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XXIII
Sein Urteil über Schriftsteller und Frauen

Er war ein unvergleichlicher Gefährte, restlos liebenswürdig und doch lebensvoll und eifrig wie ein Kind. Er war stets angeregt und anregend. In Avignon wurden wir wach und stiegen im Pyjama und Überzieher aus, um uns die Füße ein bißchen zu vertreten und uns auf dem Bahnsteig im perlgrauen Lichte der frühen Morgenstunde eine Tasse Kaffee geben zu lassen. Und als wir Kaffee getrunken und eine Zigarette geraucht hatten, führte er mich auf die andere Seite des Bahnsteigs, damit wir einen Blick auf die Stadtmauer werfen konnten, die zwar furchtbar schlecht erneuert ist, aber, aus einer gewissen Entfernung betrachtet, dennoch den Beschauer um fünfhundert Jahre – in das Zeitalter des Rittertums – zurückversetzt.

»Wie gern wäre ich ein Troubadour oder ›trouvère‹ gewesen, Frank; es war mein eigentliches ›Metier‹, von einem Schloß zum anderen zu ziehen, Liebeslieder zu singen und romantische Geschichten zu erzählen, um den vornehmen Leuten die Langeweile zu vertreiben. Denk' nur, welchen Empfang sie mir bereitet hätten, wenn ich neuen Frohsinn, neue Gedanken und neue Leidenschaften in die Einsamkeit ihrer Burgen gebracht hätte, – ein bißchen Klatsch und Lästerung als Luftzug aus der Außenwelt, um den unerträglichen Stumpfsinn des Mittelalters angenehm zu unterbrechen. Am Hofe zu Aix würde ich geblieben sein: ich glaube, da hätten sie mich mit Blumenketten festgebunden, und mein Ruhm wäre über die sonnigen Weinberge und die grauen Olivenhügel der Provence gedrungen.«

Als wir dann wieder in den Zug stiegen, bemerkte er:

»Die nächste Station ist Marseille, nicht wahr, Frank? Seit nahezu dreitausend Jahren steht diese große historische Stadt. Wenn man sich damit vergleicht, hat man wirklich das Gefühl, ein Barbar zu sein, und doch weiß ich nichts weiter von Marseille, als daß es wegen seiner ›bouillabaisse »Bouillabaisse« ist eine Art Fischsuppe, die besonders in der Provence gegessen wird.‹ berühmt ist. Was meinst du dazu, wenn wir dableiben und uns ein bißchen geben lassen?«

»›Bouillabaisse‹ ist keine besondere Spezialität von Marseille und von der ›Rue Canebière‹«, erwiderte ich. »Die kannst du hier an der ganzen Küste bekommen. Dazu braucht man nur eins, und zwar den ›rascasse‹, einen Fisch, der zwischen den Klippen gefangen wird. An unserem Ziel wirst du ganz vorzügliche Bouillabaisse zum Mittagessen bekommen.«

»Welches ist denn unser Ziel? Das hast du mir noch gar nicht gesagt.«

»Darüber hast du zu bestimmen«, antwortete ich. »Wenn du dich nach vollkommener Ruhe sehnst, so gibt es zwei Orte im Esterel-Gebirge: Agay und La Napoule. Agay liegt mitten in den Bergen. Da würdest du unbedingt allein sein, es sei denn, daß sich gelegentlich ein französischer Maler dort einfindet. Und La Napoule liegt acht bis zehn Meilen von Cannes entfernt, so daß die Stadt mit ihren Zerstreuungen für dich erreichbar ist. Es gibt auch noch einen dritten Ort, an den ich gedacht hatte, der ist stiller als beide und liegt in den Bergen hinter Nizza.«

»Nizza, – das klingt wundervoll, Frank, aber da würde ich zu viele Engländer treffen, die mich kennen, und die sind furchtbar ungeschliffen. Ich denke, wir wählen lieber La Napoule.«

So stiegen wir denn gegen zehn Uhr in La Napoule aus und ließen uns in dem kleinen Hotel nieder, wo wir zur großen Freude des Wirtes drei der besten Zimmer im zweiten und zugleich höchsten Stockwerk mieteten. Um zwölf Uhr frühstückten wir im Freien unter einem großen Sonnenschirm und genossen die Aussicht aufs Meer. Ich hatte den Wirt aufgefordert, uns seine ganze Kunst zu zeigen, und so brachte er uns ein gebackenes Gericht kleiner roter Seebarben, die uns darüber belehrten, wie nüchtern unsere Weißfische schmecken. Dann gab es ein einfaches Beefsteak »aux pommes«, ein Stückchen Käse und einen Eierkuchen. Und wir waren beide ganz einig, daß wir ganz vorzüglich gefrühstückt hatten. Der Kaffee ließ zwar ziemlich viel zu wünschen übrig, und die Weinliste hatte keinen trinkbaren Champagner aufzuweisen. Aber diesen beiden Mängeln konnte am nächsten Tage abgeholfen werden, was denn auch geschah.

