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XXIV
Unsere Erörterungen über sein »Lieblingslaster« und über die Bestrafung

Kurze Zeit darauf wurde ich nach Monte Carlo berufen und fuhr auf ein paar Tage hinüber. Als ich Oscar verließ, war er nach seiner Aussage vollkommen glücklich; er hatte gutes Essen, vorzüglichen Champagner, Absinth und Kaffee und seine Freunde, die harmlosen Fischer.

Aber bei meiner Rückkehr nach La Napoule fand ich alles verändert, und zwar zum Nachteil verändert. Da war ein Engländer aus guten Kreisen, namens M., der im Hotel wohnte. Er reiste in Begleitung eines siebzehn- oder achtzehnjährigen jungen Menschen, den er für seinen Diener ausgab. Und Oscar wünschte zu wissen, ob ich gegen seine Bekanntschaft etwas einzuwenden hätte.

»Er ist reizend, Frank, sehr belesen und ein großer Verehrer von mir: du hast doch nichts dagegen, daß er mit uns speist, nicht wahr?«

»Gewiß nicht«, erwiderte ich. Aber als ich M. zu Gesicht bekam, machte er auf mich den Eindruck eines unbedeutenden, törichten Menschen, der eine große Verehrung für Oscar zur Schau trug und seine Worte mit offenem Munde verschlang. Und das konnte man wohl verstehen, da er selbst wohl schwerlich geistige Fähigkeiten aufzuweisen hatte. Aber er besaß eine gewisse Neigung zur Dichtkunst und zur erotischen Literatur.

Zu meiner Überraschung war Oscar reizend zu ihm, – meines Erachtens hauptsächlich, weil er vermögend war und Oscar dringend bat, die Sommermonate auf irgendeiner Besitzung in der Schweiz mit ihm zu verbringen. Dieser Rückhalt machte Oscar für jeden Einfluß unzugänglich, den ich sonst vielleicht auf ihn gehabt hätte. Meine Frage, ob er während meiner Abwesenheit schriftstellerisch gearbeitet hätte, beantwortete er ganz obenhin:

»Nein, Frank, ich glaube nicht, daß ich überhaupt noch imstande sein werde, etwas zu schreiben. Was hat es denn auch für einen Zweck? Ich kann mich nicht zum Schreiben zwingen!«

»Und deine ›Ballade vom Fischerknaben‹?« fragte ich ihn.

»Drei oder vier Strophen habe ich schon gedichtet«, sagte er und lächelte mir zu, »ich habe sie im Kopf«, und er trug mir zwei oder drei vor, von denen die eine ganz gut, aber keine etwas Besonderes war.

Da ich ihn mehrere Tage nicht gesehen hatte, fiel es mir auf, daß er wieder anfing, stark zu werden: die üppige Lebensweise und das andauernde Trinken schienen sichtbare Spuren zu zeitigen. Und allmählich wurde sein Aussehen wieder dasselbe wie in der alten Londoner Zeit, kurz vor der Katastrophe.

Da bat ich ihn eines Morgens, die Verse, die er mir vorgetragen hatte, zu Papier zu bringen. Aber er weigerte sich, und als ich weiter in ihn drang, rief er:

»Laß mich in Ruhe, Frank, vorgeschriebene Aufgaben erinnern mich an die Gefangenschaft. Du weißt nicht, wie ich selbst die Erinnerung daran verabscheue, sie war erniedrigend und unmenschlich!«

»Die Gefangenschaft ist ein Glück für dich gewesen.« Ich konnte diese Antwort nicht unterdrücken, denn ich ärgerte mich über seine Worte, die ich für eine leere Ausrede hielt. »Als du aus dem Zuchthause kamst, ging es dir gesundheitlich besser, und du warst kräftiger, als ich dich je gesehen habe. Die karge Lebensform, die regelmäßige Zeiteinteilung und die unerläßliche geschlechtliche Enthaltsamkeit haben Wunder an dir getan. Deshalb hast du die herrlichen Briefe an die ›Daily Chronicle‹ und ›Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading‹ schreiben können. Der Staat sollte dich wirklich wieder ins Zuchthaus schicken und dich dabehalten.«

Zum erstenmal in meinem Leben las ich bittere Abneigung aus seinen Blicken.

»Du redest gefährlichen Unsinn, Frank«, gab er mir zur Antwort. »Schlechtes Essen bekommt jedem schlecht, der Verzicht auf den Tabak ist mir die reine Folter, und die geschlechtliche Enthaltsamkeit ist ganz ebenso naturwidrig und ungeheuerlich wie der Hunger: mir ist beides verhaßt. Selbstverleugnung ist das sichtbare Geschwür an dem aussätzigen Körper der Christenheit.«

Mr. M… begleitete diese Worte mit beifälligem Kichern und reizte selbstverständlich meine Streitbarkeit, die stets allzu rege ist.

