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XIX
Erntedank: Sein erstes Werk

Kurz ehe Oscar aus dem Zuchthaus kam, erzählte mir einer seiner vertrauten Freunde, daß es ihm am Notwendigsten fehlte, und bat mich, ein paar Kleidungsstücke für ihn zu besorgen. So ließ ich mir den Namen seines Schneiders sagen und bestellte zwei Anzüge. Aber der Schneider lehnte den Auftrag ab, denn er wollte keine Kleider für Oscar Wilde machen. Da ich mich nicht darauf einlassen konnte, mit dem Mann zu sprechen, schickte ich meinen Redaktionsvertreter und Freund Mr. Blanchamp hin, um ihm gründlich die Meinung zu sagen. Und die Krämerseele ließ sich durch die Überzeugungskraft der baren Vorausbezahlung erweichen. Dann schickte ich Oscar die fertiggestellten Kleider nebst einem Scheck und erhielt kurz nach seiner Entlassung einen Dankbrief von ihm Dieser Brief befindet sich im Anhang..

Nach einiger Zeit hörte ich aus glaubwürdiger Quelle eine Geschichte, die mir später von Oscar bestätigt wurde. Als er Reading Goal verließ, bot ihm der Berichterstatter einer amerikanischen Zeitung £ 1000 für ein Interview über seine Lebensweise und seine Erfahrungen im Gefängnis. Aber er hielt es für unter seiner Würde, seine Leiden zu Markt zu tragen, und wollte sich lieber Geld borgen, als Geld verdienen. Das ist vielleicht teilweise entschuldbar, wenn man bedenkt, daß ihm von den großen Summen, die er vor seiner Verurteilung von Miß S…, von Roß, von More Adey und anderen erhalten hatte, noch ein paar Pfund übriggeblieben waren. Dennoch beweist die Ablehnung einer so großen Summe, wie sie ihm von der Neuyorker Zeitung geboten wurde, daß er das Geld vollkommen mißachtete, – selbst zu einer Zeit, da man glauben mußte, daß es seine Hauptsorge gewesen wäre. Aber er hat stets ziemlich unbesonnen in den Tag hineingelebt.

Sobald er das Zuchthaus verließ, fuhr er mit ein paar Freunden nach Frankreich hinüber, um im Hôtel de la Plage in Berneval, einem stillen kleinen Dorf bei Dieppe, Aufenthalt zu nehmen. André Gide, der ihn fast unmittelbar nach seiner Ankunft dort besucht hat, entwirft uns ein schönes Bild seines Geistes zur damaligen Zeit. Er schildert uns, wie erfreut er war, ihn als den »alten Oscar Wilde« wiederzufinden, – nicht mehr den vor Hochmut und üppiger Lebensweise aufgeblasenen Sinnenmenschen, sondern den »liebenswürdigen Wilde« aus jenen Tagen vor dem Jahre 1891. »Ich fühlte mich nicht um zwei, sondern um vier oder fünf Jahre zurückversetzt«, sagt Gide. »Er hatte denselben träumerischen Blick, dasselbe belustigte Lächeln und dieselbe Stimme.«

Er erzählte Gide, daß die Gefangenschaft ihn vollkommen verändert und ihn gelehrt habe, was Mitleid bedeutet. »Sie wissen«, fuhr er fort, »wie vernarrt ich früher für den Roman ›Madame Bovary‹ geschwärmt habe, aber Flaubert hat dem Mitleid keinen Platz in seinem Werke eingeräumt, und aus diesem Grunde trägt es ein kleinliches und engherziges Gepräge. Durch den Sinn des Mitleids gewinnt ein Werk an umfassender Bedeutung und erschließt einen unbegrenzten Horizont. Wissen Sie, mein Bester, daß das Mitleid mich vom Selbstmord zurückgehalten hat? Während der ersten sechs Monate im Gefängnis fühlte ich mich furchtbar unglücklich, so unsagbar elend, daß ich mir das Leben nehmen wollte; aber als ich mir die anderen ansah, als ich bemerkte, daß sie ebenso unglücklich waren wie ich, und als sie mir leid taten, – da gab ich mein Vorhaben auf. Ach Gott! wie wunderbar ist das Mitleid, und ich habe es überhaupt nicht gekannt!«

Er sprach mit leiser Stimme, ohne jede Erregung.

»Haben Sie jemals erfahren, wie wunderbar das Mitleid ist? Ich für mein Teil danke Gott jeden Abend, – ja wirklich auf Knien danke ich Gott, daß er mich das Mitleid gelehrt hat. Mit steinhartem Herzen ging ich ins Gefängnis und dachte nur an meinen eigenen Genuß; aber jetzt ist mein Herz ganz erschüttert, – denn das Mitleid ist in mein Herz eingezogen. Nun habe ich gelernt, daß Mitleid das Größte und Schönste ist, was es auf Erden gibt. Und aus diesem Grunde kann ich den Menschen, die mein Leiden veranlaßt, und denen, die mich verurteilt haben, nicht grollen, – überhaupt keinem einzigen Menschen, weil ich das alles nicht kennen gelernt hätte, wenn sie nicht gewesen wären. Von Alfred Douglas erhalte ich schreckliche Briefe. Wie er mir schreibt, kann er mich nicht verstehen, er kann es nicht verstehen, daß ich nicht rachsüchtig gegen alle bin, er findet, daß alle gräßlich zu mir gewesen sind. Nein, er versteht mich nicht und kann mich nicht mehr verstehen. Aber ich sage ihm immer wieder in jedem Briefe, daß unsere Wege sich trennen müssen. Er geht seinen Weg, den Weg der Schönheit, den Alcibiades gegangen ist. Und ich folge nun dem heiligen Franz von Assisi.«

Es läßt sich schwer unterscheiden, was an diesen Worten ehrlich empfunden ist, und was er nur in seiner Phantasie erdacht und ausgesprochen hat, um dem neuen Ideal der Vollkommenheit eine greifbare Gestalt zu geben. Die Wirklichkeit besitzt nicht jene heilige Einfalt, die der zum Christentum bekehrte Oscar uns einreden will. Die unveröffentlichten Teile aus »De Profundis«, die in dem Prozeß Douglas-Ransome verlesen worden sind, beweisen – wie alle seine Freunde wissen – daß es Oscar Wilde unmöglich war, das zu vergeben oder zu vergessen, was ihm als persönliche Mißhandlung erschien. »De Profundis« enthält wunderbare Stellen, die die mildeste christusähnliche Ergebung und Barmherzigkeit atmen. Und zweifellos waren diese Worte ehrlich gemeint, wenn Oscar in der richtigen Stimmung war. – Aber er hatte auch andere Stimmungen: lebensvollere und nachhaltigere, wenn auch weniger gewinnende Stimmungen. Dann betrachtete er sich als einen Mann, der verraten, hingeopfert und im Stich gelassen worden war, dann machte er seinen Freund vollkommen verantwortlich für seinen Sturz und trug kein Bedenken, ihn als einen »Judas« zu bezeichnen, dessen minderwertige Selbstsucht, dessen herrische Bösartigkeit und dessen unerfüllte Versprechungen, ihn mit Geld zu unterstützen, einen bedeutenden Menschen ins Unglück getrieben hatten.

Dieser unveröffentlichte Teil von »De Profundis« ist im Grunde genommen von Anfang bis zu Ende eine einzige wortreiche Verwünschung, eine gegen Lord Alfred Douglas gerichtete Anklage, die besonders zuerst unparteiisch zu sein scheint, in Wirklichkeit aber eine erbitterte, erbarmungslose Beschuldigung ist. Sie bekundet eine merkwürdige Verständnislosigkeit bei Oscar Wilde, – selbst dem Manne gegenüber, den er zu lieben behauptete. Die Leute, die gern wissen möchten, wie Oscar Wilde in Wirklichkeit war, werden dieses rhetorische Dokument mit genügender Aufmerksamkeit lesen, um den Eindruck zu gewinnen: er macht seinem Freund so wiederholentlich und in so gehässiger Form seine minderwertige Selbstsucht zum Vorwurf, daß er dadurch seinen eigenen ungeheuren Egoismus und seine wesentliche Herzenskälte enthüllt. Paulus hat uns gelehrt: »Die Liebe ist langmütig und freundlich …, sie verträget alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles«, – diese milde, großmütige, alles verzeihende Zärtlichkeit der Liebe war dem Heiden Oscar Wilde nicht gegeben, und deshalb rang sich selbst seine tiefste Leidenschaft nie zur vollkommenen Versöhnlichkeit und zur höchsten Heiligung durch.