Wir benutzten die Nachmittags- und Abendstunden, um zwischen der Meeresküste und den Fichtenhügeln umherzustreifen. Am nächsten Morgen machte ich mich ein bißchen an die Arbeit, aber am Nachmittag blieb mir Zeit, um zu wandern und alles gründlich zu erforschen. Auf einer meiner ersten Fußtouren entdeckte ich ein Kloster, das fünfhundert Fuß über dem Meer zwischen den Hügeln lag und von einem italienischen Mönch, dem jetzigen Prior, erbaut worden war. Ich machte Père Vergiles Er lebte bis zum November 1910. Bekanntschaft und plauderte lange mit ihm. Er war weise und energisch zugleich und hatte ein gewinnendes, mildes Wesen. Wenn er als Kind aus seinem kleinen Fischerdorf nach Neuyork oder Paris gekommen wäre, hätte er es sicherlich zu Macht und Ehren gebracht. Eines Nachmittags nahm ich Oscar mit, um ihn zu besuchen; wir brauchten von unserem Hotel bis zum Kloster nur dreiviertel Stunde gemächlich zu gehen; aber Oscar brummte über den »unangenehmen« Weg, der ihm meilenweit erschien, und fand außerdem, daß die Straße holprig und die Sonne glühend war. Aber in Wirklichkeit war er über die Maßen träge. Dennoch bestrickte er den Italiener durch sein liebenswürdiges Wesen und seine lebendige Rede. Und sobald der Abbé mit mir allein war, erkundigte er sich nach Oscar und sagte:

»Er muß ein vornehmer Mann sein, er trägt das Gepräge eines vornehmen Mannes und muß bei Hofe gelebt haben: denn er besitzt die bezaubernde, anmutige, lächelnde Liebenswürdigkeit der vornehmen Leute.«

»Ja«, nickte ich geheimnisvoll, »ein vornehmer Mann – incognito.«

Der Abbé forderte uns auf, zum Abendessen zu bleiben, und gab uns seine ältesten Weine und einen besonderen Likör zu kosten, den er selbst herstellte. Dabei erzählte er uns, daß er das Kloster ohne Geld erbaut hatte, und als wir unserer Verwunderung lauten Ausdruck gaben, wies er uns sanft zurecht:

»Alles Große wird durch den Glauben erbaut, und nicht mit dem Gelde; ist's da verwunderlich, daß dieses kleine Bauwerk auf jener ewigen Grundlage sicher steht?«

Als wir das Kloster verließen, war es bereits Nacht, und der Mond zeichnete die Blätter der Bäume als phantastische Schattenbilder auf den Pfad, während wir durch die Waldallee zur Meeresküste hinabstiegen.

Da sagte Oscar zu mir: »Frank, entsinnst du dich der Virgilschen Worte: ›per amica silentia lunae?‹ – Ich finde sie immer so unbeschreiblich schön; der zauberhafteste Ausdruck, der jemals für den Mond gefunden worden ist, abgesehen von Brownings Worten in dem Gedicht, in dem er ›sogar Keats‹ erwähnt. Ich liebe diese Formel ›amica silentia‹. Was für eine schöne Wesensart dem Manne eigen war, der ›des Mondes freundwilliges Schweigen‹ empfinden konnte!«

Als wir den Fuß des Hügels erreicht hatten, erklärte Oscar, daß er müde war.

»Nach einer Meile bist du müde?« fragte ich ihn.

»Ja, todmüde und ganz erschöpft«, sagte er und lachte über seine eigene Trägheit.

