenkästen des Vaters benutzte mit Ehrfurcht Eduard. Aber der Schreibtisch stand noch, wie ihn Herr Popjel sen. einst verlassen hatte. Kleinodien lagen darauf. In einigen Kästchen steckten Dinge von großer Kostbarkeit. Ein Petschaft mit einem von Edelsteinen besäten Handgriff hatte ihm einst ein Großfürst geschenkt.

Nie hatte sich in diesem Zimmer seit Jahren irgend etwas geändert. Die beiden edlen Marmorfiguren, die eine jede gegen ein Fenster stand, die Reihen kostbar gebundener Werke, die Schreibzeuge aus Meißener Rosen hätte niemand anzurühren gewagt.

Die kleine sanfte Dame weinte davor, wenn sie jedes erinnerungsreiche Stück selber sorglich abstäubte. Manchmal saß sie einsam auf dem großen Eichenstuhl tief versunken in Vergangenheit, und war wohl auch schon einmal über den Sorgen, die nun hereingebrochen wie Wellen eines Stromes, in dem heiligen Zimmer des Herrn Popjel eingeschlafen.

Eduard ging in das Zimmer nur an Feiertagen. Nur wenn er irgend einen Entschluß oder einen Enthusiasmus brauchte. Manchmal verschloß er sich darin und spielte, als wenn der Vater sein einziger Zuhörer wäre so mit der Aufbietung aller Zauber. Von den Zimmerwänden und aus allen Gegenständen strömten stärkende Geister nieder.

Auch Franz hatte jetzt den Schlüssel in der Zimmertür gedreht. Er trat lässig hinein, wunderbar umwoben von den Tönen des Hirtengesanges.

Aber er wartete nur heimlich.

Er lag nur in dem eichenen Lehnstuhl zurückgelehnt und sah verkümmert und zernagt aus.

Nur Neugierde kroch billig und leer auf in ihm.

Er begann nur mit den Kleinodien auf dem Schreibtisch völlig achtlos zu tändeln.

Er harrte der alten, sanften Dame.

»Sie muß kommen!« sagte er vor sich hin.

Er hatte das Kästchen mit dem steinbesetzten Petschaft dabei gleichgültig aufgetan.

»Oder vielleicht kommt sie auch nicht!« sagte er hart.

Sein harter Blick streifte das Petschaft.

Er hatte sich das juwelische Stück noch nie so genau angesehen.

Das Prunkstück begann ihn zu fangen.

Das Prunkstück begann ihn zu berauschen.

»Puh!« sagte er aufgeblasen. »Das ist eine Sache!«

Er lachte häßlich.

Es war ganz wunderbar, wie sich aus dem Berühren dieser Steine jetzt gleich eine Stärke über ihn ausbreitete.

Er wußte selbst gar nicht mehr, daß er das Petschaft anstaunte wie der Bauer, der einen Schatz gefunden.

Er hatte die Steine neugierig ans Fenster getragen und in dem bleichen Lichtschein, der von den Laternen heraufkam, ewig blitzen und funkeln lassen.

Daß er in seines verstorbenen Vaters Heiligtume sich herum dehnte, daran dachte er gar nicht mehr.

Durchaus nicht herum dehnte. Sich richtig jetzt streckte, ganz freie Gestalt annahm. Das Kleinod in der Hand wägend wie mit drolligem Spiele und dann an dem Kästchen herum fingernd, das Goldschlüßelchen betastend, und das Schlüßelchen spielerisch drehend. Und alles dann ganz plötzlich mit entschlossener Hantierung und mit ruhiger Genugtuung. So daß das Schloß des heiligen Erinnerungsraumes schon schnappte und das Zimmer des seligen Herrn Popjel in einsilbigem Dämmer zurückblieb.

Franz Popjel, der zerrissene, dunkle Mensch, trug jetzt das köstliche Kleinod in seiner Tasche.

Die Mutter Popjel kam die Treppe empor gegeistert, als er in die Nacht hinaus verschwinden wollte.

Sie hielt unter ihrem Silbertäschchen einen Geldschein in der Hand, den sie ganz zerdrückte. Sie hatte ihn von einer Freundin geliehen.

Franz küßte nur inbrünstig ihre beiden, ängstlichen Augen. Und küßte ihre zitternde Hand, aus der er auch den Schein nahm, und entfernte sich eilig, indessen Frau Popjel auf der oberen Treppe stand und mit einigermaßen erlöstem Gefühl seinen Schritten nachsah.


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