Bei diesem Gespräch mit Gide soll Oscar auch geäußert haben, daß er die Unvermeidlichkeit der Katastrophe im voraus gewußt habe, »nur ein Ende lag im Bereich der Möglichkeit …, dieser Zustand konnte nicht von Dauer sein, er mußte irgendein Ende nehmen.«

Aber meines Erachtens stammt diese Auffassung von Gide, und nicht von Oscar. Ich bin jedenfalls überzeugt, daß meine Schilderung seines anmaßend-selbstbewußten Wesens vor den Gerichtsverhandlungen viel wahrheitsgetreuer ist. Selbstverständlich muß er etwas geahnt haben; denn er ist, wie ich berichtet habe, wiederholentlich gewarnt worden. Aber er nahm das Wesen und die Gesinnung seiner Gefährten an und beantwortete Lord Queensberrys erste Angriffsversuche mit vollkommener Nichtachtung. Der Gefahr war er sich gar nicht bewußt. In seinen weiteren Ausführungen gibt Gide Oscars Worte richtiger wieder:

»Die Gefangenschaft hat mich vollkommen verändert. Ich habe mit dieser Wirkung gerechnet, – Douglas ist schrecklich. Er kann es nicht verstehen, daß ich nicht wieder dieselbe Lebensweise aufnehme. Er beschuldigt die anderen, daß sie mich verändert haben.«

Ich möchte hier einige Stellen aus dem Briefe eines Gefängniswärters anführen, den Stuart Mason in seinem vortrefflichen kleinen Buch über Oscar Wilde abgedruckt hat. Er schreibt:

»Kein Mensch hat ein edleres Leben geführt, und kein Mensch könnte ein edleres Leben führen als Oscar Wilde während der kurzen Zeit, als ich ihn im Gefängnis kannte. Er hatte immer ein Lächeln auf dem Gesicht; Sonnenschein lag auf seinem Gesicht, irgendein Sonnenschein muß in seinem Herzen geleuchtet haben. Die Leute behaupten, daß er nicht aufrichtig gewesen ist: als ich ihn kannte, war er die Aufrichtigkeit selbst. Wenn er diese Lebensweise nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis nicht fortgesetzt hat, so muß die Macht des Bösen für ihn zu stark gewesen sein. Aber er gab sich Mühe, er gab sich redliche Mühe, und im Gefängnis hat er es erreicht.«

Das alles scheint mir im wesentlichen wahr zu sein. Oscars heitere Lebendigkeit hätte jeden Fremden überrascht. Überdies war die regelmäßige Zeiteinteilung und die karge, einfache Gefängniskost seiner Gesundheit zustatten gekommen, und die Einsamkeit und das Leiden hatten sein Gemütsleben vertieft. Aber eine starke Bitterkeit, ein wurzelndes, verborgenes Gefühl der Kränkung lebten in ihm und kamen dauernd in leidenschaftlicher Form zum Ausdruck. Sobald er jedoch von den elenden, kleinlichen Qualen des Gefängnisses befreit war, sprudelte der ganze heitere Frohsinn und die Schalkhaftigkeit seines Wesens mit unbezwinglicher Kraft hervor. Und es lag kein Widerspruch in dieser Vielseitigkeit. Ein Mensch kann hundert widerstreitende Leidenschaften und Regungen unvermischt in sich bergen. Und zu dieser Zeit war das Mitleid für andere Menschen Oscars Leitmotiv.

Zu meiner Freude erhielt die Welt sehr bald ein sichtbares Zeichen dieses veränderten Oscar Wilde. Am 28. Mai, wenige Tage nach seiner Entlassung aus dem Zuchthause, erschien in der »Daily Chronicle« ein Brief, der die dringende Mahnung enthielt, die kleinen Kinder in den englischen Gefängnissen besser zu behandeln. Oscar hatte diesen Brief, der mehr als zwei Zeitungsspalten füllte, geschrieben, weil der Wärter Martin im Zuchthause zu Reading von der Gefängniskommission wegen des entsetzlichen Verbrechens entlassen worden war, »einem kleinen hungrigen Kinde ein paar süße Zwiebäcke gegeben zu haben …«

Ich muß einige Absätze aus diesem Briefe anführen, weil er bekundet, daß die Gefangenschaft Oscar Wilde vertieft, daß sein eigenes Leiden ihn, wie Shakespeare sich ausdrückt, »für gerechtes Mitleid empfänglich« gemacht hatte, und weil er uns außerdem berichtet, wie das Leben in einem neuzeitlichen englischen Gefängnis beschaffen war. Oscar schrieb:

»Ich habe die drei Kinder selbst am Montag vor meiner Entlassung gesehen. Sie waren gerade verurteilt worden und standen in ihrer Gefängnistracht aneinandergereiht, mit dem Bettzeug unter dem Arm, in der Haupthalle nebeneinander, ehe sie in die ihnen zugewiesenen Zellen geschickt wurden … Es waren ganz kleine Kinder – das jüngste Kind, dem der Wärter die Zwiebäcke gab, war ein schmächtiges Kerlchen –, augenscheinlich waren alle vorhandenen Kleider nicht klein genug, um ihm zu passen. Selbstverständlich hatte ich während meiner eigenen zweijährigen Haft viele Kinder im Gefängnis gesehen. Besonders im Gefängnis zu Wandsworth befanden sich stets zahlreiche Kinder. Aber ein so schmächtiges Kind wie diesen Kleinen, den ich am Montag dem 17. zur Nachmittagszeit in Reading sah, war mir doch noch nicht begegnet. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich tief betrübt war, diese Kinder in Reading zu sehen: wußte ich doch, welcher Behandlung sie gewärtig sein mußten. So grausam werden die Kleinen bei Tag und bei Nacht mißhandelt, daß man es nicht für glaubhaft hält, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen und die Roheit des Systems kennen gelernt hat.

»Heutzutage verstehen die Leute nicht, was Grausamkeit ist … Die landläufige Grausamkeit ist nichts anderes als Dummheit.

»Die Behandlung der Kinder im Gefängnis ist schrecklich, insbesondere von seiten der Leute, welche die eigenartige seelische Veranlagung des Kindes nicht kennen. Das Kind kann eine Strafe, die ihm eine einzelne Person, wie z. B. eines der Eltern oder der Vormund, auferlegt, verstehen und sie mit einer gewissen Fügsamkeit ertragen. Aber eine Strafe, die ihm von der Gesellschaft auferlegt wird, kann es nicht verstehen, es kann nicht begreifen, was die Gesellschaft bedeutet …

»Das Kind empfindet im Gefängnis ein schier grenzenloses Grauen. Ich entsinne mich, daß ich einmal in Reading, als ich mich zum Spaziergang rüstete, in der spärlich beleuchteten Zelle, die der meinigen gegenüberlag, einen kleinen Knaben gesehen habe. Zwei Wärter – es waren keine bösartigen Menschen – redeten offenbar etwas streng auf ihn ein oder erteilten ihm vielleicht irgendwelche nützliche Verhaltungsmaßregeln. Der eine war bei ihm in der Zelle, während der andere draußen stand. Das Gesicht des Kindes sah wie ein bleicher, schmaler, aus Grauen geschichteter Keil aus, und seine Augen hatten den angstvollen Ausdruck eines gehetzten Tieres. Am nächsten Morgen zur Frühstücksstunde hörte ich, wie es weinte und schrie, um herausgelassen zu werden. Es schrie nach seinen Eltern. Und von Zeit zu Zeit konnte ich die tiefe Stimme des diensttuenden Wärters vernehmen, der es zur Ruhe mahnte. Und doch war dem Kinde das geringfügige Vergehen, das man ihm wohl zur Last gelegt hatte, nicht einmal nachgewiesen worden. Es befand sich nur in Untersuchungshaft. Das wußte ich, weil ich sah, daß es seine eigenen Kleider trug, die einen recht sauberen Eindruck machten. Aber da der Knabe Gefängnisschuhe und -strümpfe trug, mußte ich annehmen, daß er sehr arm war, und daß seine eigenen Schuhe, sofern er welche besaß, in schlechtem Zustande waren. Die Richter und richterlichen Polizeibeamten, die in der Regel gänzlich unwissend sind, schicken die Kinder häufig auf eine Woche in Untersuchungshaft, um dann vielleicht von irgendeinem Urteilsspruch Abstand zu nehmen, zu dem sie berechtigt waren. Und das heißt dann, ›das Kind nicht ins Gefängnis schicken‹, was selbstverständlich eine törichte Anschauung von ihrer Seite ist. Für ein kleines Kind ist der feine Unterschied in der bürgerlichen Stellung unverständlich, der zwischen der Untersuchungshaft und der Gefangenschaft nach erfolgtem Urteilsspruch besteht. Ihm ist die Tatsache an sich schrecklich, im Gefängnis zu sein, und in den Augen der Menschheit sollte es etwas Schreckliches sein, daß sich ein Kind überhaupt im Gefängnis befindet.

»Dieses Grauen, von dem das Kind ebenso gepackt und beherrscht wird wie der Erwachsene, wird selbstverständlich durch das System der Einzelhaft in unseren Gefängnissen so verstärkt, daß Worte es nicht wiederzugeben vermögen. Jedes Kind ist dreiundzwanzig Stunden am Tage an seine Zelle gebannt. Das ist das Entsetzliche. Es beweist, wie grausam die Dummheit ist, wenn ein Kind dreiundzwanzig Stunden am Tage in eine spärlich beleuchtete Zelle eingesperrt wird. Wenn eine einzelne Person, z. B. eines der Eltern oder der Vormund, in dieser Weise mit einem Kinde verfahren würde, so müßte sie strenger Strafe gewärtig sein …

»Der Hunger ist das zweite Leiden des Kindes im Gefängnis. Als Beköstigung erhält es zum ersten Frühstück um 7½ Uhr ein Stück Gefängnisbrot, das meistens schlecht gebacken ist, und eine Kanne Wasser. Um zwölf Uhr wird ihm sein Mittagessen zugeteilt, d. h. eine Satte mit grobem Maismehlbrei, und um fünfeinhalb Uhr gibt es ein Stück trockenes Brot und eine Kanne Wasser zum Abendessen. Diese Kost hat, wenn sie einem kräftigen Mann verabreicht wird, stets irgendeine Erkrankung zur Folge, meistens natürlich Durchfall mit den darauffolgenden Schwächezuständen. Und tatsächlich wird in einem großen Gefängnis die regelmäßige Verteilung adstringierender Mittel durch die Wärter als etwas Selbstverständliches betrachtet. In der Regel ist ein Kind gar nicht imstande, diese Kost zu sich zu nehmen. Jeder, der mit Kindern einigermaßen vertraut ist, weiß, daß durch gewaltsames Weinen, durch Aufregungen und seelischen Kummer irgendwelcher Art sehr leicht Verdauungsstörungen hervorgerufen werden. Und ein Kind, das den ganzen Tag und möglicherweise die halbe Nacht in einer einsamen, spärlich beleuchteten Zelle geweint hat und von Grauen gepackt ist, kann eine so grobe, abscheuliche Kost ganz einfach nicht zu sich nehmen. Nun hatte das kleine Kind, dem der Wärter Martin die Zwiebäcke gab, am Dienstagmorgen vor Hunger geweint und war ganz außerstande, das Brot und Wasser zu genießen, das ihm zum Frühstück gereicht wurde.