»Wollen wir uns ein Boot nehmen und über die Bucht rudern?«

»Wie herrlich! Gewiß, das wollen wir machen.« Und so gingen wir zur Landungsstelle hinab. Ich hatte das Meer noch nie so still gesehen. Die Bucht war zur Hälfte vom Berge verhangen und undurchsichtig wie matter Stahl. Und etwas weiter draußen sah das Wasser wie ein purpurfarbenes Wappenschild aus, das mit schimmerndem Silber verziert ist. Wir riefen einen Fischer herbei, setzten ihm unsere Wünsche auseinander und stiegen ins Boot. Zu meiner Überraschung fing Oscar an, den Fischerknaben beim Namen zu nennen; offenbar war er sehr gut bekannt mit ihm. Sobald wir landeten, ging ich vom Boot zum Hotel hinauf und ließ Oscar mit dem Knaben allein …

In vierzehn Tagen lernte ich Oscars Wesen, wie es sich damals zeigte, ziemlich gründlich kennen: er war im höchsten Grade schlaff und recht froh, wenn er die Zeit in stundenlangen Gesprächen mit den Fischerjungen hinbringen konnte. Oder er nahm sich einen kleinen Wagen und fuhr nach Cannes, um sich in irgendeinem Kaffeehaus an der Landstraße zu vergnügen.

Er war nie gern spazieren gegangen, während ich täglich meilenweit wanderte. Auf diese Weise verbrachten wir nur einen, im Höchstfalle zwei Nachmittage in der Woche zusammen und sahen uns so wenig, daß unsere Gespräche fast immer eine gewisse Bedeutung hatten. Wiederholentlich wurden zeitgenössische Namen erwähnt, und zum erstenmal fiel es mir geradezu auf, daß er in der Tat fast über jeden einzelnen geringschätzig dachte und über viele, mit denen er angeblich befreundet war, eine scharfe Bemerkung zu machen hatte. So sprachen wir eines Tages von Ricketts und Shannon, und ich sagte, daß Ricketts sich einen großen Namen gemacht haben würde, wenn er in Paris gelebt hätte: denn ich fand viele seiner Ideen ungewöhnlich, und seine Geistesart war eigenartig französisch, ja sogar »mordante«. Aber Oscar liebte es nicht, wenn irgend jemand gerühmt wurde.

»Kennst du die Bezeichnung, die ich für die beiden gefunden habe, Frank? Mir gefällt sie: ich nenne sie ›Hitzige Temperatur und Temperament‹ (Temper and Temperament).«

War Oscar durch die Zuchthausstrafe ein bißchen hämisch geworden, oder konnte er der Versuchung des witzigen Wortspiels nicht widerstehen?

»Was hältst du von Arthur Symons?« fragte ich ihn.

»Ach, Frank, schon vor langer Zeit habe ich von ihm gesagt: er ist das traurige Exemplar einer selbstsüchtigen Person ohne Persönlichkeit.«

»Und was hältst du von deinem Landsmann George Moore? Der ist doch recht populär«, fuhr ich fort.

»Populär – Frank, das will doch nichts besagen. George Moore hat seinen ganzen Bildungsgang vor den Augen der Öffentlichkeit durchgemacht. Er hatte zwei oder drei Bücher geschrieben, ehe er ausfindig machte, daß es etwas gibt, was man englische Grammatik nennt. Dann kündigte er sofort seine Entdeckung an und errang auf diese Weise die Bewunderung der Ungebildeten. Nach ein paar Jahren entdeckte er, daß die schriftstellerische Ausdrucksform etwas Architektonisches an sich habe, daß die Sätze zu einem Abschnitt – und die Abschnitte zu Kapiteln zusammengefügt werden mußten, usw. Selbstverständlich posaunte er auch diese Offenbarung von den Dächern in die Welt hinein und errang dadurch die Bewunderung der Journalisten, die während ihres ganzen Lebens Bruchsteinhäufchen zusammengetragen hatten, ohne es zu wissen. Ich fürchte sehr, Frank, daß er trotz all seiner Bemühungen sterben wird, ehe er die Stufe erreicht, wo der Schriftsteller erst anfängt. Es ist schade, weil er unstreitig ein Fünkchen echtes Talent hat. Von Symons unterscheidet er sich dadurch, daß er eine Persönlichkeit besitzt, aber seine Persönlichkeit hat fünf Sinne und keine Seele.«

»Und wie steht's mit Bernard Shaw?« forschte ich weiter, »letzten Endes wird er doch wohl mitzählen?«

»Ja, Frank, der Mann hat wirklich Begabung, aber eine trockene Geistesart. Seine humoristischen Lichtstrahlen wirken wie die Wintersonne auf einer kahlen, starren Landschaft. Er hat keine Leidenschaftlichkeit, kein Gefühl, und wie kann man Künstler sein, ohne leidenschaftlich zu fühlen? Er glaubt an nichts und liebt nichts, nicht einmal Bernard Shaw, und im Grunde genommen wundere ich mich wirklich nicht über seine Gleichgültigkeit.« Und er lachte mutwillig.