»Alle großen Künstler«, erwiderte ich, »mußten Enthaltsamkeit üben; nur die Enthaltsamkeit verleiht dem Körper und dem Geist Frische und Spannkraft und schafft dabei einen bleibenden Bestand von ungewöhnlicher Energie. Deine Freunde, die Griechen, gestatteten einem Ringkämpfer nur, die Palästra zu betreten, wenn er zuvor ein ganzes Jahr vollkommen enthaltsam gelebt hatte. Auch Balzac übte Enthaltsamkeit und rühmte ihre Vorzüge, trotzdem er – weiß Gott! – das ganze honigsüße Laster von Paris geliebt hat!«

»Du bist in einem hoffnungslosen Irrtum befangen, Frank, – was für einen Wahnsinn wirst du nun noch lehren! Du quälst mich immer mit dem Schreiben, und jetzt empfiehlst du mir wahrlich noch Enthaltsamkeit und ›blaue Grütze‹, obwohl ich zugeben muß«, fügte er lachend hinzu, »daß deine ›blaue Grütze‹ alle ›Unzüchtigkeiten‹ der Jahreszeit enthält und obendrein noch Champagner, Mokka und Absinth. Aber zweifellos wirst du zu puritanisch. Es ist albern von dir, und neulich hast du die herkömmliche Liebe gegen meine ideale Leidenschaft verfochten.«

Er reizte mich, denn seine Tonart hatte gewissermaßen etwas verächtlich Überhebsames. Doch ich schwieg: in M.'s Gegenwart wollte ich ihm die Erwiderung nicht geben, die er unter vier Augen wohl erhalten haben würde.

Aber Oscar war entschlossen, auf seiner eigenartigen Anschauung zu bestehen. Nach ein bis zwei Tagen kam er sehr erhitzt und aufgeregt nach Hause, – zorniger, als ich ihn je zuvor gesehen hatte.

»Kannst du dir denken, was vorgefallen ist, Frank?«

»Nein. Hoffentlich nichts Ernstes.«

»Ich saß an der Landstraße, die nach Cannes führt, und las gerade in meinem Virgil, den ich mir mitgenommen hatte. Als ich nun lesend dasaß, blickte ich zufällig von meinem Buche auf, und wen sehe ich? Niemand anders als George Alexander – George Alexander auf einem Zweirad! Wir sind früher sehr befreundet gewesen, und so stand ich selbstverständlich auf und ging ihm entgegen, denn ich freute mich sehr, ihn zu sehen. Aber er wandte den Kopf ab und radelte absichtlich an mir vorüber. Er wollte mich, schneiden. Ich weiß ja, daß er kurz vor der Gerichtsverhandlung in London meinen Namen vom Theaterzettel entfernt hat, obwohl mein Lustspiel weiter aufgeführt wurde. Aber ich habe ihm deshalb nicht gezürnt, trotzdem er sich wohl ebenso anständig benehmen konnte wie Wyndham Der Vorfall, auf den sich diese Bemerkung bezieht, verdient erwähnt zu werden, weil er der Menschlichkeit zur Ehre gereicht. Gerade als die Gerichtsverhandlung gegen Oscar stattfand, hatte Charles Wyndham sein Theater »Criterion« an Lewis Waller und H. H. Morell verpachtet, um den »Idealen Gatten« aufzuführen, der über 100 Mal im »Haymarket-Theater« gespielt worden war. Als Alexander Oscars Namen vom Theaterzettel entfernte, schrieb Wyndham den jungen Direktoren, daß er ihnen gestatten würde, ihren Vertrag zu lösen, sofern sie es unter den veränderten Verhältnissen wünschten. Aber wenn sie ein Wildesches Lustspiel »auf den Spielplan setzten«, so müßte der Name des Verfassers in üblicher Weise auf allen Theater- und Anschlagzetteln stehen. Er könnte nicht gestatten, daß sein Theater dazu benutzt würde, einen Mann zu beleidigen, der vor Gericht stand., der keine Verpflichtungen mir gegenüber hatte – findest du das nicht auch?

»Hier wäre er doch von keinem gesehen worden, und doch hat er mich geschnitten. Wie roh die Menschen sind! Sie strafen mich nicht nur in ihrer Gesamtheit, sondern versuchen jetzt auch noch, mich als Einzelwesen zu strafen, und letzten Endes habe ich nichts Schlimmeres getan als sie. Welcher Unterschied besteht zwischen den verschiedenen Formen der geschlechtlichen Befriedigung? Die Heuchelei und die Heuchler sind mir verhaßt! Denk' nur, daß Alexander – derselbe Alexander, der an meinen Werken sein ganzes Geld verdient hat – mich schneidet! Es ist zu gemein. Würdest du darüber nicht zornig sein, Frank?«

»Das will ich meinen«, erwiderte ich kühl, in der Hoffnung, daß der Vorfall ihn aufrütteln würde.

»Ich habe mich stets gewundert, daß du Alexander ein Theaterstück überlassen hast. Du hast ihn doch gewiß nicht für einen Schauspieler gehalten?«

»Nein, nein«, rief er, und plötzlich erhellte ein Lächeln seine Züge. »Alexander spielt nicht auf der Bühne, – er führt sich auf. Aber ist das nicht niederträchtig von ihm gewesen?«

Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, denn der Hieb war wohlverdient.