»Nachdem das Frühstück ausgeteilt worden war, ging Martin hinaus und zog es vor, ein paar süße Zwiebäcke zu kaufen, als das Kind verhungern zu lassen. Von ihm war es eine schöne Tat, und auch das Kind teilte diese Auffassung. Und da es von den Vorschriften der Gefängnisverwaltung gar keine Ahnung hatte, erzählte es einem der Oberwärter, wie gütig sein jüngerer Kollege zu ihm gewesen war. Die Folge war selbstverständlich, daß er angezeigt und entlassen Als der Minister des Innern, Sir Matthew White Ridley, am 25. Mai 1897 im Unterhause von Mr. Michael Davitt zur Rede gestellt wurde, erklärte er, daß diese Entlassung eines Wärters, der einem kleinen hungrigen Kind auf eigene Kosten etwas zu essen gegeben hatte, »vollkommen gerechtfertigt« und eine »angemessene Maßnahme« sei. Und derselbe Innenminister ernannte seinen gänzlich unbefähigten Bruder zum Richter beim obersten Reichsgericht. wurde.

»Ich kenne Martin besonders gut und habe während der letzten sieben Wochen meiner Gefangenschaft unter seiner Aufsicht gestanden … Über seine einzigartige Freundlichkeit und Menschlichkeit im Verkehr mit mir und den anderen Gefangenen bin ich ganz erstaunt gewesen. Gute Worte bedeuten viel in einem Gefängnis, und ein freundliches ›Guten Morgen‹ oder ›Guten Abend‹ kann den Menschen so froh stimmen, wie es im Gefängnis eben möglich ist. Er war stets milde und rücksichtsvoll …

»Es ist neuerdings über den verderblichen Einfluß des Gefängnislebens auf junge Kinder viel gesprochen und geschrieben worden. Alles, was man gesagt hat, entspricht vollkommen der Wahrheit. Aber dieser verderbliche Einfluß geht nicht von den Gefangenen, sondern von dem gesamten Gefängnissystem – vom Direktor, dem Geistlichen, den Wärtern, der Einzelzelle, der Einsamkeit, der ekelerregenden Kost, den Gesetzen der Gefängnisverwaltung, der sogenannten methodischen Zucht und der Lebensform aus.

»Selbstverständlich dürfte überhaupt kein Kind unter vierzehn Jahren ins Gefängnis kommen. Es ist sinnlos, und wie vieles Sinnlose von geradezu tragischen Folgen …«

Wie ich gehört habe, hat dieses Schreiben dahin gewirkt, daß die jungen Kinder in den britischen Gefängnissen etwas besser behandelt werden. Aber für die Erwachsenen sind sie noch immer dieselben Folterkammern geblieben wie zu Wildes Zeiten. Die Gefangenen werden dort noch immer mit der größten Roheit behandelt, die in der ganzen zivilisierten Welt zu finden ist. Die Beköstigung ist die schlechteste in Europa, tatsächlich ist sie so unzureichend, daß man dabei nicht gesund bleiben kann; und viele werden nur dadurch vor dem Hungertode bewahrt, daß sie in die Krankenabteilung kommen. Obgleich diese Tatsachen allgemein bekannt sind, hat sich das Lieblingsorgan des britischen Mittelstandes, der »Punch«, vor kurzer Zeit nicht geschämt, irgendeine in Vorschlag gebrachte Reform zur Zielscheibe seines Spottes zu machen. Denn er veröffentlichte das Bild eines britischen Sträflings, der Bill Sykes Dieb und Mörder in Dickens Roman »Oliver Twist«. schurkisches Gesicht zur Schau trug und eine Zigarre rauchend auf dem Sofa seiner Zelle lag, während der Champagner in der Nähe stand. Solche Dinge geschehen nicht lediglich aus Dummheit, wie Oscar Wilde es sich einreden wollte, sondern aus durchdachter Selbstsucht. Der »Punch« und die Kreise, für deren Vergnügen er sorgt, wollen sich einreden, daß viele Sträflinge für das Leben nicht taugen, während sie in Wahrheit zum großen Teil viel menschlicher geartet sind als die Leute, von denen sie bestraft und verunglimpft werden.

Während Oscar auf das Eintreffen seiner Frau wartete, mietete er in Berneval, ungefähr zweihundert Meter vom Hotel entfernt, ein kleines Haus – das Châlet Bourgeat – und richtete es wohnlich ein. Hier verbrachte er den ganzen Sommer: er schrieb, er badete und plauderte mit den wenigen treuen Freunden, die ihn von Zeit zu Zeit besuchten. Noch nie war er so glücklich und so vollkommen gesund gewesen. Er war von literarischen Plänen ganz erfüllt. Und in Wirklichkeit gab es in seinem ganzen Leben keinen Zeitabschnitt, der so reich an guten Leistungen war. Er wollte ein paar biblische Theaterstücke schreiben: zuerst eins mit dem Titel »Pharaoh« (Pharao), dann ein zweites: »Ahab and Jezebel« (Ahab und Jesabel), einen Namen, den er wie »Isabelle« aussprach. Auch mit tieferen Problemen beschäftigte er sich viel und hatte die »Ballade vom Zuchthaus zu Reading« bereits in Angriff genommen. Aber ehe ich mich dieser Dichtung zuwende, möchte ich zuerst noch schildern, wie glücklich der Singvogel war, wie herrlich er sang, als der furchtbare Käfig sich auftat und er seine Schwingen im Sonnenschein des Himmels entfalten durfte.

Der folgende Brief, den er kurz nach seiner Entlassung schrieb, gehört zu dem Köstlichsten, was er je geschaffen hat. Wie es sich gebührt, war er an seinen allerbesten Freund, Robert Roß, gerichtet, und ich kann nur meiner großen Dankbarkeit Ausdruck geben, daß der Adressat mir gestattet hat, ihn hier zu veröffentlichen Die Veröffentlichung in deutscher Sprache erfolgt hier mit besonderer Erlaubnis von Dr. Max Meyerfeld. Alle Rechte vorbehalten.:

Berneval, bei Dieppe,
Hôtel de la Plage

Montag, den 31. Mai (1897), abends.

Liebster Robbie!

Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß es nur eine Möglichkeit gibt, seine Schuhe richtig zu erhalten: man muß nach Frankreich fahren, um sie in Empfang zu nehmen. Ich habe beim Zollamt drei Francs Gebühren bezahlt. Weshalb hast Du mir solchen Schreck eingejagt? Wenn Du Dir das nächste Mal Schuhe bestellst, so komm' bitte nach Dieppe und laß sie Dir schicken. Es ist die einzige Möglichkeit und zugleich ein Vorwand, um Dich zu sehen.

Morgen trete ich eine Pilgerfahrt an. Ich habe mir ja immer gewünscht, ein Pilger zu sein, und bin entschlossen, mich morgen früh zum Heiligtum von Notre-Dame de Liesse zu begeben. Weißt Du, was Liesse bedeutet? Es ist ein alter Ausdruck für das Wort »Freude«. Vermutlich hat es denselben Stamm wie »Letizia, Laetitia«. Durch einen Zufall, wie Du es nennen würdest, hat mir gerade heute abend die holdselige Wirtin, die gern möchte, daß ich für immer in Berneval bleibe, von dem Heiligtum oder der Kapelle erzählt. Sie sagt, daß Notre-Dame de Liesse Wunder wirkt und jedem Menschen das Geheimnis der Freude erschließt. – Ich weiß nicht, wie lange ich unterwegs sein werde, um zum Heiligtum zu gelangen, da ich zu Fuß gehen muß. Aber nach ihrer Auskunft werde ich mindestens sechs bis sieben Minuten für den Hinweg und ebensoviel für den Rückweg gebrauchen. Die Kapelle von »Notre-Dame de Liesse« liegt nämlich gerade fünfzig Meter vom Hotel entfernt. Merkwürdig, nicht wahr? Ich beabsichtige, mich nach dem Kaffee auf den Weg zu machen und dann erst zu baden. Brauche ich erst zu sagen, daß das ein Wunder ist? Ich wollte eine Pilgerfahrt antreten, und siehe da! die kleine graue Steinkapelle Unserer guten Frau zur Freude kommt zu mir. Wahrscheinlich hat sie während dieser langen purpurnen Jahre der Lust auf mich gewartet; nun naht sie mir, um mich mit der Botschaft der Freude (Liesse) zu empfangen. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich wünschte, Ihr würdet nicht so streng gegen die armen Ketzer Der Adressat dieses Buches sowie der zweite Freund, auf den Wilde hier Bezug nimmt, sind römisch-katholisch. sein und zugeben, daß es selbst für das Schaf, das keinen Hirten hat, eine Stella Maris gibt, die es heimgeleitet. Aber Du und More – besonders More –, Ihr behandelt mich als Nonkonformisten. Das ist sehr schmerzlich und ganz ungerecht.

Gestern wohnte ich der 10 Uhr-Messe bei und nahm nachher mein Bad. Somit bin ich nicht als Heide ins Wasser gegangen, und infolgedessen wurde ich weder von den Sirenen noch von den Wassernixen oder irgendeinem anderen Mitglied aus Glaukos' grünhaarigem Gefolge in Versuchung geführt. Ich halte das wirklich für etwas Merkwürdiges. In meiner heidnischen Zeit wimmelte das Meer stets von Tritonen, die auf ihren Muscheln bliesen, und von anderen unfreundlichen Gestalten. Jetzt ist alles vollkommen anders. Und doch behandelst Du mich wie den Rektor von Mansfield College, – und das, nachdem ich Dich auch heiliggesprochen hatte.

