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Als Eduard am Abend in die Wohnung zurückkehrte, kam Hellen Raddas mit ihm. Frau Popjel, die ein Seidenhäubchen über ihren dünnen, grauen Scheiteln trug, lachte ihnen zu, obwohl Hellen Raddas auch nicht ganz nach ihrem Geschmacke war.
Franz nannte Hellen eine Geiertaube. Er wollte ausdrücken, daß sie eine seltsame Doppelnatur besitze. Er behauptete auch, daß er nie grünere Augen gesehen hätte. Und daß ihre Augen, die eisig oder weich, tief oder spitz spielen könnten je nach Wunsch und Belieben, die Augen einer Kupplerin wären.
»Die würde ihrer Hündin auch Senfbrot zu essen geben, damit das Hündlein ewig weinte,« sagte Franz, »und würde dann den züchtigen Mädchen vorreden, das trostlose Geschöpf wäre ihre verwunschene Schwester und wäre nur durch hartnäckige Keuschheit in solchen Fluch geraten«. Wie es in der Legende erzählt wird.
Nun das waren Reden eines Eifersüchtigen. Das waren Franzens schwelende Gefühle.
Franz beliebte es manchmal, Hellen Raddas in seinen heimlichen Gedanken zu verfolgen.
Hellen war eine anerkannte Künstlerin. Und jung und lustig obenein. Sie hatte gar keinen Sinn für sein vergrabenes Wesen. In ihr war alles klar, fast gläsern hell. Ihre Worte und ihr Lachen hatten etwas Kühles und Sprödes. Und ein selbstsicheres Gefühl trug sie, daß Eduard mit seinen Geigengesängen ohne ihre reichen, freien, gerundeten Akkorde und Kantilenen sein Werk vor dem Publikum nicht gut hätte bestehen können.
Franz nannte Hellen, wenn er sich zufällig daran erinnerte, wie sehr sie Eduard für sich in Beschlag nahm, vor sich hin auch noch mit gemeineren Namen. Weil es ihm zu Zeiten gradezu wohltat, etwas Kränkendes und Verwahrlostes aus seiner Brust heraus zu stoßen.
Wenn Frau Popjel das Mißtrauen gegen Hellen teilte, hatte auch bei ihr die Eifersucht großen Anteil.
Eduard ging oft mit Hellen. Sie machten zusammen ihre Wege in den Stadtstraßen oder auf den Promenaden. Und Eduard war mit ihr im wirklichen Sinne kindlich vertraut.
Übrigens war es Frau Popjel heute angenehm, daß Hellen mit Eduard zusammen eintrat.
Es war kaum eine Stunde, daß Franz hinaus war. Und wenn Eduard allein gekommen wäre, hätte sie seine Fragen gefürchtet.
Aber Eduard fragte gar nicht. Eduard brachte einen ganz arglosen, heiteren Ton mit in den dämmrigen Zimmerraum.
»Warum hast Du nicht Licht gemacht, Mutter?« weiter fragte er nichts.
Die alte, runzelige, kleine Dame lachte leise und lief nach der Lampe, die bald auf dem Tische brannte.
Hellen Raddas hatte gleich im Scheine des Lichtes am Tische Platz genommen.
Hellen sah in ihrem dunkelblauen, schlanken, englischen Winterkostüm sehr anmutig aus. Sie hatte einen blaßgrünen Shawl ums ganz braune Haar gewickelt. Das Haar, das in der Sonne wie braunes Herbstlaub glänzen konnte, mit einem Schein in Rotgold, war schwer und voll. Es umrahmte die ein wenig knochigen Formen des eigenartigen, langen Gesichtes. Die Nase war leicht schief, aber bedeutend und schön. Die Haut war gleichmäßig rein, einen Schimmer bräunlich. Die Lippen offen und groß, aber fein.
Wenn sie so dasaß, lag vieles wie achtlos hinter ihr. Da konnte sie auch Eduard gradezu zuwider sein. Dann deuchte es ihm, daß sie ihn mit ihrem Hochmut locken wollte. Oder gar, wenn sie vor ihm so hin spielte, tragische Schwermut und absichtliche Blödigkeit im Ausdruck abwechselnd, jäh wie Wolken vor der Sonne.
Wenn Fräulein Raddas so stumm dasaß, wie jetzt, mußte auch Frau Popjel immer ein wenig ihre Geduld bändigen, und heimlich Franzes niederträchtigen Worten durchaus Recht geben.
Aber an dem Abend blieb alles sanft und leise.
Frau Popjel fragte Eduard nur, ob er mit seinen Aussichten fürs Konzert zufrieden wäre.
Man sprach auch von den großen Anschlagszetteln. Man lachte über den Künstleraberglauben.
