Carl Hauptmann
Nächte
Carl Hauptmann

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Franz Popjels Jugend

Erstes Kapitel

Wenn Franz Popjel auf der Straße mitten im Menschengewühl einen Kameraden seiner Nächte traf, lachte er offen mit ihm. Sein dunkles Auge versuchte fest unter die Leute zu blicken. Sein sonst ein wenig vorgerückter Kopf war empor gehalten, als wenn er Sieg und Freiheit verkünden wollte. In seinen Stirnfurchen zuckte es von Leben. In seine bleichen Mienen kam Röte. Seine schmalen, allzu schlanken, gebrechlichen Finger zitterten nicht, wenn sie das Stöckchen schwangen, das er in der Hand trug. Alles an ihm schien sich des Lebens zu freuen. Und man hätte in diesem Augenblicke nicht zu sagen gewußt, wo in aller Welt der düstere Schein des Gezeichneten hin verschwunden war, der ihn noch vor Sekunden in seinem einsamen Schreiten mit großen, fast abgewogenen Schritten umspielte.

Sein Kopf war mächtig. Seine Stirn vorgelagert. Die Stirnfurchen konnten oft tief scheinen wie bei einem Greise. Feuer verzweifelter Blicke konnte aus seinen bohrenden Augen blitzen. Seine Wangenhaut lag zäh über den starken Knochen des Antlitzes. Sein Mund war scharf geschnitten und fast immer ein wenig eingezogen wie von verhaltenem Hasse. Und seine dunklen, straffen Haare umhingen jetzt fast tändelnd den wunderlichen Schädel des Gemarterten, der mit einem einzigen Sichbesinnen die Dämonen seiner inneren Schau von sich getrieben hatte, und wie ein sanfter, gütiger Mensch sich nur dieser einen Minute Lebens um und um und sonst an gar nichts weiter zu erinnern schien.

Wenn Franz Popjel so einem Kameraden seiner Nächte begegnete, klang seine Stimme hell. Der rauhe, unheimliche Dumpfklang, der manchmal wie Höhlengewässer grollte, die nie das Licht gesehen, war wie aufgelöst in dem Lärm und Leben der Fußgänger an den Häuserreihen. Man konnte wähnen, daß da ein paar Studenten standen, die eifrig und redselig die schönen Geheimnisse der Erkenntnis besprachen oder sich mit lockenden Bildern der ersten Leidenschaft harmlos neckten.

Wirklich taten Popjel und Baron Vogelsang durchaus gar nicht, als wenn sie gemeinsame Erinnerungen besäßen.

Obwohl Popjels dunkler Abendrock am heutigen Morgen, wo es schon gegen die Lunchzeit ging, noch gar nicht richtig gesäubert schien, und der gebundene, schwarze Seidenschlips nachlässig zwischen welken Kragenenden an Popjels Halse hing, war Popjel von ausgesuchter Bonhomie im Tone, gleich auf eine Frage des Schicksals gestoßen. Man unterhielt sich lachend von dem Todessturze eines Aviatikers, dessen Unglück man in den Straßen soeben ausschrie. Es war aus Popjels Worten, die er mit hellem Lachen verkündete, nur zu entnehmen, daß jedenfalls ihm der Tod nicht das Übelste dünkte, und daß jedes Schicksal mit sicherer Kraft gelebt, also auch mit sicherer Verachtung alles Kleinkrams vollendet werden müsse.

»Außerdem kann es in der Erregung der letzten Augenblicke, die Schicksalsaugenblicke sind,« sagte Popjel mit dem sichersten Tone, »die also Herrschaft oder Vernichtung bedeuten, weder Schmerz noch Feigheit geben.«

Das alles sagte Popjel mit einem gewissen Ausdruck des Glanzes. Er gefiel sich dabei in seiner Größe. Obwohl er noch die Minute vorher, ehe er den jungen Baron traf, weder von Herrschaft noch Tod, sondern ganz nur von Kleinlichkeiten des Lebens erfüllt war.

*           *
*

In Popjels Wohnung, die im dritten Stock eines Miethauses lag, hatte es ein jämmerliches Streiten gegeben, wie jetzt mit Unterbrechungen von Tagen oft.

Die alte Frau Popjel war eine kleine, leise Dame. Immer zwischen zwei Feuern. Deshalb war es kein Wunder, daß sie durch ihre Übertreibung und ihre grenzenlose Unrast alles Verkehrte noch verkehrter machte.

Das hatte Franz auch heute wieder bald hinaus getrieben.

Eduard Popjel, der ältere Bruder von Franz, war der gute Engel der Familie.

Wenigstens dachte sich Frau Popjel ihren Ältesten in dieser gesegneten Stellung.

Obwohl in Eduard auch Feuer brannten. Obwohl auch er gehässig sein konnte. Obwohl auch seine Augen hart werden konnten wie Steine. Obwohl seine Stimme gellen konnte. Obwohl auf seiner breiten Stirne die Furchen wie tiefe Runen standen und sich ewig nicht regten.

Eduard hatte heute sogar wieder einmal zuerst getobt.