»Und Wells?« fragte ich.

»Ein Jules Verne in wissenschaftlicher Ausgabe«, erwiderte er achselzuckend.

»Hast du überhaupt an Hardy Gefallen gefunden?« fragte ich weiter.

»Nicht sonderlich. Bei ihm hat's gerade dazu gereicht, um ausfindig zu machen, daß die Frau ein paar Beine unter dem Rock hat, und diese Entdeckung hat sein Leben fast zugrunde gerichtet. Ich glaube, in seinen Mußestunden schreibt er Gedichte, und ich fürchte, es wird ein Stück Arbeit sein, sie zu lesen. Er versteht nichts von der Liebe und hält die Leidenschaft für eine Kinderkrankheit, wie z. B. die Masern – ein armseliger, unglücklicher Geist!«

»Deine Schilderung würde auf Mrs. Humphry Ward zutreffen«, meinte ich.

»Gott behüte, Frank!« rief er mit so gut gespieltem Entsetzen, daß ich lachen mußte. »Letzten Endes ist Hardy doch ein Schriftsteller und ein bedeutender Landschaftsmaler.

»Ich weiß nicht, woher es kommt«, fuhr er fort, »aber wenn ich von englischen Berühmtheiten spreche, werde ich immer zum Heiratsvermittler. Gar zu gern hätte ich Mrs. Humphry Ward als errötendes achtzehn- oder zwanzigjähriges Mädchen mit Swinburne bekannt gemacht, der sie gewiß mit einem wilden Kuß in den Hals gebissen hätte. Dann wäre sie davongelaufen und hätte ihn bei Gericht angezeigt, oder aber schweigend Qualen erduldet, – halb aus Lust und halb aus Scham!

»Und wenn man nur Thomas Hardy mit Victoria Croß verheiraten könnte, würde er vielleicht ein Quentchen wahre Leidenschaft bekommen haben, um seinen kleinen gezierten Almanach-Damenbildern etwas Leben einzuhauchen. Ich glaube, daß sehr viele Schriftsteller auf diese Weise gerettet werden könnten, aber da blieben immer noch die Leute vom Schlage Corelli und Hall Caine übrig; mit ihnen läßt sich nichts anderes anfangen, als sie Rücken an Rücken zusammenzubinden – was ihnen nicht einmal besondere Pein bereiten würde – und sie in den Fluß zu werfen, um eine moderne ›noyade‹ zu veranstalten Während der Schreckensherrschaft wurden in Nantes Tausende von Menschen auf diese Weise ums Leben gebracht.: ich glaube, die Themse bei Barking wäre zu diesem Zweck ganz geeignet …«

»Wo gehst du eigentlich nachmittags immer hin?« fragte ich ihn gelegentlich einmal.

»Nach Cannes, Frank, da setze ich mich in ein Kaffeehaus und schaue übers Meer nach Capri, wo Tiberius wie eine lauernde Spinne zu sitzen pflegte. Und dann bilde ich mir ein, daß ich ein Verbannter, das Opfer einer seiner unergründlichen Verdächtigungen bin. Oder ich versetze mich nach Rom und schaue den Leuten zu, die bei den ›Floralien‹ mit nacktem Körper, aber vergoldeten Lippen, durch die Straßen tanzten. Ich nehme das Nachtmahl mit dem ›arbiter elegantiarum‹ ein und« – er zupfte sich am Unterkinn – »dann kehre ich nach La Napoule zurück, Frank, – zu dem schlichten Leben und dem Reiz der geruhigen Freundschaft.«

Immer deutlicher erkannte ich, daß die Anstrengung und ausdauernde Arbeit der literarischen Betätigung ganz und gar über seine Kräfte ging. Jetzt glich Oscar Wilde einem jener genialen Männer, die nur das mündliche Wort beherrschen, die halb Künstler und halb Träumer sind, – von denen Balzac verächtlich sagt, daß sie ihr Leben damit vergeuden, »zu reden, um sich reden zu hören«. Sie sind wohl imstande, feine Gedanken zu ersinnen und gelegentlich feine Worte zu prägen, aber nicht imstande, die schwere Mühe der Ausarbeitung zu leisten, – entzückende Gefährten, deren Schicksal es am Ende doch ist, in Not und Armut zu geraten.

Unablässiges Schaffen ist die erste Bedingung der Kunst, wie es die erste Bedingung zum Leben ist.