Eduard schilderte drollig, daß er sich jede große Erwartung systematisch aus den Gedanken triebe.
»Sobald mir auch nur die leiseste Idee von irgend einer solchen Lage kommt z. B., daß ich mich ans Ende des Konzertes träume, und nun die tausend Menschen mir frenetisch zujubeln, so zwicke ich mich gleich fest in die Haut oder sehe einfach in die Blendung der Sonne,« sagte er lachend.
Man tändelte dann auch nach dem kleinen Abendbrot, das Frau Popjel herzu getragen, mit zwei weißen Angorakatzen, Eduards Lieblingen. Er hatte sie selber nach Tisch herzu geholt. Und der Abend war bisher sehr ruhig und heiter hingegangen.
Da hatte Fräulein Hellen die Rede ganz ahnungslos auf Franz gebracht.
Eduard hatte kaum zugehört zuerst.
Weil er in einer dunklen Zimmerecke stand, um mit einem Lederlappen Funken aus dem weichen Katzenfell heraus zu streichen, war er nur ganz leidenschaftlich beschäftigt, wie ein Kind, das sein Spiel keinen Augenblick vergißt.
Er fragte sehr achtlos noch einmal, weil er nicht genau gehört hatte. Indessen sich der braun umhangene, launige Künstlerkopf lachend umsah, um die Aufmerksamkeit der Frauen noch mehr auf sein Spiel hinzulenken.
Da sah Eduard, daß die Mutter ganz schwermütige Augen machte und wie in einem Schrecken vor sich hinsah. Noch hinterrücks hatte Frau Popjel versucht, Fräulein Hellen ein Zeichen zu geben.
Das ahnte Eduard jetzt.
Da hatte er auch schon seine harte Miene angenommen und mit sehr gehässigen Fragen in Fräulein Raddas zu dringen begonnen.
»Was? . . . von Franz? . . . was sprechen Sie da? . . . nun? wissen Sie denn was von Franz?« sagte er hastig.
»Herrgott, Eduard, Sie brüllen mich ja an!« sagte Hellen eingeschüchtert.
»Lassen Sie den Ton Ton sein! . . . der Ton ist ganz gleichgültig . . . wenn ich brülle, so ist das eine Unart . . . aber das hat mit der Sache gar nichts zu tun . . . was wissen Sie von Franz?« . . . sagte er hart.
»Was wollen Sie denn eigentlich von mir?« sagte Hellen sehr sanft. Es tat ihr Leid, daß sie die Rede auf Franz gebracht hatte.
»Ich begreife Sie gar nicht, Eduard . . . ich hätte mir wahrhaftig niemals denken können!« . . . Sie konnte ihren Satz gar nicht vollenden, weil sie in Eduards gereizte Blicke hinein sah.
»Sie hätten sich wahrhaftig niemals denken können . . .« schrie Eduard plötzlich noch mehr aufgebracht. »Schlimm genug, wenn Sie im Popjelschen Hause verkehren, und noch immer nicht das große, beschämende Geheimnis wissen, das uns Tag und Nacht heimlich in die Ohren gellt.«
»Sie sind doch geradezu rein verrückt mit Ihrer Schroffheit, Eduard,« sagte Hellen sehr bestimmt und spröde. »Nehmen Sie sich doch ein bissel zusammen . . . vor Ihrer Mutter wenigstens . . . Sie sind doch kein Kind . . . Sie sind doch ein großer Künstler,« versuchte sie ein wenig drollig zu sagen.
Eduard merkte, daß sie lächelte und mußte auch lachen. Aber gar nicht etwa, um sich jetzt zu beruhigen. Er nahm nur einen noch jämmerlicheren, gequälteren Ton an, der Hellen direkt mitleidig stimmte.
»Sehen Sie mich einmal sehr genau an, meine liebe Hellen,« sagte Eduard flehentlich und doch streng in Hellens helle Augen hinein. »Sie wissen das noch nicht . . . Mutter hat nämlich gar nicht zwei Söhne . . . Mutter hat nur einen Sohn . . . das ist Franz . . . ich bin nur ihr Engel!« schrie er heraus.
»Meine geliebte Hellen . . . helfen Sie mir! . . . helfen Sie mir! . .« sagte ganz ratlos Frau Popjel.
Hellen sah jetzt in der Mutter Gesicht, das fahl und erschrocken war, und sah dann zu Eduard hinüber, der über die weiße zottige Katze mit zitternden Händen jäh hinstrich.