»Fang' ein neues Theaterstück an«, sagte ich zu ihm, »und alle Alexanders werden dir sofort wieder zu Füßen liegen. Wenn du hingegen nichts leistest, hast du Schlimmeres zu gewärtigen als unhöfliches Benehmen. Die Menschen verurteilen gar zu gern das Lieblingslaster ihrer Nebenmenschen. Du müßtest die Welt doch mittlerweile kennen gelernt haben.«

Er ließ diese Anregung zur Arbeit ganz unbeachtet und fuhr zornig dazwischen:

»Was du ein Laster nennst, Frank, das ist kein Laster; nach meinen Begriffen ist es etwas ebenso Gutes, wie es in Cäsars, Alexanders, Michelangelos und Shakespeares Augen war. Erst durch das Mönchtum wurde es zur Sünde gestempelt, und in neuerer Zeit ist es von den Barbaren – den Deutschen und Engländern – zum Verbrechen gemacht worden, – von den Völkern, die inzwischen wenig oder gar nichts geleistet haben, um die Ideale der Menschheit zu veredeln oder zu erhöhen. Sie verdammen alle die Sünden, zu denen sie keine Neigung verspüren, und das ist dann ihre Sittlichkeit. Es ist eine rohe Rasse: sie essen zuviel und trinken zuviel und verurteilen die Fleischeslust, während sie in den niedrigsten Sünden des Geistes schwelgen. Wenn sie das 23. Kapitel im Evangelium des Matthäus lesen und sich das zu Herzen nehmen würden, könnten sie mehr lernen, als wenn sie einen Genuß verurteilen, den sie nicht verstehen. Ja, sogar Bentham hat es abgelehnt, das, was du ein ›Laster‹ nennst, in sein Strafregister aufzunehmen, und du hast selbst zugegeben, daß es nicht als Verbrechen bestraft werden dürfte, denn es wirkt nicht als Versuchung. Es mag eine Krankheit sein, aber wenn das der Fall ist, so scheinen nur die höchstorganisierten Wesen von ihr betroffen zu werden. Es ist schmachvoll, das zu bestrafen. Der menschliche Verstand ist nicht in der Lage, ein Argument ausfindig zu machen, durch das diese Strafe gerechtfertigt wird.«

»Darauf darfst du dich nicht zu fest verlassen«, lautete meine Erwiderung.

»Ich habe niemals ein überzeugendes Argument zur Verurteilung gehört, Frank, und glaube nicht, daß es solch eine vernunftgemäße Einsicht gibt.«

»Vergiß nicht«, antwortete ich, »daß die Gepflogenheit, die du verteidigst, von hundert Generationen der zivilisiertesten Rassen auf Erden verurteilt wird.«

»Das geschieht nur aus Vorurteil von Seiten der Ungebildeten, Frank.«

»Und was ist ein derartiges Vorurteil?« fragte ich ihn. »Die vernunftgemäße Einsicht von tausend Menschengenerationen, die, durch jahrhundertalte Erfahrungen geheiligt, ihnen in Fleisch und Blut übergegangen und zum Gefühlsinhalt geworden ist, – also nicht mehr ein einfaches Argument. Ein solches Vorurteil, das von den Mitgliedern zwölf verschiedener Rassen aufrechterhalten wird, wäre mir lieber als ungezählte Vernunftgründe. Ein solches Vorurteil ist fleischgewordene Vernunft, die durch uralte Erfahrungen bestätigt wird.

»Was für ein Argument machst du denn gegen den Kannibalismus geltend? Aus welchem Vernunftgrund dürfen wir die kleinen Kinder nicht für den Bratspieß mästen und ihr Fleisch nicht essen? Wie uns Afrikaforscher berichten, ist Menschenfleisch schmackhafter als jede andere Fleischsorte, – zarter und zugleich viel nahrhafter: also lauter Vernunftgründe, die dafür sprechen. Lediglich das Vorurteil, das geheiligte Vorurteil, – ein gefühlsmäßiger Ekel, der uns überkommt, wenn wir nur daran denken, hindert uns doch wohl, dieser Neigung zu frönen.

»Es scheint mir, daß die Menschheit mühsam eine hohe Bergwand emporklimmt, die von der Tierheit zur Gottheit führt: immer wieder sind ganze Generationen und zuweilen ganze Rassen zurückgeglitten und im Abgrund versunken. Jedesmal wenn ein Mensch gestrauchelt ist, werden die Überlebenden von Angst und Grauen ergriffen, und diese Empfindungen sind im Laufe der langen Zeit triebhaft geworden. Und nun kommst du daher und verlachst ihre Ängste und erzählst ihnen, daß Menschenfleisch eine vorzügliche Speise und unfruchtbare Umarmungen die edelste Form der Liebe sind. Die Menschen schaudern vor dir zurück, sie verabscheuen und strafen dich, und wenn du auf deiner Ansicht bestehst, werden sie dich ums Leben bringen. Wer darf behaupten, daß sie im Unrecht sind? Wer darf ihrer triebhaften Abwehr spotten, die in langen, erfolgreichen Mühen ihre Weihe empfangen hat?«