Eines Tages fragte ich ihn, ob er sich der schrecklichen Bemerkung über die sogenannten »Kunst-Eunuchen« in Balzacs Roman »La Cousine Bette« entsinnen könnte.

»Gewiß, Frank«, erwiderte er, »aber Balzac war vermutlich auf den Künstler des mündlichen Wortes neidisch. Auf jeden Fall dürften wir, die wir das Wort in dieser Form meistern, nicht von den Leuten verurteilt werden, denen unsere Begabung zugute kommt. Es sollte der Nachwelt überlassen bleiben, uns zu tadeln. Aber bei alledem habe ich doch auch ziemlich viel geschrieben. Besinnst du dich darauf, wie Brownings Sarto sich selbst verteidigt:

›Mag doch ein beßrer Erbe
Zweihundert meiner Bilder malen, – laßt's ihn versuchen‹.''

Oscar hatte kein Verständnis dafür, daß Balzac – nach Théophile Gautiers Anschauung einer der größten Künstler des gesprochenen Wortes, die je gelebt haben – die Versuchung verurteilte, der er selbst zweifellos allzuoft unterlegen war. Zu meiner Überraschung las Oscar nun auch nicht mehr viel; er hatte kein Verlangen, neue Gedanken zu hören, und widersetzte sich gewissermaßen jedem neuen geistigen Einfluß. Vermutlich hatte er seinen Höhepunkt erreicht und fing an zu verknöchern, wie es bei Menschen zu sein pflegt, deren Wachstum zu Ende ist.

Eines Tages fragte ich ihn beim Mittagessen: »Du hast mir doch einmal gesagt, daß du dich immer in die Rolle jeder geschichtlichen Persönlichkeit hineindenkst. Angenommen, du wärst Jesus gewesen, welche Religion hättest du wohl gelehrt?«

»Das ist eine erstaunliche Frage!« rief er. »Welches ist denn meine Religion? Was habe ich für einen Glauben?

»Ich glaube zuvörderst an die persönliche Freiheit der Menschenseele. Jeder Mensch sollte das tun, was ihm beliebt, und sich entwickeln, wie er will. England – oder vielmehr London, denn außer London kenne ich England nur wenig – war für mich ein idealer Ort, bis sie mich bestraft haben, weil ich ihre Neigungen nicht teilte. Wie widersinnig ist das alles gewesen, Frank: wie durften sie es wagen, mich für etwas zu strafen, das in meinen Augen gut ist? Wie durften sie es nur wagen?« Und er versank in trübes Sinnen … Der Gedanke an ein neues Evangelium besaß für ihn keine wirkliche Anziehungskraft.

Ungefähr um dieselbe Zeit erzählte er mir zum erstenmal, daß er beabsichtige, ein neues Theaterstück zu schreiben.

»Es enthält eine großartige Szene, Frank«, sagte er. »Stell' dir einen fünfundvierzigjährigen verheirateten Lebemann vor. Natürlich ist der Mann unverbesserlich, – ein hoher Adliger, der die Frau, in die er verliebt ist, überredet, zu ihm aufs Land zu kommen und bei ihm zu wohnen. Eines Abends klagt seine Frau über Kopfschmerzen und geht in das obere Stockwerk, um zu ruhen. Nun liegt sie in einem der Zimmer hinter einem Wandschirm im Halbschlaf und wird durch die Liebesworte geweckt, die ihr Mann mit seiner Freundin tauscht. Sie kann sich nicht regen: atemlos ist sie an ihr Lager gefesselt und hört alles. Und dann, Frank, geht der Gatte der anderen zur Tür und findet sie verschlossen. Da er aber weiß, daß seine Frau sich mit dem Gastgeber im Zimmer aufhält, schlägt er mit Gewalt gegen die Tür und verlangt Einlaß. Während nun die Schuldigen flüsternd miteinander sprechen, – während die Frau dem Manne Vorwürfe macht und der Mann sich bemüht, einen Vorwand, eine Möglichkeit zu finden, um aus der Schlinge herauszukommen –, steht seine Frau ganz gelassen auf und schaltet das Licht ein, und die beiden Feiglinge starren sie an – mit rasendem Verdacht. Sie gleitet zur Tür und öffnet sie, der Gatte stürzt ins Zimmer und findet die Gastgeberin nebst dem Gastgeber – und seine Frau. Ich finde, das ist ein großartige Szene, Frank – ein großartiges Bühnenbild!«

»Ja«, sagte ich, »das ist eine großartige Szene, weshalb arbeitest du sie nicht schriftlich aus?«