Lieber Junge, sag' mir doch bitte, ob Dein Glaube Dich glücklich macht. Du verbirgst ihn vor mir in ungeheuerlicher Weise. Du machst es damit ebenso, als ob Du in Pollocks Auftrag etwas für die »Saturday Review« schreiben oder in der Wardour Street das entzückende Gericht zu Mittag essen wolltest, das mit Tomaten angerichtet wird und die Leute ganz verrückt Das bezieht sich auf eine Geschichte, für die Wilde damals großes Interesse hatte. macht. Aber ich weiß, daß ich Dich vergebens danach frage, also behalt' es für Dich!

Gestern in der Kapelle hatte ich nicht gerade das Gefühl, ausgestoßen, aber doch ein bißchen heimatlos zu sein. Auf einem Getreideacker traf ich einen braven Landmann, der bot mir auf seiner Bank in der Kirche einen Platz an; und auf diese Weise hatte ich es ganz behaglich. Jetzt besucht er mich täglich zweimal, und da er kinderlos und reich ist, habe ich ihm das Versprechen abgenommen, drei Kinder zu adoptieren, – zwei Knaben und ein Mädchen. Ich habe ihm gesagt, daß er nur den Willen haben müßte, dann würden sich die Kinder schon finden lassen. Und als er seine Besorgnis äußerte, daß sie schlecht geraten könnten, habe ich ihm geantwortet, daß alle Menschen das befürchteten. Er hat mir wirklich versprochen, drei Waisen zu adoptieren, und ist nun von diesem Gedanken ganz begeistert. Er muß zum Curé gehen, um mit ihm zu sprechen. Dann hat er mir erzählt, daß sein eigener Vater eines Tages mitten im Gespräch durch einen Schlaganfall zusammengebrochen war, daß er ihn in seinen Armen aufgefangen und zu Bett gebracht hatte, wo er gestorben war. Und er selbst hätte häufig daran gedacht, wie schrecklich es wäre, daß niemand ihn in seinen Armen auffangen würde, wenn er einen Schlaganfall bekäme. Es liegt doch auf der Hand, daß er ein paar Waisenkinder adoptieren muß, nicht wahr?

Ich habe das Gefühl, daß Berneval mir zur Heimat werden soll; Du kannst es mir wirklich glauben. Notre-Dame de Liesse wird mir hold sein, wenn ich vor ihr niederknie, und wird mich erleuchten. Es ist merkwürdig, daß mich ein weißes Pferd hierhergeführt hat. Es stammt aus dem Ort, kennt Weg und Steg und wollte seine Eltern wiedersehen, die schon bei Jahren sind. Und merkwürdig ist es auch, daß ich gewußt habe, daß es ein Berneval gibt und für mich geschaffen war.

M. Bonnet Der Hotelbesitzer. will mir ein Châlet bauen – 1000 m Grund und Boden (ich weiß nicht, wieviel das ist, vermutlich sind es etwa 100 Meilen) – und ein Châlet mit einem Arbeitszimmer, einem Balkon, einer salle à manger, einer riesengroßen Küche und drei Schlafzimmern, – Aussicht auf das Meer und Baumbestand, das Ganze soll 12 000 Franken, d. h. £ 480 kosten. Wenn ich ein Theaterstück schreiben kann, lasse ich mit dem Bau beginnen. Stell' Dir vor, daß man in Frankreich für £ 480 sein eigenes reizendes Haus nebst Grund und Boden ohne irgendwelche Abgaben haben kann! Bitte, überleg' es Dir und schreib' mir zustimmend, wenn es Dir richtig erscheint. Selbstverständlich muß ich erst mein Theaterstück geschrieben haben.

Hier im Hotel wohnt ein alter Herr, der in seinem Zimmer allein speist und sich nachher in die Sonne setzt. Er beabsichtigte, sich zwei Tage hier aufzuhalten, und ist zwei Jahre geblieben. Sein einziger Kummer ist, daß es kein Theater am Ort gibt. Monsieur Bonnet ist in diesem Punkt ein bißchen herzlos und sagt, daß ein Theater für den alten Herrn zwecklos sein würde, da er um acht Uhr zu Bett geht. Und der alte Herr behauptet, daß er eben nur um acht Uhr zu Bett geht, weil es kein Theater gibt. Gestern haben die beiden diese Frage eine ganze Stunde lang erörtert. Ich habe es mit dem alten Herrn gehalten, aber ich glaube, daß die Logik es mit Monsieur Bonnet gehalten hat.

Die Sphinx »Sphinx« ist ein Spitzname für Mrs. Leverson, Verfasserin von »The Eleventh Hour« und von anderen humoristischen Romanen. hat mir einen lieben Brief geschrieben und mir in ganz köstlicher Weise berichtet, daß Ernest »Ernest« war ihr Gatte. sich – während der Scheidungsprozeß spielte – bei Romeike auf Zeitungsausschnitte abonniert hatte und mit ein paar Notizen nicht einverstanden war. In Anbetracht der zunehmenden Würdigung, die Ibsen genießt, muß ich mich wundern, daß die Notizen nicht besser gewesen sind, aber heutzutage ist jeder auf den anderen eifersüchtig, – Eheleute bilden natürlich eine Ausnahme! Diese letzte Bemerkung werde ich mir wohl für mein Theaterstück aufheben.

Hast Du meinen silbernen Löffel Der silberne Löffel ist der Entwurf für ein Theaterstück, den Turner (Reggie) von Roß erhalten hatte. von Reggie bekommen? Du hast ja auch meine silbernen Bürsten von Humphreys Wildes Rechtsbeistand im Verfahren der Krone gegen Wilde. herausbekommen, der kahl ist, da wirst Du mit Leichtigkeit meinen Löffel von Reggie bekommen, der selbst so viele hat oder früher zu haben pflegte. Du weißt doch, daß mein Wappen darauf ist, und es ist ein Stückchen irisches Silber, das ich nicht einbüßen möchte. Es gibt aber einen ausgezeichneten Ersatz, das sogenannte Britannia-Metall, das im Adelphi und auch sonst sehr beliebt ist. Wilson Barrett schreibt: »Ich ziehe es dem Silber vor«, und für den guten Reggie würde es wunderbar passen. Walter Besant schreibt: »Ich benutze nichts anderes«, und Mr. Beerbohm Tree schreibt ebenfalls: »Seitdem ich einen Versuch damit gemacht habe, bin ich ein ganz anderer Schauspieler geworden; meine Freunde erkennen mich kaum wieder.« Also ist augenscheinlich Nachfrage nach diesem Artikel.

In meinen ernsteren Stunden werde ich eine Staatswirtschaftslehre schreiben, und meine erste Regel wird lauten: »Stets wenn Nachfrage vorhanden ist, gibt's kein Angebot.« Diese Regel allein kann den merkwürdigen Gegensatz zwischen der menschlichen Seele und der Umwelt des Menschen erklären. Die verschiedenen Formen der Zivilisation werden fortgesetzt, weil sie den Leuten zuwider sind. Ein modernes Gemeinwesen ist genau das Gegenteil von dem, was jeder sich wünscht. So ist die Mode des neunzehnten Jahrhunderts eine Folge unseres Widerwillens gegen das Stilgefühl. Der hohe Hut wird getragen werden, so lange er den Leuten mißfällt.

Lieber Robbie, bitte, sei ein wenig rücksichtsvoller und verlange nicht, daß ich bis in die späte Nacht aufbleibe, um mit Dir zu plaudern. Es ist zwar sehr schmeichelhaft für mich und so weiter, aber Du solltest daran denken, daß ich ruhebedürftig bin. Gute Nacht. Du wirst an Deinem Bett ein paar Zigaretten und ein paar Blumen finden. Der Kaffee wird unten um acht Uhr getrunken; wenn's Dir recht ist. Sollte es Dir aber zu zeitig sein, so habe ich gar nichts dagegen, noch eine Stunde länger im Bett zu liegen. Hoffentlich schläfst Du gut. Das müßtest Du eigentlich, da Lloyd nicht auf der Veranda Eine Anspielung auf die »Vailima Letters« von Stevenson, die Wilde während seiner Gefangenschaft gelesen hatte. ist.

 

Dienstag morgen 9½ Uhr.

Das Meer und der Himmel schillern wie Opal – da gibt's keine häßlichen Zwischenlinien wie von des Zeichenlehrers Hand –, nur ein einziges Fischerboot, das langsam dahingleitet und den Wind hinter sich herzieht. Ich will baden gehen.

 

6 Uhr.

Gebadet und hier ein Châlet besichtigt, das ich für den Sommer mieten möchte, – ganz reizend, mit herrlicher Aussicht: ein großes Arbeitszimmer, ein Speisezimmer und drei allerliebste Schlafzimmer, außerdem Dienerschaftszimmer und noch ein riesiger Balkon.

[In diesen freien Raum hatte er in flüchtigen Zügen den Grundriß des gedachten Châlets eingezeichnet.]

1. Salle a manger.
2. Salon.
3. Balkon.

Alles zu ebener Erde mit Stufen, die vom Balkon ins Freie führen.

[Ich weiß mit dem Maßstab der Zeichnung nicht Bescheid, aber die Zimmer sind größer als der Grundriß.]

Rate mal, wie hoch die Miete für den Sommer oder für das Jahr ist? £ 32!

Selbstverständlich muß ich das Häuschen haben: hier werde ich meine Mahlzeiten – an einem besonderen und für mich belegten Tisch – einnehmen; ich brauche nur zwei Minuten zu gehen. Sag' mir, daß ich's mieten soll. Wenn Du wieder zu mir kommst, wird Dein Zimmer für Dich bereitstehen. Ich brauche nur noch eine Bedienung. Die Leute sind hier äußerst freundlich.