»Ich muß gestehen, daß das eine schöne rhetorische Leistung ist«, erwiderte er, »aber nichts anderes als eine rhetorische Leistung. Noch nie ist mir eine derartige Verteidigung des Vorurteils zu Ohren gekommen, und ich hätte sie nicht von dir erwartet. Du gibst also zu, daß du dieses Vorurteil nicht besitzest, daß du das Grauen und den gefühlsmäßigen Ekel, den du schilderst, nicht empfindest. Weshalb? Weil du gebildet bist, Frank, weil du weißt, daß die Leidenschaft, die Sokrates empfunden hat, keine niedrige Leidenschaft war, weil du weißt, daß Cäsars Schwäche – wie wir es nennen wollen –, daß Michelangelos oder Shakespeares Schwäche nicht verabscheuenswert ist. Wenn das sinnliche Verlangen nicht gerade ein charakteristisches Merkmal des höchsten Menschentums bildet, so ist es doch wenigstens mit ihm vereinbar.«

»Das kann ich nicht zugeben«, antwortete ich. »Zuvörderst wollen wir Shakespeare aus dem Spiel lassen, sonst müßte ich von dir die Beweise seiner Schuld verlangen, – und die gibt es nicht. In Bezug auf die anderen möchte ich einwenden, daß wir die Stufe, auf der bedeutende Menschen stehen, nicht dadurch erreichen, wenn wir ihre Laster und Schwächen nachahmen. Und gesetzt den Fall, daß wir vom Schicksal ausersehen sind, höher zu steigen als sie, so müssen wir ihre Schwächen ängstlich meiden.

»Bisher habe ich noch nicht einmal den Versuch gemacht, dir die gewichtigsten Vernunftgründe vorzuhalten, ich habe gemeint, daß du sie in deinem eigenen Geiste finden solltest; aber du wirst sicherlich einsehen, daß die geschichtlichen Beweise gegen dich zeugen. Dieses Laster, dem du huldigst, schwindet aus dem Leben wie der Kannibalismus; es gehört nicht mehr zu den Gepflogenheiten der höchstorganisierten Rassen. Die Griechen mögen es als etwas ganz Natürliches betrachtet haben, für uns ist es etwas Unnatürliches. Schon in Athen ist es von den Besten verurteilt worden: Sokrates war stolz darauf, daß er sich diesem Laster niemals hingegeben hat, und in der ganzen neueren Zeit wird es mit Verachtung gestraft. Du mußt einsehen, daß die gesamte fortschreitende Entwicklung der Welt, daß die Gedankenrichtung aller Gebildeten gegen dich spricht, daß du eine neue ›Spielart‹, ein absonderliches, abnormes Wesen, ein Mensch mit sechs Fingern bist: aber nicht etwa eine ›Spielart‹, die für die Zukunft verheißungsvoll ist, sondern eine ›Spielart‹ aus der dunklen Vergangenheit, aus dem Abgrund der Zeiten, – ein Entwicklungsstillstand.«

»Du bist scharf, Frank, ich möchte beinahe sagen grob.«

»Sei mir nicht böse, Oscar, sei mir bitte nicht böse; ich sage das nur, weil ich möchte, daß du endlich die Augen aufmachst und die Dinge so ansiehst, wie sie sind.«

»Aber ich habe gedacht, daß du auf unserer Seite stehst, ich habe wenigstens gedacht, daß du die Bestrafung mißbilligst und an den Wert der grausamen Bußen nicht glaubst.«

»Ich stehe jeder Strafe ungläubig gegenüber«, sagte ich, »durch Liebe, nicht durch Haß müssen die Menschen erlöst werden. Ich glaube auch, daß die Zeit bereits gekommen ist, um ein besseres Gesetz zur Anwendung zu bringen, und vor allem mißbillige ich die Strafe, die einen Menschen, einen Künstler deiner Art, der schöne und entzückende Werke geschaffen hat, ebenso züchtigt, als wenn er nichts geleistet hätte. Das Gute, das du vollbracht hast, müßte wenigstens gegen das Böse aufgewogen werden. Ich habe es stets ungeheuerlich gefunden, daß du wie ein Mann vom Schlage Taylors bestraft worden bist. Die Franzosen haben Verlaine richtig behandelt: sie haben die Sünde verurteilt und dem Sünder um seiner genialen Begabung willen verziehen. Die Strenge, die in England geübt wird, ist nichts als puritanische Heuchelei, Kurzsichtigkeit und Rassenhochmut.«

»Ich kann nur das eine sagen, Frank, daß ich dem sinnlichen Verlangen des einzelnen keinerlei Schranken setzen würde. Mit welchem Recht straft uns die Gesellschaft, wenn sie nicht beweisen kann, daß wir einen anderen gegen seinen Willen benachteiligt oder geschädigt haben? Überdies verkümmerst du das Leben, wenn du der Leidenschaftlichkeit Schranken setzest, du schwächst die Hauptquelle der Kunst und schmälerst das Reich der Schönheit.«