»Das werde ich vielleicht nächster Tage tun, Frank, aber jetzt habe ich ein Gedicht im Kopf, eine ›Ballade vom Fischerknaben‹, gewissermaßen ein Gegenstück zu der ›Ballade vom Zuchthaus zu Reading‹. Da will ich von der Freiheit singen, und nicht von der Gefangenschaft, – von der Lust, und nicht vom Schmerz, – von einem Kuß, und nicht vom Hochgericht. Und.dieses Lied von der Lust wird mir viel besser gelingen als das Lied vom Schmerz und von der Verzweiflung.«

»Wie Davidsons ›Ballad of a Nun‹ (Ballade von der Nonne)«, sagte ich, nur um etwas zu sagen.

»Es war ganz natürlich, daß Davidson die ›Ballade von der Nonne‹ geschrieben hat, seine Begabung ist echt schottisch und herbe, ich aber möchte die ›Ballade vom Fischerknaben‹ schreiben«, – und er versank in Träumerei.

Der Gedanke an die verbüßte Strafe beschäftigte ihn häufig. Er hielt sie für schrecklich unrecht und ungerecht, ohne jemals zu bestreiten, daß die Gesellschaft die Berechtigung habe, zu strafen. Und er empfand es nicht, daß man durch dieses Zugeständnis das an ihm begangene Unrecht verteidigen konnte.

»Ich habe mich immer für einen Meister des Lebens gehalten«, sagte er. »Wie durften diese kleinen Wichte sich erdreisten, mich zu verurteilen und zu bestrafen, da jeder einzelne von ihnen mit sinnlichen Trieben besudelt ist, vor denen ich Ekel empfinde.«

Um ihn von diesem bitteren Rückblick abzulenken, sprach ich die Worte aus Shakespeares Sonett:

»Warum auch schauen fremde Blickverdreher
Mit falschen Augen auf mein frohes Blut?
Was lauern meiner Schwächen schwächre Späher
Und machen schlecht, was meines Wissens gut?« Aus der im Insel-Verlag erschienenen deutschen Übersetzung von Eduard Saenger.

»Das klingt genau wie deine eigene Klage, Oscar.«

»Es ist erstaunlich, Frank, wie gut du ihn kennst, und doch willst du seine vertraulichen Beziehungen zu Pembroke leugnen. Für dich ist er ein lebendiger Mensch, du sprichst immer von ihm, als wäre er eben aus dem Zimmer gegangen, und doch glaubst du beharrlich an seine Unschuld.«

»Du verstehst mich falsch«, erwiderte ich, »die leidenschaftliche Liebe seines Lebens galt Mary Fitton, um sie mit Namen zu nennen: ich meine die ›dunkle Dame‹ in den Sonetten – Beatrice, Cressida und Kleopatra. Und du gibst doch selbst zu, daß ein Mann, der eine Frau rasend liebt, für andere Einflüsse ›immun‹ ist, wie die Ärzte das wohl nennen.«

»Ach ja, Frank, selbstverständlich; wie aber konnte Shakespeare mit seiner schönen Wesensart eine Frau in dieser rasenden Maßlosigkeit lieben?«

»Shakespeare empfand eben für die plastische Schönheit nicht eine solche überwältigende Liebe wie du«, erwiderte ich. »Er verliebte sich in eine kraftvolle Persönlichkeit, welche die Ergänzung seines eigenen fügsamen, liebenswürdigen Gemütes bildete.«

»So ist es«, unterbrach er mich, »unsere Gegensätze ziehen uns unwiderstehlich an, – es ist der Reiz des Fremdartigen.«

»Du redest jetzt oft so, als hättest du nie eine Frau geliebt«, fuhr ich fort, »und doch mußt du – mehr als eine geliebt haben.«

»Das war ›meine Milchzeit‹, Frank«, zitierte er lächelnd, »als mein Verstand noch grün Shakespeare: »Antonius und Kleopatra«., mein Herz noch kalt.«

Aber ich ließ mich nicht beirren: »Nein, nein, es ist noch gar nicht lange her, daß du Lady Soundso und die beiden Terrys begeistert gerühmt hast.«

