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Zweiter Teil

 

Denn wer zum zweiten sündigt, erneut
Einer toten Seele Qual,
Reißt aus dem blutigen Laken sie
Und mordet zum zweitenmal,
Und wieder in großen Tropfen quillt
Das Blut unter seinem Stahl.

Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading

 

XVII
Die Gefangenschaft und die Wirkungen der Strafe

Oscar Wilde im Gefängnis, dieser liebenswürdige, fröhliche, redebegabte und verwöhnte Sybarit in einem englischen Gefängnis mit seiner unzureichenden, schlechten Kost Vor einigen Jahren hat die »Daily Chronicle« nachgewiesen, daß die Gefängniskost in Frankreich und besonders in Deutschland viel besser als in England und die Behandlung der Gefangenen viel menschlicher ist, obwohl die durchschnittliche Lebensführung in Deutschland und Frankreich bescheidener ist als in England. und seinem seelisch-erniedrigenden Schablonenwesen! Das war wirklich ein Prüfstein, gleichsam eine Feuerprobe. Was würde er mit dieser zweijährigen Zwangsarbeit in einsamer Zelle anfangen?

Ebenso wie man sich mit den meisten anderen Dingen abfindet, gibt es zwei Möglichkeiten, sich mit dem Gefängnis abzufinden, und außer diesen beiden gegensätzlichen Möglichkeiten noch all die ungezählten anderen Zwischenstufen. Würde Oscar Wilde durch das Gefängnis bezwungen werden und sich sogar das Herz von Reue und Haß vergiften lassen, oder würde er das Gefängnis bezwingen, es meistern und verwerten? Hammer oder Amboß, – welches von beiden?

Der Sieg hat seinen Tugendwert und trägt ebenso wie der Sonnenschein sein Recht in sich. Und doch haben wir alle seinen bitteren Trank gekostet: nur »die vollendete Tugend« kann siegreich durchs Leben gehen, wie Shakespeare uns sagt, und wir Sterblichen besitzen keine vollendete Tugend. In den unzähligen Wechselfällen des Kampfes werden alle unsere Schwächen aufgespürt und alle unsere Kräfte auf die Probe gestellt. Jeder Sieg weist auf eine schwierigere Höhe, die erklommen werden muß, einen steileren Gipfel gottähnlicher Mühsal, – des Sieges Lohn ist es, dem Helden ewig neue Schlachtfelder zu erschließen: für ihn gibt es keine Rast diesseits des Grabes.

Wie aber ist's um die Niederlage bestellt? Welchen süßen Kern umschließt diese Bitternis? Das eine darf zu ihren Gunsten gesagt werden, daß sie unsere größte Schule ist, Strafe lehrt Mitleid, ebenso wie Schmerz Verständnis lehrt. In der Niederlage empfindet der Tapfere, daß er eines Stammes mit anderen Menschen ist, er nimmt sich die Rüge zu Herzen und sucht den Grund für den Sturz in seiner eigenen Schwäche. Dann erkennt er für alle Zeiten die Unmöglichkeit, über seinen Mitmenschen zu Gericht zu sitzen, geschweige denn ihn zu verdammen. Aber letzten Endes kann uns kein anderer wehe tun, das kann nur unsere eigene Hand: Gefängnis, Zwangsarbeit und Menschenhaß, – was gelten sie, wenn sie dich ehrlicher, weiser und gütiger machen?

Hast du dich durch deine Zügellosigkeit und dein üppiges Leben geschädigt? So hast du jetzt Monate vor dir, in denen die Menschen dafür sorgen werden, daß du kärglich lebst und auf hartem Lager ruhst. Hast du anderen Menschen die gebührende Achtung versagt? So wirst du es jetzt mit Menschen zu tun haben, die dir keine Rücksicht erweisen. War es dir gleichgültig, wenn andere Menschen gelitten haben? So wirst du jetzt Todespein erdulden, ohne daß jemand dich beachtet: Kerkermeister, Gefängnisdirektoren und finstere Zellen sollen dich nur erziehen. So danke deinem Schicksal für die Erfahrungen, die jeder Tag dir bringt, denn wenn du dir seine Lehren aneignest und seine strenge Zucht zum Segen gewandelt hast, wird das Gefängnis zu eines Klausners Hütte und der Kerker zur Heimstätte werden: die angebrannte Suppe wird dir köstlich munden und deine Rast auf der Lattenpritsche zum traumlosen Kinderschlummer werden.