»Jedes Gemeinwesen«, erwiderte ich, »und auch die meisten Einzelwesen strafen das, was ihren Widerwillen erregt, gleichviel, ob es recht oder unrecht ist. Es gibt schlechte Gerüche, die keinen Menschen beeinträchtigen, und dennoch würden die Leute, die sie erzeugen, verklagt werden, weil sie eine gemeinschädliche Handlung begehen. Und auch dein Einwand, daß das Leben verkümmert wird, wenn man der freien Wahl der Leidenschaftsbetätigung Schranken zieht, macht auf mich keinen Eindruck. Ich glaube im Gegenteil beweisen zu können, daß die Leidenschaft, d. h. die sinnliche Sehnsucht, die der Mann nach der Frau und die Frau nach dem Manne empfindet, in der neueren Zeit gewaltig zugenommen hat. Das Christentum hat die Keuschheit erzeugt oder zum mindesten gezüchtet, und die Keuschheit hat das sinnliche Verlangen gesteigert. Das Christentum hat dazu beigetragen, die Frau zur ebenbürtigen Gefährtin des Mannes zu erheben, und diese moderne geistige Entwicklung hat wiederum die Leidenschaft über alle Begriffe vertieft. Die Frau, die nicht die Sklavin, sondern die Kameradin ist, die sich aus eigenem Antriebe verschenkt, ist bei weitem begehrenswerter für den Mann als irgendeine demütige Leibeigene, die stets seines Winkes gewärtig ist. Und diese Bewegung, die die Leidenschaft vertieft, wird mit jedem Tage kraftvoller.

»Die Liebe, die wir in uns tragen, ist viel edler als die Liebe der Griechen, sie ist bei weitem edler und inniger, als die Römer sie je empfunden haben. Unsere Sinnlichkeit gleicht einem Flusse, der durch steinerne Mauern eingedämmt ist; in dem begrenzten Räume steigen die Gewässer höher, und die Strömung drängt mit größerer Gewalt.«

»Du kannst reden, was du willst, Frank, du wirst mich doch nie zu dem Glauben bekehren, daß etwas schlecht sein soll, was nach meiner Überzeugung gut für mich ist. Angenommen, ich bevorzuge eine Speise, die für andere Leute Gift ist, und die dennoch meine Kräfte hebt, – dürften sie es wagen, mich zu strafen, weil ich sie genieße?«

»Sie würden behaupten«, erwiderte ich, »daß sie dich nur strafen, weil du andere veranlaßt, sie zu genießen.«

Da fuhr Oscar dazwischen: »Das ist nichts als einfältiges Vorurteil, Frank, die Welt wird allmählich duldsamer, und eines Tages werden sich die Menschen schämen, daß sie mich so grausam behandelt haben, ebenso wie sie sich jetzt der Folterstrafen schämen, die im Mittelalter üblich waren. Die ganze Gedankenrichtung entwickelt sich zu unseren Gunsten, und nicht gegen uns.«

»Das glaubst du doch selbst nicht«, rief ich, »wenn du wirklich glaubtest, daß die Menschheit deine Bahn beschreitet, wärst du entzückt gewesen, Galileis Rolle zu spielen. Anstatt im Zuchthaus ein Buch zu schreiben, das den Freund verurteilt, der dich preisgegeben und zur Schande getrieben hat, hättest du ein Buch geschrieben, das dein Tun rechtfertigt. Und du hättest laut gerufen: ›Ich bin ein Märtyrer, kein Verbrecher, und alle, die das Gegenteil glauben, sind im Unrecht.‹

»Du würdest zu den Geschworenen gesprochen haben: ›Trotz eurer Überzeugungen und wohlgehüteten Dogmen, trotz eurer Religion, eures Vorurteils und eures gegen mich gerichteten fanatischen Hasses seid ihr im Unrecht, und ich bin im Recht: die Welt dreht sich.‹

»Aber so hast du nicht gesprochen, und so denkst du auch nicht. Denn wenn du es tätest, würdest du dich freuen, daß du den Queensberry-Prozeß auf dich genommen hast, daß du angeklagt, daß du eingekerkert und bestraft worden bist, weil alle diese Umstände deine Rechtfertigung beschleunigen müssen. Aber du bedauerst sie alle, weil du in deinem Herzen weißt, daß du im Unrecht warst. Die alte Welt hat im wesentlichen recht: du bist's, der Unrecht hat.«

»Selbstverständlich kann man über jeden Punkt streiten, Frank, aber ich halte an meiner Überzeugung fest. Die urteilsfähigsten Menschen verdammen uns selbst jetzt nicht, und die Welt wird duldsamer. Ich habe mich vor Gericht nicht gerechtfertigt, weil mir gesagt worden war, daß meine Strafe milde ausfallen würde, sofern ich die üblichen Vorurteile berücksichtigte. Und als ich später um das Wort bat, hat der Vorsitzende es mir verweigert.«