»Lady …«, sprach er in ernstem Ton (und es fiel mir geradezu auf, daß der Titel an sich ihn zu einer förmlichen, dichterischen Ausdrucksweise verlockte), »Lady … rührt mein Herz wie eine Lilie im Wasser, – ich stelle sie mir stets als Lilie vor; ebenso wie ich mir Lily Langtry immer als Tulpe mit den Formen einer elfenbeingeschnitzten griechischen Urne vorgestellt habe. Aber die Terrys habe ich stets angebetet: Marion ist eine bedeutende Schauspielerin, sie hat einen einschmeichelnden Zauber und rätselhaften Reiz: das Vorbild meiner ›Frau ohne Bedeutung‹ – kunstvoll und bestrickend; sie gehört zu meinem dramatischen Werk –«

Und da er den Faden verloren zu haben schien, fragte ich von neuem:

»Und Ellen?«

»Ach! Ellen ist ein vollkommenes Wunder«, rief er überströmend, »ein großer Mensch. Kennst du ihre Geschichte?« Und ohne meine Antwort abzuwarten, ging es weiter:

»Im Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren fing sie ihre Laufbahn als Modell bei dem Maler Watts an. Und nach Verlauf einer Woche las sie so mühelos in seiner Seele wie in einem gedruckten Buch. Er behandelte sie mit herablassender Liebenswürdigkeit: ›en grand seigneur‹, und dafür hat sie sich selbstverständlich an ihm gerächt.

»Eines Tages kam ihre Mutter ins Atelier und fragte Watts, was er mit Ellen zu tun beabsichtige, worauf Watts erwiderte, daß er diese Frage nicht verstände. ›Ellen hat sich in Sie verliebt‹, sagte die Mutter, ›und das wäre unmöglich geschehen, wenn Sie ihr keine Aufmerksamkeiten erwiesen hätten.‹

»Der arme Watts verwahrte sich immer von neuem dagegen, aber die Mutter war wie aufgelöst und sagte schluchzend, daß ihrem Kinde das Herz brechen würde. Schließlich fragte Watts ganz verzweifelt, was er denn tun solle, und da konnte die Mutter nur zu einer Heirat raten.

»So heirateten sie denn zu guter Letzt.«

»Das ist nicht dein Ernst«, rief ich, »ich habe nie gewußt, daß Watts sich mit Ellen Terry verheiratet hatte.«

»Aber gewiß«, erwiderteOscar, »sie waren regelrecht verheiratet. Die Mutter hat dafür gesorgt, und wenn man gerecht sein will, muß man sagen, daß Watts sich der ganzen Familie gegenüber wie ein Gentleman benommen hat. Aber als Idealist – oder wie ein welterfahrener Mann sagen würde: als Tor, der er war, schämte er sich seiner Frau. Er war in seinem Verkehr mit ihr sehr zurückhaltend, und wenn er seine üblichen Abendessen und Empfänge veranstaltete, lud er nur Herren ein und schaltete sie auf diese Weise vorsichtshalber aus.

»Eines Abends hatte er sehr viel bekannte Persönlichkeiten zum Essen eingeladen, und zur Rechten des Gastgebers saß ein Bischof. Da – zwischen Obst und Käse, wie die Franzosen sich ausdrücken – kommt Ellen in rosa Trikotbeinkleidern mit einem Rosenkorb am Gürtel plötzlich ins Zimmer getänzelt und fängt an, die Gäste mit ihren Blumen zu bombardieren. Watts war entsetzt, aber alle anderen waren entzückt, und besonders der Bischof soll erklärt haben, daß er noch nie etwas so märchenhaft Schönes gesehen hätte. Watts bekam fast einen Schlaganfall, aber Ellen tänzelte aus dem Zimmer und nahm in ihrem Körbchen statt der Rosen alle Herzen mit.

»Für mich ist das Ellen Terrys wahre Lebensgeschichte. Mag sie in Wirklichkeit wahr oder unwahr sein, ich glaube, daß sie als Tatsache und als Symbol wahr ist, denn sie ist nicht nur ein Bild ihres Lebens, sondern auch ihrer Kunst. Kein Mensch weiß, auf welche Weise sie mit Irving zusammengekommen ist oder die Schauspielkunst erlernt hat, obwohl sie, wie du weißt, eine der besten Schauspielerinnen war, die jemals der englischen Bühne zur Zierde gereicht haben. Sie war eine bedeutende Persönlichkeit, und auch ihre Kinder haben ihr Talent zum Teil geerbt.«

Nur für berühmte Schauspielerinnen, wie Ellen Terry und Sarah Bernhardt, oder für vornehme Damen hatte Oscar ein Lob übrig. Er war ein geborener Snob, und das war tatsächlich das wesentlichste Bindemittel zwischen ihm und der englischen Gesellschaft. Nebenbei war er ein überzeugter Verächter der Frauen und insbesondere ihrer geistigen Fähigkeiten. Und in diesem Sinne machte er einmal über irgend jemand folgende Bemerkung: »Er ist wie eine Frau, – er wird unweigerlich das Unbedeutende im Gedächtnis behalten und das Wichtige vergessen.«

Diese Geringschätzung des weiblichen Geschlechts veranlaßte ihn später, unsere ganze Meinungsverschiedenheit noch einmal zur Sprache zu bringen.