Freilich hatte Frau Popjel das Vorspiel dazu angegeben. Nämlich am Morgen hatte Frau Popjel Franzes Bett wieder einmal leer gefunden.

Wie Eduard an den Frühstückstisch trat, seine langen Geigenfinger wie zum Spaße in der Luft übend und über das Sonnenlicht kindlich lächelnd, das ins Hinterfenster und auf die Höfe sah, auch mit zärtlichem Sinn die Hantierungen der sanften, alten Dame am Teetisch musternd, da war es ihm flüchtig so vorgekommen, als ob die gebrechliche Mama mit dem kleinen Runzelgesicht unter dem Morgenhäubchen beim Halten der Teekanne ungewöhnlich zitterte.

Frau Popjel leugnete es ganz entschieden. Sie gab vor, gar keinen Grund zur Erschütterung zu haben. Sie zerstreute das Mißtrauen Eduards gänzlich, indem sie so tat, als wenn Franz nur wieder nicht aus dem Schlafe aufzurütteln wäre. Da war Franz bleich und verwahrlost von der Nacht, stumpf und unehrerbietig, mit völliger Nichtachtung von Mutter und Bruder von der Straße her am Teetisch erschienen.

In Wahrheit war trotz des ewigen Streitens immer auch ein inbrünstiges Verhältnis zwischen den Brüdern Popjel gewesen. Vielleicht daß auch Sonne und Mond sich lieben. Wenn es sowohl lieben heißt: Licht spenden, wie der beglänzte Nachtmond es von der Sonne nimmt. Als auch nachziehen der Sonne, weil es unerhört reich macht, in dem Scheine des Himmels zu leben.

Franz sah heimlich zu Eduard auf.

Eduard war braun von Haar, das straff und lang hing, wie es Musiker tragen. Seine Augen hatten ein seltsames Feuer in braun. Sein Mund war groß über einem vollen Kinn. Seine kräftigen Zähne leuchteten, wenn er lachte. Und da er seine inneren Sinne voller Harmonien und Melodien hatte, kam ihm die Welt, die um ihn lag, nicht so wichtig vor. Alles das gab ihm eine schöne Unschuld, in der der Betrachter Ruhe fand.

Seine Kraft war stählern. Die Griffe seiner langen, schlanken Hände, mit denen er die Saiten seiner Geige schweben und schwingen machte, waren vehement. Er hatte schon jetzt erreicht einer der hoffnungsvollsten Männer seiner Kunst zu sein.

Und er ruhte keinen Augenblick. Innere Tätigkeit war alles an ihm. Immer schaffend und sich erleuchtend stieg er weiter aufwärts.

Franz sah in ihm die Sehnsucht seines Lebens.

Franz hätte für Eduard den Tod erlitten. Wenn er ihn heimlich ansah, sog er sich fest wie der Betrunkene an dem goldenen Weinkelch.

Man konnte nicht zärtlicher und demütiger aussehen, wie Franz aussah, wenn er Eduard einmal wie zufällig betrachtete.

Aber auch Eduard liebte den zermarterten Franz wie seine eigene Seele.

Das kam, weil Eduard eine letzte Sehnsucht ungestillt mit sich trug.

Sein Genie war immer Erfüllung. Immer war um ihn die Luft getränkt voll guter Werke und edler Begierden. Reichtum und Unschuld wie im Frühlingsgarten. Aus seinen Gründen quollen Harmonien, nicht Schreie. Allenthalben spielende Strahlen. Nirgendwo chaotische Finsternisse.

In jedes Menschen Urstätte raunen auch trostlose Gewässer.

Hier hatte sich alles in klares Offenbaren verwandelt. Und der ewige Kampf unter den Mächten erschien wie Spiel und Liebe.

Das war Eduard, wie er im Ringen um seine Kunst immer gewesen, und wie er nie anders sein konnte.

Eduard hatte nie hingehen können und sich wegwerfen um eine jähe, tolle, verwahrloste Stunde.

Er war nie aufgebrannt wie ein Höllenfeuer ungezähmt und unentrinnlich.

Er hatte nie mit dem vollen Becher »Leben« spielen und rasen können mit dem Tode um die Wette.

Nie wie ein durstendes Vieh schreien können nach Seligkeit.

Nie fluchen dem Lichte, um den Gott dahinter inbrünstiger zu greifen.

Nie über der Unschuld und Reinheit des Lebens sich ganz verwerfen, um auch die Hölle mit ihren Feuern und Qualen auszuschöpfen.

Das war Franzens Leben.

Das hatte der Dumpfklang seiner Abwehr auch heute am Morgen wieder gesungen.

Das war der Fluch, den Franz Popjel mit sich trug. So daß Eduard auch heute wieder, wie Franz in dumpfem Hasse das Haus verlassen hatte, erschüttert und von einem versengenden Gefühl angerührt, ihm sehnsüchtig nachgeblickt, ganz erfüllt von Liebe zu dem dunklen Menschen. Bis dessen zarte, gebrechliche Gestalt um die Straßenecke verschwunden war.


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