»Und ich glaube«, lautete meine Entgegnung, »daß du hoffnungslos besiegt warst und deine Sache überhaupt nicht auskämpfen konntest, weil du gefühlt hast, daß der Zeitgeist gegen dich war. Wie wäre sonst ein törichter, beschränkter Richter imstande gewesen, dir mit einem Wink Schweigen zu gebieten? Glaubst du, er hätte mich zum Schweigen bringen können? Das hätten sämtliche Richter der ganzen Christenheit nicht bewerkstelligt. Ich möchte dir ein Beispiel anführen: Ich glaube mit Voltaire, daß die Keuschheit, wenn sie aus dem Leben verschwindet, als Prüderie in die Sprache übergeht. Ich bin ganz überzeugt, daß unsere jetzige Sitte, das Geschlechtsproblem aus der Literatur auszuschalten, notwendigerweise ein Ende nehmen, und daß eine freie und würdige Aussprache die Stelle unseres jetzigen sinnlich aufpeitschenden Vertuschungssystems einnehmen muß. Ich habe es bei den gegenwärtigen sozialen Verhältnissen in England, die uns noch immer mehr oder weniger unter das Joch des ungebildeten und prüden Philistertums unseres Mittelstandes zwingen, schon lange für möglich und sogar für wahrscheinlich gehalten, daß ich eines Tages vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden könnte, weil ich ein unzüchtiges Buch veröffentlicht habe. Die Strömung der Zeit scheint gegen mich zu sein. In den weitherzigen Tagen der Königin Elisabeth, in dem stilgerechten georgianischen Zeitalter war die Redefreiheit, die heute verpönt ist, an der Tagesordnung. Deshalb hat unsere beiderseitige Lage eine gewisse Ähnlichkeit. Glaubst du, ich würde mich vor den Folgen fürchten oder mich von irgendeinem Richter zum Schweigen bringen lassen? Ich würde meine Verteidigung vor dem Richter und vor den Geschworenen führen, – mit dem festen Glauben an meinen Sieg! Ich würde nicht beschönigen, was ich geschrieben habe, und mich nicht bemühen, es wegzuerklären, sondern versuchen, es zu bekräftigen. Jedes Wort würde ich rechtfertigen und zum Schluß den Richter und die Geschworenen darauf aufmerksam machen, daß mein endgültiger Triumph nur um so offenkundiger wäre, wenn sie mich verurteilen und bestrafen würden. Und ich würde rufen: ›Alle großen Männer der Vergangenheit, alle großen Geister der heutigen Zeit in anderen Ländern und einige der Bestgesinnten in England stehen auf meiner Seite. Verurteilt mich auf eigene Gefahr hin: ihr werdet euch nur selbst das Urteil sprechen. Ihr spuckt gegen den Wind, und die Schande wird auf euer eigenes Angesicht zurückfallen.‹

»Glaubst du, ich würde meiner Buße überlassen bleiben? Das möchte ich selbst in unserem heutigen England bezweifeln. Wenn ich im Recht bin und dessen sicher bin, dann würde eine unsichtbare Schar von Zeugen um mich sein, und du würdest einen seltsamen Stimmungsumschwung zu meinen Gunsten bemerken. Vermutlich würde der Richter mir einen Verweis erteilen und mich durch Bürgschaft verpflichten, zur Entgegennahme der richterlichen Entscheidung zu erscheinen. Aber wenn sein Urteilsspruch in gehässiger Form erfolgte, würde bei dem Innenminister Diese Zeilen wurden vor Jahren geschrieben, – ehe ein Innenminister Mr. Reginald Mac Kenna die Frauen und Mädchen in englischen Gefängnissen durch gewaltsame Speisung folterte, weil sie sich bemüht hatten, ein Gesuch für das Frauenstimmrecht einzureichen. Er rechtfertigte sich später im Parlament mit der Erklärung, daß »›gewaltsame Speisung‹ nicht unangenehm wäre«. Auch die Folterknechte zur Zeit der Inquisition übertünchten ihre Grausamkeit mit der scheinheiligen Unwahrheit, daß sie ihre Opfer verbrennen, aber kein Blut vergießen wollten. Verwahrung dagegen erhoben werden, und die Stimmung zu meinen Gunsten würde zunehmen, bis sie die Gegnerschaft aus dem Felde geschlagen hat. Das ist meines Glaubens tiefster Kern. Wenn ich nicht mit jeder Faser überzeugt wäre, daß diese arme, dumme Welt in ehrlichem Bemühen tastend die Stufen sucht, die zu Gottes Thron emporführen, und nicht in die Tiefe strebt, – so würde ich nicht eine Stunde in dieser Welt bleiben.«

»Weshalb sprichst du gegen mich, Frank? Es ist unmenschlich von dir.«

»Weil ich dich selbst jetzt noch dazu bewegen möchte, umzukehren und dich aus dem Sumpf herauszureißen. Du bist einige vierzig Jahre alt, und die stürmischsten Empfindungen des Lebens sind für dich vorüber. Kehr' um, solange es noch Zeit ist, setz' dich an die Arbeit, schreib' deine Ballade und deine Theaterstücke, und nicht nur die Leute von Alexanders Schlage, sondern alle Menschen, die wirklich mitzählen, die Besten in allen Ländern – das Salz der Erde – werden dir noch einmal alle Möglichkeiten bieten. Fang' an zu arbeiten, und alle werden dich auf Händen tragen: Nur durch die eigene Belastung versinkt man im Kot. Weshalb soll den Menschen an dir etwas gelegen sein, wenn du keine Früchte trägst?«

Er zuckte die Achseln und wandte sich mit geringschätziger Gleichgültigkeit von mir ab.