Ich habe meine Pilgerfahrt gemacht; – der Innenraum der Kapelle ist natürlich von einer fürchterlichen modernen Geschmacklosigkeit, – aber da hängt ein dunkles Bild von Notre-Dame de Liesse. – Die Kapelle ist so winzig wie ein Studentenzimmer in Oxford. Hoffentlich kann ich den Curé dazu bewegen, daß er dort so bald wie möglich die Messe liest, denn in der Regel findet der Gottesdienst nur im Juli und August in der Kapelle statt; aber ich möchte mir eine Messe aus nächster Nähe ansehen.

Aber ich habe Dir auch noch etwas anderes zu sagen.

Ich vergöttere diesen Ort. Wunderschön ist die ganze Gegend mit den vielen Wäldern und hohen Wiesen – schlicht und gesund. Wenn ich in Paris lebe, so wird es vielleicht mein Verhängnis sein, Dinge zu tun, nach denen ich kein Verlangen habe. Ich fürchte mich vor der großen Stadt. Hier stehe ich um 7½ Uhr auf und bin den ganzen Tag froh. Um 10 gehe ich zu Bett. Ich habe Angst vor Paris und möchte hier leben.

Das »Terrain« habe ich besichtigt. Es ist das beste im Ort und das einzige, das noch zu haben ist. Ich muß mir ein Haus bauen. Wie glücklich würde ich sein, wenn ich ein Chalet für 12 000 Franken, d. h für £ 500 bauen und in meinem eigenen Heim wohnen könnte. Auf irgendeine Weise muß ich das Geld zusammenbringen. Da würde ich ein ruhiges, gesundes Heim haben, – abgelegen und doch in der Nähe von England. Ich weiß, wie sich mein Leben gestalten würde, wenn ich in Ägypten lebte, und ich weiß, daß ich träge und noch minderwertiger sein würde, wenn ich in Süditalien lebte. Hier möchte ich leben. Überleg' Dir das alles und schick' mir den Baumeister herüber Ein Baumeister, der Wilde nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis Bücher geschickt hatte.. Bonnet ist ein vortrefflicher Mensch und bereit, jeden beliebigen Plan auszuführen. Ich möchte ein kleines Châlet aus Holz und Stuckwänden haben; die hölzernen Balken müssen sichtbar sein und die weißen Stuckvierecke das Fachwerk mit ihren regelmäßig wiederkehrenden Formen unterbrechen – wie Shakespeares Haus, was ich aber nicht gern sagen möchte –, wie die altenglischen Landhäuschen im sechzehnten Jahrhundert. So sitze ich also und warte auf Deinen Baumeister, wie er auf mich wartet.

Hältst Du den Gedanken für unsinnig?

Ich habe die »Chronicle« erhalten, vielen Dank. Wie ich bemerke, ist mein Name in dem Aufsatz über Prince – A. 2.11. nicht erwähnt worden. Er ist von einer Frau geschrieben, und es ist töricht von ihr.

Da Du, der Du meines Lebens Dichtung bist, in der Ferne weilst, bin ich gezwungen zu schreiben. Und so habe ich etwas angefangen, das meines Erachtens sehr gut werden wird.

Morgen frühstücke ich bei Stannards; was für eine große, leidenschaftliche Seele und glänzende Schriftstellerin ist John Strange Winter! Und wie wenig Verständnis das Publikum für ihre Werke besitzt! »Bootle's Baby« ist eine »Oeuvre Symboliste«, – in Wirklichkeit ist nur der Stil und das Thema falsch. Bitte, sprich nie wegwerfend über »Bootle's Baby« – bitte, sprich überhaupt gar nicht über dieses Buch, – ich tue es auch nicht.

Dein Oscar.

Sei so gut, meiner Frau die »Chronicle« zu schicken. Die Adresse lautet: Mrs. C. M. Holland, Maison Benguerel, Bevaix, près de Neuchâtel.

Du brauchst nur das betreffende Exemplar anzustreichen und den zweiten Brief ebenfalls, wenn er in der Zeitung erscheint.

Ferner bitte ich Dich, den Brief Es handelt sich um den Brief über den Wärter Martin und die kleinen Kinder, der in der »Daily Chronicle« erschienen war. auszuschneiden und in einem Umschlag mit nachstehenden Zeilen an Mr. Arthur Cruthenden, Poste Restante, G. P. O. Reading zu senden:

Lieber Freund!

Der einliegende Aufsatz wird Sie interessieren. Ein zweiter Brief, den ich Ihnen geschrieben habe, liegt für Sie auf dem Postamt und enthält etwas Geld. Fragen Sie nach, wenn Sie ihn nicht erhalten haben.

Ihr ganz ergebener
C. 3. 3.

Du bist der einzige, lieber Robbie, der etwas für mich tut. Selbstverständlich muß der Brief nach Reading sofort abgeschickt werden, da meine Freunde Mittwoch morgen schon zeitig herauskommen.

Aus diesem Briefe leuchtet Oscar Wildes Geistesart mit fast all ihren Vorzügen in voller Entfaltung: seine Heiterkeit, sein Frohsinn und seine feine Empfindsamkeit. Wer kann die Schilderung der kleinen, Notre-Dame de Liesse geweihten Kapelle lesen, ohne daß die erste Rührung gar bald in Fröhlichkeit verwandelt wird, wenn er in sonnigem Humor diese prächtige Selbstreklame anführt:

»Auch Mr. Beerbohm Tree schreibt: ›Seitdem ich einen Versuch damit gemacht habe, bin ich ein ganz anderer Schauspieler geworden, meine Freunde erkennen mich kaum wieder.‹«

Dieser Brief ist das Charakteristischste, was Oscar Wilde jemals geschaffen hat – etwas, das in voller Gesundheit und auf dem Höhepunkt seiner fröhlichsten Stunden geschrieben, – noch charakteristischer als sein Lustspiel »The Importance of being Earnest«. Denn er enthält nicht nur den Humor dieses köstlichen, possenhaften Lustspiels, sondern läßt bereits unverkennbar jenes tiefere Gefühl durchblicken, das um dieselbe Zeit in einem Meisterwerk Gestalt gewann, welches für alle Zeiten zum dauernden Erbe der Menschen gehören wird.

»Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading« stammt aus dem Sommer des Jahres 1897. Einem glücklichen Zusammenwirken äußerer Umstände: – der strengen Gefängniszucht, die jede Zügellosigkeit von selbst verbot, der Güte, die ihm während der letzten Zeit seiner Haft entgegengebracht wurde, und selbstverständlich der Freude des Freiheitsempfindens – verdankte er seine unbeeinträchtigte körperliche Gesundheit und überdies die Hoffnung, die Lust an der Arbeit. Und so war Oscar ein paar kurze Monate imstande, sich selbst zu übertreffen. Seine Versicherung, daß die Idee zu der Ballade im Gefängnis entstanden, daß sie durch die Milderung seiner Strafe und die ihm gewährte Erlaubnis, nach Belieben zu schreiben und zu lesen, veranlaßt worden ist, erscheint mir vollkommen glaubhaft. Dieses Werk ist eine göttliche Frucht, die unmittelbar aus seinem Mitleid mit anderen Menschen und dem ihm von anderen Menschen entgegengebrachten Mitleid erzeugt worden ist.

»Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading Die Ballade wurde in Neapel beendigt, und Lord Alfred Douglas hat später behauptet, daß er Oscar dabei geholfen hat. Ich habe nicht die Absicht, das zu bestreiten. Alfred Douglas besaß eine ungewöhnliche, viel größere dichterische Begabung als Oscar Wilde. Das Gedicht ist im Gefängnis erdacht und zum großen Teil gedruckt worden, ehe Oscar zu Alfred Douglas ging. Einige der besten Strophen sind in diesem ersten Teil enthalten. Meines Erachtens hat Alfred Douglas kein Recht, den Ruhm in irgend einer Weise für sich in Anspruch zu nehmen.« ist im Januar 1898 mit der Unterschrift C. 3.3 – eine Nummer, die Oscar im Zuchthaus erhalten hatte – veröffentlicht worden. Innerhalb weniger Wochen erlebte sie in England und Amerika Dutzende von Auflagen und wurde in fast sämtliche europäische Sprachen übersetzt, eine Tatsache, die weniger für die besonderen Vorzüge der Dichtung spricht als für die große Wichtigkeit, die dem Verfasser durch die Neugierde der Menschen beigemessen wurde. Die begeisterte Aufnahme, die sie in England fand, war geradezu erstaunlich. Ein Kritiker verglich sie mit Sophokles' besten Werken, während ein zweiter schrieb: »Keine Erscheinung unserer Zeit kann ihr an die Seite gestellt werden.« Nicht ein einziges tadelndes Wort wurde laut, und das zurückhaltendste Urteil bezeichnete die Dichtung als »eine schlichte, ergreifende Ballade … eine der bedeutendsten in englischer Sprache«. Dieses Lob ist gewiß nicht verschwenderisch. Aber selbst in dieser Form war es weniger durch das Verständnis für die Bedeutung des Werkes als durch einen Stimmungsumschwung bedingt, der Oscars Person galt. Die besten Elemente des Publikums hatten das Gefühl, daß seine Strafe furchtbar übertrieben und daß er zum Sündenbock für andere, schlimmere Missetäter benutzt worden war. Hier bot sich eine erwünschte Gelegenheit, um ihr eigenes Verschulden wieder gutzumachen; und in dieser Absicht wurde Oscars Reue von ihrer Seite übertrieben betont und die ersten Früchte des bekehrten Sünders, nach ihrer Meinung, übertrieben gerühmt.

»Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading« ist weitaus das beste Gedicht, das Oscar jemals geschrieben hat; und wir müßten uns bemühen, sie so zu würdigen, wie die Zukunft sie würdigen wird. Ohne Scheu dürfen wir ihrem Ursprung nachspüren und das Schöpferische vom Entlehnten scheiden. Auch mit allen erforderlichen Einschränkungen wird die »Ballade« immer eine große und herrliche Leistung bleiben.