»Ich habe über unsere Erörterungen in der Eisenbahn nachgedacht«, begann er, »es war wirklich verkehrt von mir, daß ich dich aus einem unentschiedenen Kampf entschlüpfen ließ; entweder mußtest du besiegt oder gezwungen werden, deine Flagge zu streichen. Wir sprachen über die Liebe, und da habe ich geduldet, daß du das Mädchen mit dem Knaben auf eine Stufe stellst: das ist der reine Unsinn. Ein Mädchen ist nicht zur Liebe geschaffen; sie ist noch nicht einmal ein gutes Werkzeug zur Liebe.«

»Aber mancher von uns legt mehr Wert auf den geliebten Menschen als auf den Liebesgenuß«, erwiderte ich, »und andere – – Entsinnst du dich der Worte Brownings:

›Wir fühlen näher uns dem Gott,
Der gibt, als seiner Sippe, welche nimmt, möcht' ich wohl glauben‹.«

»Ja, gewiß«, lautete seine ungeduldige Antwort, »aber das gehört nicht zur Sache. Ich meine, daß eine Frau nicht zur Leidenschaft und Liebe geschaffen ist, sondern zur Mütterlichkeit.

»Als ich mich verheiratete, war meine Frau ein schönes Mädchen, zart und schlank wie eine Lilie, mit strahlenden Augen und einem fröhlichen, trillernden Lachen, das wie Musik klang. Und ungefähr ein Jahr später war die blütenhafte Anmut ganz geschwunden. Sie wurde plump, formlos und mißgestaltet: um unserer Liebe willen schleppte sie sich in einem seltsam jämmerlichen Zustand, mit verzerrtem, fleckigem Gesicht und schlechtem Befinden durch das Haus. Es war ganz schrecklich. Ich bemühte mich, freundlich zu ihr zu sein, ich zwang mich, sie zu berühren und zu küssen – aber ihr war stets schlecht zumute – und ach! – ich kann nicht daran denken, das alles ist so ekelhaft … Ich habe mir immer den Mund gespült und das Fenster aufgemacht, um meine Lippen in der reinen Luft zu säubern. Ach! die Natur ist widerwärtig; sie nimmt die Schönheit und entweiht sie; den elfenbeinweißen Körper, den wir angebetet haben, entstellt sie durch die abscheulichen Narben der Mutterschaft; sie befleckt den Altar der Seele.

»Wie kannst du diese vertraulichen Beziehungen mit dem Wort Liebe nennen? Wie kannst du sie zum Ideal erheben? Die Liebe ist für den Künstler nur denkbar, wenn sie nicht zur Zeugung dient.«

»Und ist deine Frau dir durch all ihre Leiden nicht noch mehr ans Herz gewachsen?« fragte ich bestürzt, »ist dadurch nicht jenes Mitleid in dir wachgerufen worden, das du als göttlich zu bezeichnen pflegtest?«

»Mitleid«, rief er ungeduldig, »Mitleid hat nichts mit der Liebe zu tun, Frank. Wie kann man etwas begehren, das formlos, mißgestaltet und häßlich ist? Die Begierde wird durch die Mutterschaft ertötet, die Leidenschaft geht in der Empfängnis unter« – mit diesen Worten sprang er vom Tisch auf.

Endlich verstand ich die Beweggründe, von denen er sich leiten ließ: »trahit sua quemque voluptas« – diese Liebe des Griechen zur äußeren Form, der ausschließliche Kult, den er mit der körperlichen Schönheit trieb, konnte das Glück oder Wohlbefinden des geliebten Wesens nicht berücksichtigen.

»Ich will mit dir nicht darüber sprechen, Frank, ich bin wie ein Perser, der von der Wärme lebt, der die Sonne anbetet, – und mit einem Eskimo spricht. Der rühmt mir dagegen seinen Tran und die Nächte, die er in seinen eisigen Häusern zugebracht hat, und seine übeldunstenden Dampfbäder. Wir wollen lieber von etwas anderem reden.«


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