»Ich hab' genug getan, um ihre Achtung zu verdienen, und nur Haß geerntet. Jeder Mensch muß sich seinem Schicksal unterwerfen. Dem Himmel sei Dank, das Leben bietet manche Entschädigung. Es tut mir leid, daß ich dir nicht zu Gefallen sein kann.« Und beiläufig bemerkte er noch: »M. hat mich eingeladen, die Sommermonate bei ihm in der Schweiz, in Gland, zu verbringen. Ihm ist es gleichgültig, ob ich literarisch arbeite oder nicht.«

»Ich versichere dir«, rief ich, »daß ich wirklich nicht auf mein Vergnügen bedacht bin. Was habe ich davon, ob du literarisch arbeitest oder nicht? Ich bin nur auf dein eigenes Wohl bedacht.«

»Ach! laß mich mit meinem Wohl in Frieden! Unsere Freunde haben uns gern, so, wie wir eben sind; das fremde Publikum mag uns nach Belieben hassen oder verhöhnen.«

»Nun, ich hoffe, stets dein Freund zu bleiben«, erwiderte ich, »aber du wirst doch einsehen müssen, Oscar, daß jeder die Lust verliert, sich mit einer leeren Hülse abzugeben.«

»Du beleidigst mich, Frank.«

»Das liegt nicht in meiner Absicht; es tut mir leid; ich werde nie wieder so rücksichtslos – ehrlich sein; aber einmal mußtest du die Wahrheit zu hören bekommen.«

»So hast du mich also nur gern gehabt, Frank, weil ich mit dir übereinstimmte?«

»Ach! du bist nicht gerecht!« erwiderte ich. »Ich habe meine ganze Kraft aufgeboten, um dich vor einem seelischen Selbstmord zu bewahren. Wenn du aber darauf bestehst, kann ich dich nicht davor bewahren und muß weichen. Denn ich kann nichts ausrichten.«

»Du willst mir also nicht mehr helfen, bis der Winter zu Ende ist?«

»Selbstverständlich will ich das tun«, lautete meine Erwiderung, »ich werde alles halten, was ich dir versprochen habe, und noch mehr als das für dich tun. Aber von jetzt an ist mir eine Grenze gezogen, während bis jetzt mein Können die einzige Grenze war, – und nicht mein Wollen.«

In Napoule ereignete sich einige Tage später ein Zwischenfall, der mir Oscars Wesen gewissermaßen in einem neuen Streiflicht zeigte, da er mich erkennen ließ, wie er über mich dachte. Ich nehme keinen Anstand, seine Meinungsäußerung hier unverkürzt wiederzugeben, obgleich sein Geständnis den Abschluß eines inhaltlosen Abends bildete: Oscar hatte mit Mr. M. über die vornehmen Häuser in England und die vornehmen Leute geplaudert, mit denen er dort zusammengekommen war, und der Eindruck, den diese Unterhaltung auf M. gemacht hatte, war augenscheinlich ebenso groß wie meine Langeweile. Ich muß zunächst erwähnen, daß unser großes gemeinsames Wohnzimmer zwischen unseren beiderseitigen Schlafzimmern lag. In der Regel arbeitete ich des Morgens in meinem Schlafzimmer, während er die meiste Zeit außer dem Hause verbrachte. Aber gerade an diesem Morgen war ich zeitig ins Wohnzimmer gegangen, um ein paar Briefe zu schreiben. So hörte ich, wie er aufstand und in der Badewanne mit dem Wasser platschte; bald darauf muß er wohl in das Nebenzimmer gegangen sein, das von M. bewohnt wurde. Denn er fing plötzlich an, von einem Zimmer zum anderen ganz laut mit ihm zu sprechen, als ob eine bereits begonnene Unterhaltung durch die geöffnete Tür fortgesetzt würde.

»Selbstverständlich ist's eine Albernheit von Frank, wenn er überhaupt von seiner sozialen Stellung oder von den vornehmen Leuten in den englischen Gesellschaftskreisen spricht. Denn er hat nie eine soziale Stellung eingenommen, die mit der meinigen zu vergleichen ist.« (Die dreiste Tonart entlockte mir ein Lächeln, aber Oscars Worte entsprachen der Wahrheit; und ich habe auch niemals den Anschein erwecken wollen, daß ich mich in einer derartigen Stellung befinde.)

»Er hatte ein Haus in Park Lane und verfügte als Besitzer der ›Saturday Review‹ über einen gewissen Einfluß; aber ich war der Mittelpunkt jeder Gesellschaft, überall – in Clieveden, in Taplow Court und Clumber – war ich der gefeiertste Gast. Zum Unterschied von mir war Frank stolz darauf, mit Balfour zusammenzukommen, während Balfour stolz darauf war, mit mir zusammenzukommen; verstehn Sie?« (Ich war so aufmerksam bei der Sache, daß mir die Ungebührlichkeit des Lauschens gar nicht zum Bewußtsein kam; und ich mußte lächeln, als ich hörte, daß ich auf das Zusammensein mit Arthur Balfour stolz war: es wäre mir nie eingefallen, darauf stolz zu sein. Immerhin hatte Oscar gewiß im allgemeinen recht.)