Kurze Zeit vor ihrer Entstehung veröffentlichte A. E. Housman, der meines Wissens zur Zeit Professor der lateinischen Sprache in Cambridge ist, einen kleinen Band Gedichte mit dem Titel »A Shropshire Lad«. Das Büchlein umfaßt etwa hundert Seiten, aber es atmet die höchste Poesie – ein aufrichtiges und leidenschaftliches Empfinden, das in verschiedenen Tonarten zum Ausdruck kommt. Oscars Freund Reginald Turner sandte ihm ein Exemplar dieses Werkes, und insbesondere eins der Gedichte machte einen tiefen Eindruck auf ihn. Es wird behauptet, »daß das Gedicht ›The Dream of Eugene Aram‹ (Eugen Arams Traum) mit dem aus technischen Gründen hineinverwobenen Lied ›The ancient Mariner‹ (Der alte Seemann) sein wirkliches Vorbild für die Ballade vom Zuchthaus zu Reading gewesen ist.« Aber ich glaube, daß Wilde seine dichterische Eingebung zum größten Teil dem »Shropshire Lad« zu verdanken hat.

Ich führe im folgenden einige Strophen aus Housmans Gedicht und einige Strophen aus der »Ballade« an:

Auf mondhellem Pfad an einsamer Statt,
Da halten die Lämmer zur Weide,
Dort ächzte vorzeiten der Galgen matt
Am Kreuzweg auf der Heide.

Ein lässiger Hirte im Mondenlicht
Hütet' hier einst seine Schar:
Luftschwebend zu Häupten der Lämmerschicht
Ein Toter mit starrendem Haar.

Jetzt ragt unser Galgen in Shrewsburys Bann;
Verwehend ein pfeifender Laut: –
Manch Eisenbahnzug grüßt klagend den Mann,
Der stirbt, wenn der Morgen graut.

Er schläft heut nacht in Shrewsburys Hut
Oder wacht – wie dem auch sei –,
Ein beßrer Bursch, wenn die Welt war' gut,
Als mancher, des Weg blieb frei.

Den nackten Hals an des Henkers Strick,
Streift morgens der Klang der Uhr:
Für anderen Zweck schuf Gott sein Genick,
Als für die würgende Schnur!

Jäh reißt der Lebensfaden entzwei;
Starr in der Luft bald steht
Der Fuß, der schritt herfür so frei,
Wie man auf Erdland geht.

Hier harr' ich wachend die lange Nacht,
Zu schaun des Frühlichts Schein:
Er hört wohl noch den Schlag der Acht,
Doch nicht den Schlag der Neun!

Schlaf tief, mein Freund, in Ewigkeit,
Wie mancher schon hundert Jahr',
Der hütete einst zu seinem Leid
Im Mondlicht der Lämmer Schar Dieses Gedicht ist von der Übersetzerin gemeinsam mit Mrs. Ethel Talbot-Scheffauer ins Deutsche übertragen worden..

» Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading«

Wohl ist es süß im Lebensmai,
Der uns lockt aus Wald und Kluft,
Bei Lautenschall und Flötenhall
Zu tanzen durch Glanz und Duft,
Doch süß ist es nicht, auf dem Hochgericht
Zu tanzen in der Luft.

Und wie wir im Traum wohl Schreckliches schaun
In der Spiegelbilder Flug,
So sahn wir den grauen hänfnen Strang,
Und den schwarzen Baum, der ihn trug,
Und hörten das Beten, das nun zum Schrei
Erstickte des Henkers Zug.

Und keiner fühlte aus diesem Schrei
So ganz wie ich seine Not,
Und die Reue so heiß und den blutigen Schweiß
Und die Wunden alle so rot:
Denn wer mehr Leben als eines lebt,
Stirbt mehr als einen Tod Aus der deutschen Übersetzung von Otto Hauser..

»Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading« enthält Besseres als die unter Housmans Einfluß entstandenen Verse, und die letzte der drei oben angeführten Strophen zeugt von einer gedanklichen Feinheit, die Housman kaum erreicht hat.

»Denn wer mehr Leben als eines lebt,
Stirbt mehr als einen Tod.«

Sie enthält auch manche Strophe, die er mit seinem Herzblut geschrieben hat und die eine erhabenere Wirkung ausübt als alles, was der Geist erzeugen kann.

Der Kaplan sprach kein Gebet am Grab
Und trug es zu segnen Scham,
Mit dem Kreuz zu segnen, das Jesus Christ
Für die Sünder auf sich nahm,
Weil dieser von jenen einer war,
Die der Heiland erlösen kam.

Und ich weiß auch dies – und wünschte wohl,
Es wüßte dies jeder so gut –,
Daß man Kerker baut aus Steinen der Schmach,
Die man kittet mit Menschenblut
Und so dicht vergittert, daß Christus nicht seh',
Wie Bruder an Bruder tut.

Und sperren sie Mond und Sonne aus,
– Hatte recht, wer sie so beriet? –
Da heimlich in ihrer Hölle Grund
So viel und so viel geschieht,
Das Gottessohn wie Menschensohn
Am besten niemals sieht!

Das Gemeinste schießt in Kerkerluft
Wie giftiges Kraut empor,
Und stets nur das Gute im Menschen war's,
Das hier welkte und erfror:
Verzweiflung und Furcht sind Wärter hier
Und bewachen das schwere Tor.

Und er mit dem roten Ring am Hals,
Dem so starr die Augen stehn,
Er harrt auf ihn, der den Schacher hieß
Zum Paradiese gehn;
Ein zerbrochen Herz und zerschlagen Gemüt
Wird nicht der Herr verschmähn.

»Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading« ist ganz unstreitig die bedeutendste englische Ballade und eine der edelsten Dichtungen in dieser Sprache. Das hat der Kerker an Oscar Wilde bewirkt.

Ich entsinne mich eines späteren Gesprächs, das ich mit Oscar über diese Dichtung hatte: da äußerte ich die Vermutung, daß seine Erlebnisse im Gefängnis ihm dazu verholfen haben müßten, die Leiden des verurteilten Soldaten nachzuempfinden, und daß sie sicherlich sein Gedicht mit Leidenschaftlichkeit beseelt hatten. Aber davon wollte er nichts wissen und rief:

»Ach nein, Frank, ganz und gar nicht! Meine Erlebnisse im Gefängnis sind zu entsetzlich und zu schmerzlich gewesen, um Nutzanwendung zu finden. Ich habe sie samt und sonders aus meinem Leben gestrichen und mich gegen jede Erinnerung verwahrt.«

Da fragte ich ihn: »Wie steht es aber mit folgender Strophe:

Wir nähten Säcke, wir zogen Zinn,
Wir klopften Kiesel klein,
Wir spannen am Spill, wir drehten den Drill
Und grölten Psalmodei'n:
Doch in jedes Herzen still und stumm
Lag schreckliche Angst und Pein.«

»Das sind charakteristische Einzelheiten, Frank, nur der Dekor des Gefängnislebens, nicht wie es in Wirklichkeit ist. Das würde keiner zu schildern vermögen, nicht einmal Dante, der die Augen abwenden mußte, weil er eine Qual von geringerem Ausmaß nicht schauen konnte.«

Als lehrreiches Beispiel für die gehässige Stimmung, die selbst nach Abbüßung seines Vergehens noch gegen den Namen und die Werke Oscar Wildes herrschte, möchte ich hier vermerken, daß der Herausgeber und der Verlagsbuchhändler sowohl in England als auch in Amerika sein bestes Werk durchaus nicht gut bezahlt hat. Sie hätten ganz gern ein Theaterstück erworben, weil sie wußten, daß es ihnen Geld einbringen würde, aber nach einer von ihm verfaßten Ballade schien niemand Verlangen zu haben. Der höchste Preis, der in Amerika für »Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading« geboten wurde, betrug einhundert Dollar, und Oscar erhielt für die Rechte der englischen Ausgabe mit knapper Not £ 20 von dem Freunde, der die Veröffentlichung übernommen hatte. Dennoch ist die Ballade später in hunderttausend Exemplaren verkauft worden und wird zweifellos stets Absatz finden.

Ich fühle mich verpflichtet, hier einige Stellen aus einem zweiten Briefe von Oscar Wilde einzuschalten, der am 24. März 1898 in der »Daily Chronicle« abgedruckt worden ist und von den Grausamkeiten des englischen Gefängnissystems handelt. Er trägt die Überschrift: »Lest dieses nicht, wenn ihr heute froh sein wollt«, und die Unterschrift: »Der Verfasser der Ballade vom Zuchthaus zu Reading.« Dieser Brief war offenkundig das unmittelbare Ergebnis seiner Erlebnisse im Gefängnis; er war schlicht und ergreifend geschrieben, verfehlte jedoch seine Wirkung auf das Gewissen der Engländer. Der Minister des Innern trug sich gerade mit dem Gedanken, das Gefängnissystem dadurch zu reformieren, daß er die Aufsichtsbeamten vermehrte! Nun wies Oscar Wilde darauf hin, daß die Aufsichtsbeamten lediglich für die Beobachtung der Vorschriften sorgen konnten, und vertrat den Standpunkt, daß eben diese Vorschriften reformbedürftig waren. Seine Vorstellungen waren durch ihre maßvolle und schlichte Form unwiderlegbar. Aber sie gingen offenbar über das Begriffsvermögen eines englischen Innenministers hinaus, denn alle die von Oscar Wilde nachgewiesenen Mißbräuche stehen noch immer in voller Blüte. Ich kann es mir nicht versagen, hier einige Auszüge dieser Anklageschrift wiederzugeben, die besondere Beachtung verdient, weil sie zurückhaltend, verständig und von jeder Bitterkeit frei ist.