»Ich sage Wahres . . . so ist es! . . .« schrie er und ließ die Katzen, die aufgescheucht zu miauen begannen, und lief im Zimmer hastig hin und her. »Ich bin ein spielender Narr! . . . er ist ein Mensch, der das Leben lebt . . . nur weiß ich nicht was? . . . wo? . . . wie? . . . Sie scheinen seine Gänge zu kennen . . . wo läuft er denn hin, wenn er sich nachts aus dem Bette stiehlt? . . . wo war er denn, wenn er frühmorgens am Frühstückstische erscheint wie einer, der in der Nacht einen Mord begangen? . . . ich weiß gar nichts . . . Mutter und Franz sagen mir nichts,« stieß er hastig hervor und wühlte sich mit seiner langen Hand in seinen braunen Haaren herum.
»Mutter und Franz sagen mir nichts . . . ich bin ihnen zu rein . . . ich bin ihnen zu unschuldig . . . ich bin ein zu großer Künstler . . . man muß Rücksichten auf mich nehmen . . . ich muß in guter Spiellaune erhalten werden . . . ich weiß gar nichts . . . wo ist denn Franz heute wieder hin?« schrie er mit noch härterem Tone. »Weißt Du gar nichts, Mutter? . . . das ist ein Fluch, der auf mir lastet. Richtig . . . richtig, machten Sie nicht unterwegs schon Anspielungen auf Franz,« sagte er schroff zu Hellen. »Aber ich habe es gar nicht begriffen . . . ich war zu närrisch in so einer verfluchten Partitur befangen . . . ich bin wirklich zu kindlich . . . ich verfluche diese kindliche Reinheit, die mir niemand verderben will,« stieß er hervor. »So sagen Sie es doch wenigstens einmal Mutter ehrlich ins Gesicht, daß sie Franz ganz unsinnig in seinem Leichtsinn unterstützt . . . Ja . . . das tut sie . . . das muß sie tun . . . sonst ist Franzens Leben gar nicht zu erklären..«
»Liebe, gute Mutter,« wandte er sich jetzt leidensvoll und gütig an die kleine, zärtliche Frau, und streichelte ihr Gesicht.
Aber Frau Popjel weinte nur.
Aus ihr war gar nichts heraus zu bekommen.
Der sinnlose Ausbruch Eduards hatte auch Hellen ganz in sich hinein getrieben.
Auch sie streichelte jetzt Frau Popjel.
»Seien Sie doch vernünftig, Eduard!« sagte sie ganz leise und nebenher. »Daß Franz nicht maßvoll lebt, weiß doch ein jedes von uns . . . und Worte werden daran nichts ändern . . .«
Es schien, als wenn jetzt auch Eduard ganz stille geworden.
Aber er blieb nicht stille.
Die ganze Angst kroch aus Hellens Worten noch einmal neu über ihn.
»Nein nein nein . . . Worte werden daran gar nichts ändern . . . nur die Wahrheit wird daran etwas ändern . . . Fräulein Hellen . . . was wissen Sie von Franz? . . . Sie sind meine Freundin nicht mehr . . . ich werde Sie verachten, wie ich darin meine Mutter verachte, wenn Sie mir jetzt nicht alles sagen, was Sie wissen . . . wenn Sie Mutter und mir nicht ganz reinen Wein einschenken! . . .« schrie er und gestikulierte mit seinen geballten Händen.
Aber Fräulein Raddas hatte zärtlich seine Hände ergriffen und hielt sie fest und zog ihn so an den Flügelstuhl heran. Und sie redete leise in ihn hinein, weil sie sah, daß Eduards Hände blaß geworden waren, wie die eines Toten.
Sie erzählte ihm im Grunde gar nicht viel.
Ein Musiker hatte Franz am Morgen auf einer Bank im Bahnhofswartesaal dritter Klasse liegen gesehen, bleich und tief eingeschlafen und in einer Art Arbeitskittel, am Leibe ziemlich verwahrlost.
Da war Eduard endlich ganz stille für sich geworden.
Den ganzen Abend blieb er scheu und beschämt, wie ihn Hellen gar nicht kannte.
Wie eine eisige Luft hatte der verhärmte, gütige Mensch um sich. Sobald Hellens Blick oder der der Mutter ihn suchte, lächelte sein braunes Auge kindlich.
Und wie Hellen hinaus war, harrte er einsam bis tief nach Mitternacht.
Er konnte nicht einschlafen, solange er Franz nicht daheim wußte.
Franz kam wirklich gegen zwei Uhr heim.
Eduard ging ihm entgegen. Ganz zärtlich war er zu ihm.
Franz tat auch wie arglos und selbstverständlich. Er nahm es hin, daß ihm Eduard im Hemde aus dem Büffet einige Stücke Semmel und Fleisch brachte und ihn ohne Absicht ansah.
Eduard schlief dann erst tief ein, als er bemerkt hatte, daß Franz in dieser Nacht durchaus nicht verwahrlost, sondern völlig geordnet aussah, und einen ganz ruhigen Blick zur Schau trug.