»Es macht mir Spaß, wenn Frank von literarischen Dingen spricht; er maßt sich an, da neue Richtlinien aufzustellen – und er tut es auch: denn er stellt Amerika als Richter über Oxford und London hin, was so ziemlich dasselbe besagt, als wenn man Mazedonien oder Böotien als Richter über Athen hinstellen will, – es ist einfach lächerlich! Was können Amerikaner von der englischen Literatur verstehen? …

»Aber das Merkwürdige ist, daß er eine Menge gelesen hat und gewissermaßen einen guten Blick besitzt; seine Shakespeareschrift ist vorzüglich, aber er verwechselt Aufrichtigkeit mit der schönen Form, – und die Dichtkunst als solche gilt ihm nichts. Sie haben doch gestern abend gehört, daß er das selbst zugegeben hat …

»Er ist wirklich komisch und ganz sonderbar spießbürgerlich, wie alle Amerikaner. Denken Sie sich, wenn uns ein Mann im Pelzmantel die Klagelieder Jeremiä vorbeten würde! Frank ist komisch. Aber er ist doch wirklich gütig und tritt für seine Freunde ein. Er hat mir während der Gefangenschaft sehr beigestanden und betrachtet das verständnisvolle Mitempfinden als eine Art Religion: deshalb können wir zusammensein, ohne uns gegenseitig umzubringen, und auseinandergehen, ohne uns selbst das Leben zu nehmen …

»Wenn man mit ihm über literarische Dinge spricht, das ist ungefähr dasselbe, als wenn man Rugby-Fußball spielt … Wissen Sie, ich habe ja nie Fußball gespielt. Aber mit Frank über literarische Dinge zu sprechen, muß fast dasselbe sein, als wenn man Rugby spielt. Da wird man zum Schluß gewaltsam durch das eigene Tor gestoßen.« Und er lachte ganz entzückt.

Ich hatte gedankenlos zugehört, – wie ich seinem Gespräch häufig nur zuhörte, um den Wohllaut seiner Sprache zu genießen. Jetzt, als eine Pause in dem Monolog eintrat, ging ich ins Nebenzimmer, denn ich empfand es als Würdelosigkeit, wissentlich zu lauschen. Im ganzen genommen, war die Meinung, die er über mich geäußert hatte, nicht unfreundlich: es war ihm zuwider, irgendeine Ansicht zu hören, die mit der seinigen nicht übereinstimmte, und es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, daß Oxford am Meridian der Wahrheit nicht näher lag als Lawrence im Staate Kansas, und daß es vom Himmel gewiß mindestens ebensoweit entfernt war.

Einige Wochen später verließ ich La Napoule und fuhr zu Freunden auf Besuch. Oscar schrieb mir verdrießlich, daß der Ort ohne meine Anwesenheit trostlos sei. Darauf sandte ich ihm ein Telegramm und fuhr nach Nizza hinüber, um mich mit ihm zu treffen, und wir speisten zusammen im Café de la Régence. Oscar war furchtbar niedergeschlagen und dennoch widerspenstig. Er war zu längerem Aufenthalt nach Nizza hinübergekommen und im Hotel Terminus, einem Gasthaus zehnter Klasse, in der Nähe des Bahnhofs, abgestiegen. Nach zwei oder drei Tagen kam der Wirt zu ihm und teilte ihm mit, daß er ausziehen müßte, da sein Zimmer anderweitig vermietet war.

»Offenbar hat ihm irgend jemand erzählt, wer ich bin. Was soll ich tun, Frank?«

Ich machte bald ein besseres Hotel für ihn ausfindig, wo er gut behandelt wurde, aber dieser Zwischenfall, der sich unmittelbar nach der Begegnung mit Alexander ereignete, schien ihn eingeschüchtert zu haben.

»Hier am Meer gibt es zu viele Engländer«, sagte er eines Tages zu mir, »und die benehmen sich alle so roh gegen mich. Ich glaube, ich möchte nach Italien gehen, wenn du nichts dagegen hast.«

»Die ganze Welt steht dir offen«, erwiderte ich. »Ich werde in deinem Interesse überglücklich sein, wenn du einen Ort findest, der dir behagt.« Und ich händigte ihm die Summe ein, die er benötigte. Aber er verweilte doch noch fast acht Tage in Nizza, und ich sah ihn verschiedentlich während dieser Zeit: er speiste einmal mit mir in der »Reserve« in Beaulieu und war von der Schönheit der Bucht und ihrem stillen Frieden ganz entzückt. Aber als wir beim Essen waren, kamen ein paar Engländer ins Restaurant und trugen ihren Widerwillen gegen seine Person in unhöflicher Form zur Schau. Da wurde Oscar sofort ganz scheu und benutzte den ersten besten Vorwand, um aufzubrechen. Selbstverständlich begleitete ich ihn. Er tat mir unendlich leid, aber ich hatte das Gefühl: hier war ihm ebensowenig zu helfen, als wenn es sich darum gehandelt hätte, ihn von dem Entschluß abzubringen, sich in einen Abgrund zu stürzen.


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