»… Der Gefangene, dem die geringste Vergünstigung gewährt worden ist, fürchtet sich vor der Ankunft der Aufsichtsbeamten. Und am Tage einer Gefängnisbesichtigung pflegen die Gefängnisangestellten die Gefangenen roher als gewöhnlich zu behandeln. Natürlich ist es ihre Absicht, dadurch zu beweisen, daß sie für eine ganz herrliche Zucht und Ordnung sorgen.

Die notwendigen Reformen sind sehr einfacher Art und betreffen die körperlichen und geistigen Bedürfnisse der einzelnen unglücklichen Gefangenen.

In bezug auf den Körper gibt es drei Strafen, die in den englischen Gefängnissen dauernd zur Anwendung kommen und durch das Gesetz genehmigt sind:

1. Hunger.
2. Schlaflosigkeit.
3. Krankheit.

Die Gefangenenkost ist vollkommen unangemessen, größtenteils ekelerregend und insgesamt unzureichend. Der Hunger plagt jeden Gefangenen Tag und Nacht …

Die Folgen dieser Kost – die meistens aus dünnen Mehlsuppen, schlechtgebackenem Brot, Talg und Wasser besteht – sind Krankheit in Gestalt einer dauernden Diarrhöe, die bei den meisten Gefangenen schließlich zu einem chronischen Leiden führt und in allen Gefängnissen zur Tagesordnung gehört. Als Beispiel möchte ich erwähnen, daß die Wärter im Gefängnis zu Wandsworth, wo ich zwei Monate in Haft war, bis ich auf weitere zwei Monate in die Krankenabteilung überführt werden mußte, zwei- bis dreimal täglich die Runde machen und ein adstringierendes Medikament an die Gefangenen verteilen, was als etwas ganz Selbstverständliches angesehen wird. Es bedarf wohl keiner Erwähnung, daß das Mittel vollkommen versagt, wenn die Behandlung in dieser Weise ungefähr eine Woche fortgesetzt wird.

So wird der unglückliche Sträfling dem entkräftendsten, niederdrückendsten und demütigendsten Leiden preisgegeben, das man sich vorstellen kann. Und wenn er, was häufig vorkommt, aus körperlicher Schwäche die vorgeschriebenen Strafübungen am Schaufelrad oder an der Tretmühle nicht zu Ende führen kann, wird er wegen Faulheit angezeigt und mit größter Strenge und Roheit bestraft. Aber nicht genug damit:

Es kann nichts Schlimmeres geben als die hygienischen Einrichtungen in den englischen Gefängnissen … Die verpestete Luft in den Gefängniszellen, die durch ein vollkommen unwirksames Ventilationssystem noch verschlechtert wird, ist so ekelerregend und gesundheitswidrig, daß die Wärter nicht selten von heftiger Übelkeit befallen werden, wenn sie aus dem Freien ins Haus treten und die einzelnen Zellen aufschließen und einer Besichtigung unterziehen …

Die andere Strafe, d. h. die Entziehung des Schlafes, ist nur in chinesischen und englischen Gefängnissen üblich. In China verfährt man dabei in der Weise, daß man den Sträfling in einen kleinen Bambuskäfig steckt, während in England die Lattenpritsche angewendet wird. Sie dient als Mittel zur Schlaflosigkeit und hat keinen anderen Zweck, erreicht ihn aber mit unfehlbarer Sicherheit. Und wenn selbst im weiteren Verlaufe der Haft eine harte Matratze gestattet wird, leidet man weiter an Schlaflosigkeit. Es ist eine ebenso empörende wie einfältige Strafe.

Nun möchte ich mir mit Ihrer Erlaubnis einige Bemerkungen über die geistigen Bedürfnisse gestatten.

Es hat fast den Anschein, daß das bestehende Gefängnissystem sich die Schädigung und Vernichtung der geistigen Kräfte zum Ziel gesetzt hat. Die Entwicklung des Wahnsinns ist, wenn nicht sein Zweck, so doch zweifellos seine Folge. Das ist eine beglaubigte Tatsache, und ihre Ursachen sind klar ersichtlich. Ohne Bücher, ohne jeden Verkehr mit anderen Menschen, von jedem menschlichen und mildernden Einfluß abgeschnitten, zu ewigem Schweigen verdammt, jeden Verkehrs mit der Außenwelt beraubt, wie ein vernunftloses Tier behandelt und zu ärgerer Roheit erniedrigt als irgendein tierisches Wesen der Schöpfung, kann der Unglückliche, der in einem englischen Gefängnis eingesperrt ist, dem allmählich entstehenden Wahnsinn kaum entgehen.«

Dieser Brief schloß mit der Bemerkung, daß immer noch genug zu wünschen übrigbleibe, selbst wenn alle angeregten Reformen zur Ausführung kommen würden. Es wäre überdies noch ratsam, »die Gefängnisdirektoren menschlicher, die Wärter zivilisierter und die Geistlichen christlicher zu machen.«

Dieser Brief war der letzte Kraftaufwand des neuen Oscar, der sich mannhaft gemüht hatte, die Gefangenschaft zu überwinden und sich den Sinn des Leides und die Lehre der Liebe zu eigen zu machen, die Christus in die Welt gebracht hat.

Durch die herrlichen Worte über Jesu, die den größeren Teil seines Buches »De Profundis« ausfüllen und gleichfalls während der letzten hoffnungsvollen Monate im Zuchthaus zu Reading geschrieben worden sind, beweist Oscar meines Erachtens, daß er imstande gewesen wäre, viel Erhabeneres zu leisten als Tolstoi oder Renan, wenn er mit Ausdauer begonnen hätte, seine neue Erkenntnis in irgendeine künstlerische Form umzusetzen. Zuweilen hat er Jesu tiefstes Geheimnis erraten:

»Wenn er sagt: ›Vergebet euren Feinden‹, so sagt er es nicht um des Feindes willen, sondern um unserer selbst willen, und weil Liebe etwas Schöneres ist als Haß. Und wenn er den Jüngling selbst eindringlich bittet: ›Verkaufe, was du hast, und gib es den Armen‹, so denkt er dabei nicht an die Lage der Armen, sondern an die Seele des Jünglings, die vom Reichtum verdorben wurde.«

In vielen dieser Worte folgte Oscar Wilde wirklich des göttlichen Meisters Spuren: »Das Bild des Schmerzensreichen«, sagt er, »hat die Kunst so bezaubert und beherrscht, wie keine griechische Gottheit es vermocht hat …« Und an anderer Stelle:

»Aus der Zimmermannswerkstatt zu Nazareth war eine Persönlichkeit erstanden, die unvergleichlich größer ist als irgendeine mythische oder legendenhafte Gestalt: eine Persönlichkeit, die merkwürdigerweise dazu ausersehen war, der Welt die mystische Bedeutung des Weines und die wahre Schönheit der Lilien auf dem Felde zu offenbaren, wie es niemand – weder auf dem Kithäron noch in Enna – je zuvor getan hat. Jesaias' Lied: ›Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg‹ – war ihm als Vorahnung seines eigenen Wesens erschienen, und die Weissagung wurde an ihm erfüllt.«

In dieser Stimmung faßte Oscar den Entschluß, zwei Werke zu schreiben: »Christ as the Precursor of the romantic Movement in life« (Christus als Vorläufer der romantischen Bewegung im Leben) und »The artistic life Considered in its Relation to Conduct« (Das künstlerische Leben in seiner Beziehung zur Lebensführung).

Durch bittere Leiden war er zu der Einsicht gelangt, daß der Zeitpunkt der Reue zugleich der Zeitpunkt der Heiligung und der seelischen Entfaltung ist, – daß unsere Tränen selbst Blut wegwaschen können. In der »Ballade vom Zuchthaus zu Reading« schrieb er:

Und mit blutigen Tränen wusch er rein
Die Hand, die geführt den Stahl,
Denn nur Blut tilgt Blut und nur Tränenflut
Lindert der Wunden Qual;
Und zu Christi schneeweißem Siegel ward
Das blutrote Kainsmal.

Das ist die höchste Warte, die Oscar Wilde jemals erreicht hat, und leider haftete sein Fuß nur einen kurzen Augenblick auf diesem Gipfel. Aber er sagt es ja selbst: »Vielleicht muß man ins Gefängnis kommen, um das zu verstehen. Und um diesen Preis verlohnt es sich vielleicht, ins Gefängnis zu kommen.« Er war nach seiner Veranlagung ein Heide, der auf wenige Monate zum Christen wurde, aber für diesen »zu spät geborenen Griechen« war es unmöglich, als liebender Jünger Jesu zu leben, und er hat nie – nicht einmal im Traum – an eine ausgleichende Synthese gedacht …

Durch den Stillstand in seiner Entwicklung wird er zu einem besseren Vertreter seines Zeitalters: er war der künstlerische Ausdruck der besten englischen Geistesart: ein Heide und Epikureer, dessen Lebensregel ein selbstsüchtiger Individualismus war: »Soll ich meines Bruders Hüter sein?« Dieser Standpunkt muß eine furchtbare Vergeltung zur Folge haben: denn er bereitet jedem vierten Briten ein Armengrab. Und dieses Ergebnis wird den Gefühllosesten davon überzeugen, daß eine derartige Selbstsucht nicht ein Dogma ist, nach dem menschliche Wesen in Gemeinschaft leben können …

*

Diese Sommermonate des Jahres 1897 waren die Erntezeit, der goldene Spätsommer in Oscar Wildes Leben. Ihnen verdanken wir »De Profundis«, das beste Prosawerk, das er jemals geschrieben hat, und »Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading«, seine einzige schöpferische Dichtung, die aber von bleibendem Werte sein wird, so lange es eine Sprache gibt. Auch den liebenswürdigen, bezaubernden Brief an Bobbie Roß, der uns Oscar Wilde in seinem Wesen so lebendig vor Augen führt, verdanken wir diesem Sommer. Ich will noch einige kleine Züge aus derselben Zeit berichten, um seine gewohnte Sinnesrichtung zu kennzeichnen.

Bei seiner Entlassung aus dem Zuchthaus und auch noch ein bis zwei Jahre lang nannte er sich Sebastian Melmoth. Aber man hatte noch nicht sechs Worte mit ihm gesprochen, da bat er gewöhnlich, ihn Oscar Wilde zu nennen. Ich entsinne mich, wie er einen Fremden zurechtwies, der ihm eben erst vorgestellt worden war und ihn dauernd Mr. Melmoth anredete:

»Nennen Sie mich Oscar Wilde«, bat er, »denn niemand weiß doch, wer Melmoth ist.«

»Ich habe geglaubt, es wäre Ihnen lieber«, sagte der Betreffende, um sich zu entschuldigen.

»Ach Gott! nein«, unterbrach Oscar ihn lächelnd. »Ich führe nur den Namen Melmoth, damit der Briefträger nicht zu erröten braucht, – aus Rücksicht auf seine Keuschheit«, und er lachte sein altes köstliches Lachen.

Die lebhafte Freude, mit der er den neuen Namen abschüttelte und den alten, der ihn berühmt gemacht hatte, wieder aufnahm, war für mich stets bezeichnend.

Und eine kleine Geschichte aus seinem damaligen Leben im Châlet bekundete, daß das alte humorvolle Heidentum noch nicht in ihm erloschen war.

Eine englische Dame, die Verfasserin zahlreicher Romane, die sich zufällig in Dieppe aufhielt, hörte von seiner Anwesenheit und sandte ihm – sei es aus Güte, sei es aus Neugierde, oder vielleicht auch durch eine Mischung dieser beiden Triebfedern bewogen – eine schriftliche Einladung zum Mittagessen, die er annahm. Die biedere Dame wußte nicht, was sie mit Mr. Sebastian Melmoth sprechen sollte, und die Zeit kroch träge dahin. Schließlich fing sie an, die billigen Preise in Frankreich mit der größten Ausführlichkeit zu erörtern: ob Mr. Melmoth wohl wußte, wie erstaunlich billig und gut man hier leben konnte?

»Sehen Sie«, fuhr sie fort, »Sie würden es gewiß nicht für möglich halten, was der Rotwein kostet, den Sie da trinken.«

»In der Tat?« fragte Oscar mit höflichem Lächeln.

»Selbstverständlich beziehe ich ihn in größeren Mengen«, erklärte sie ihm, »aber eine Quartflasche kostet mich nur six pence.«

»Ach, ich fürchte, daß Sie betrogen worden sind, verehrte Frau«, rief er aus, »die Damen sollten wirklich keinen Wein kaufen. Ich fürchte, da sind Sie böse übervorteilt worden.«

Der Humor kann wohl als Entschuldigung für die Unhöflichkeit gelten, aber Oscar war im Verkehr mit allen Menschen so gleichmäßig liebenswürdig, daß dieser Zwischenfall nur beweist, wie unsäglich er gelangweilt worden war.

Die Sommermonate des Jahres 1897 bildeten die entscheidende Zeit und den letzten Wendepunkt in Oscar Wildes Laufbahn. Solange das sonnige Wetter anhielt und ihn seine Freunde von Zeit zu Zeit besuchten, war Oscar mit seinem Leben im Châlet Bourgeat zufrieden. Aber als die Tage allmählich abnahmen und das Wetter unbeständig wurde, fand er die Eintönigkeit dieses einsamen, in seinen vier Wänden ohne Bücher verbrachten Lebens unerträglich. Und so fühlte er sich nach zwei entgegengesetzten Richtungen hingezogen. Damals wußte ich das noch nicht, er hat es mir tatsächlich erst nach Monaten erzählt, als die Frage bereits unwiderruflich entschieden war. Aber in diesem Augenblick stand seine Seele am Scheidewege zwischen dem guten und dem bösen Element. Denn es handelte sich darum, ob seine Frau sich wieder mit ihm vereinigen, oder ob er Lord Alfred Douglas' dringendem Verlangen nachgeben und sein Leben mit ihm teilen würde.

Sherard hat in seinem Buche berichtet, daß er die erste Aussöhnung zwischen Oscar und seiner Gattin zuwege gebracht und unmittelbar darauf ein Schreiben von Lord Alfred Douglas mit der Drohung erhalten hatte, ihn wie einen Hund niederzuschießen, wenn er, Douglas, durch irgendwelche Bemerkungen von Sherards Seite Wildes Freundschaft einbüßen würde.

Unglücklicherweise waren Mrs. Wildes Angehörige gegen ihre Wiedervereinigung mit dem Gatten; sie baten sie, nicht zu ihm zurückzukehren, und stellten ihr vor, was sie ihren Kindern und sich selbst schuldig wäre. Zuletzt fügte sich Mrs. Wilde der Entscheidung ihrer Ratgeber und teilte Oscars Rechtsbeistand kurz vor seiner Entlassung aus dem Zuchthause mit, daß Oscar fürs erste eine einjährige Probezeit auferlegt werden sollte. Ich bin über Mrs. Wilde, über ihr Verhältnis zu den Verwandten und dem Gatten nicht genügend unterrichtet, um ihr passives Benehmen in irgendeiner Weise zu erörtern, und ich erlaube mir nicht, sie zu tadeln. Aber sie ging nicht zu ihrem Gatten und hätte ihn vielleicht damals retten können, wenn sie guten Mutes zu ihm gegangen wäre. Sie kannte den Einfluß, den Lord Alfred Douglas auf ihn ausübte, und wußte, daß er ihn bereits ins Unglück gebracht hatte. Gide sagt, daß Oscar mit dem Entschluß aus dem Zuchthause gekommen war, nicht mehr zu Alfred Douglas und zu seiner alten Lebensweise zurückzukehren, was Oscar mir gegenüber nachher bestätigt hat. Ich finde es bedauerlich, daß seine Frau nicht kurz entschlossen gehandelt hat; sie ließ sich einreden, daß eine Probezeit notwendig wäre. Oscar fühlte sich durch die ausbedungene Frist verletzt und kämpfte während der ganzen Zeit – wie ich etwas später aus seinem eigenen Munde gehört habe – gegen einen Einfluß, der sein vergangenes Leben beherrscht hatte.

»Frank, ich erhielt fast täglich einen Brief mit der Bitte, in die Villa auf dem Posilipo zu kommen, die Lord Alfred Douglas gemietet hatte. Täglich hörte ich, wie seine Stimme mich rief: ›Komm, komm in den Sonnenschein und zu mir. Komm nach Neapel mit seiner wundervollen Bronzensammlung, mit Pompeji und Pästum – Poseidons Stadt: Ich warte darauf, Dich willkommen zu heißen. Komm.‹

»Wer hätte da widerstehen können, Frank? Die Liebe rief, sie rief mit ausgebreiteten Armen. Wer hätte im öden Berneval bleiben und zusehen können, wie der Regen in Strömen eintönig niederging, wie der graue Nebel die graue See einhüllte, und dabei an Neapel, an Liebe und Sonne gedacht? Ich habe es nicht gekonnt, Frank, ich war so verlassen, und die Einsamkeit war mir verhaßt. Ich habe mich dagegen gewehrt, so lange es möglich war, aber als der frostige Oktober kam – und Bosie nach Rouen, um mich zu holen, da habe ich vom Kampfe Abstand genommen und nachgegeben.«

Hätte Oscar Wilde siegen und sich selbst ein neues und höheres Leben schaffen können? Die meisten Menschen neigen zu der Überzeugung, daß ein solcher Sieg ihm unmöglich war. Jeder weiß, daß er unterlegen ist, aber ich möchte wenigstens glauben, daß er zu siegen vermocht hätte. Seine Frau war, wie mir später erzählt worden ist, im Begriff, nachzugeben und sich vollständig mit ihm auszusöhnen, als sie erfuhr, daß er nach Neapel gegangen und seine alte Lebensweise wieder aufgenommen hatte; wenige Tage noch, – und alles wäre ganz anders gekommen.

Auf Lord Alfred Douglas' Betreiben strengte Oscar den unsinnigen Prozeß gegen Lord Queensberry an, er setzte seinen Erfolg, seine Stellung, seinen guten Namen und seine Freiheit aufs Spiel und verlor alles. Und zwei Jahre später unterlag er derselben Versuchung und beging einen seelischen Selbstmord.

Er war nicht nur in einer besseren gesundheitlichen Verfassung als je zuvor, auch seine Leistungen in Wort und Schrift waren besser, als sie jemals gewesen waren. Und er trug sich mit vielen literarischen Plänen, die ihm zweifellos zu Geld, zu Stellung und Glücksmöglichkeiten verholfen und überdies seinen Ruhm erhöht hätten. Von dem Augenblick an, als er nach Neapel ging, war er ein verlorener Mann, und das wußte er selbst. Er hat sich später nie mehr schriftstellerisch betätigt und konnte – nach seinen eigenen Worten – später nie mehr von Angesicht zu Angesicht in seine Seele blicken.

Die Welt behauptet, daß er sich nie wieder durchgerungen hätte, und zuckt die Achseln. Aber das ist eine oberflächliche, nicht zu rechtfertigende Schlußfolgerung. Manche von uns halten noch immer an der Überzeugung fest, daß Oscar Wilde mühelos zu siegen vermocht hätte und nie wieder ein Spiel jenes furchtbaren Sturmes geworden wäre, der die Opfer sinnlicher Begierde ohne Unterlaß umherpeitscht und sie ruhelos bald nach rechts und bald nach links treibt, – an jener grausigen Stätte, wo keine Hoffnung sie tröstet: »Nulla speranza gli conforta mai!«


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