Und das Gefängnis wird dir noch mehr bedeuten, wenn du ein Künstler bist; es wird dir zu einem wunderbar kraftvollen und ungewöhnlichen Erlebnis werden, das nur Auserlesenen beschieden ist. Was wirst du daraus machen? Das mußt du selbst entscheiden. Es bietet dir eine herrliche Gelegenheit. Wenn man es recht betrachtet, ist ein Gefängnis geräumiger als ein Palast, ja sogar kostbarer, und für eine liebevolle Seele wird es zu einem viel auserleseneren Erlebnis. So danke dem Geist, der die Menschen lenkt, für die wundersame Glücksmöglichkeit, die dir zuteil geworden ist; von nun an wird das Gefängnis dein Reich sein. Du wirst künftig im Gedächtnis der Menschen leben, solange sie an ein Gefängnis denken. Andere mögen ihnen beweisen, wieviel die Güter des Lebens dem Menschen nützen, du wirst ihnen beweisen, was das Leiden, was die kalten, kummerschweren, schlaflosen Stunden, die Einsamkeit, die Not und Verzweiflung aus ihm machen können. Andere werden die Lehre von der Lust predigen. Aber die ganze unermeßliche große Unterwelt des Mitleids und Schmerzes, der Furcht, des Schreckens und der Ungerechtigkeit, – die ist dein Königreich. Die Menschen haben die Dunkelheit um dich gerafft wie einen Vorhang und dich in die tiefste Nacht gehüllt; um so heller wird das Licht in dir leuchten. Aber das alles selbstverständlich nur, wenn das Licht nicht ganz erlischt.

Hammer oder Amboß? Wie wird Oscar Wilde seine Strafe tragen?

Das haben wir monatelang nicht gewußt. Doch er war ein geborener Künstler, – und diese Überzeugung war uns ein Hoffnungsschimmer. Und der tat uns not, denn draußen wehte zunächst die eisige Luft des Hasses und der Verachtung. Wenn nur sein Name genannt wurde, so genügte das, um Worte des Abscheus oder starres Schweigen heraufzubeschwören.

Ein einfaches Vorkommnis wird ein deutlicheres Bild der allgemeinen Stimmung geben als seitenlange Schmähungen oder Schilderungen. Am Tage nach Oscars Verurteilung veranstaltete Charles Brookfield, der, wie erinnerlich, die Zeugen aufgetrieben hatte, welche Lord Queensberry den Wahrheitsbeweis seiner Beschuldigungen ermöglichten, gemeinsam mit dem Schauspieler Charles Hawtrey ein Abendessen zu Ehren von Lord Queensberry, um ihren Triumph zu feiern. Ungefähr vierzig Engländer in Amt und Würden nahmen an dem Bankett teil – einem Festessen, um den Sturz und die Erniedrigung eines genialen Mannes zu begehen!

Aber es gibt auch ehrliche Seelen und edle, großmütige Herzen in England. Ich entsinne mich eines Mittagessens bei Mrs. Jeune, wo mir die Bemerkung zu Ohren kam, daß Wilde endlich nach Verdienst belohnt werde. Ein anderer Gast äußerte sein Bedauern, daß die Strafe so geringfügig war, während ein dritter mit Sachverständnis in zarter Form und gelassenem Wohlbehagen den Anwesenden zu verstehen gab, daß ein zweijähriger Aufenthalt im Gefängnis mit Zwangsarbeit gewöhnlich Verblödung oder den Tod zur Folge hätte. Man hatte ermittelt, daß fünfzig Prozent der Fälle nicht durchhalten konnten, und diese Strafe wäre in jeder Beziehung schlimmer als fünf Jahre Zuchthaus. »Wissen Sie, es fängt mit der Aushungerung und der Einzelhaft an, und das zerrüttet die Stärksten. Ich glaube, für unseren aufgeblasenen Redekünstler wird das genügen.« Über das feine, empfindsame Gesicht meiner Tischnachbarin, Miß Madeleine Stanley (die sich später mit Lord Midleton vermählte), zog ein Schatten, aber ich konnte mich nicht beherrschen, denn ich war an meiner wundesten Stelle getroffen.

»So haben sie gewiß damals nach der Welttragödie in Jerusalem gesprochen«, bemerkte ich.

»Sie sind sein vertrauter Freund gewesen, nicht wahr?« fragte mich mit behutsamer Anspielung der zartfühlende Gast.

»Ich bin sein Freund und Bewunderer gewesen und werde es immer bleiben«, gab ich zur Antwort.

Eisiges Schweigen kroch rings um den Tisch, während der Zartfühlende mit mißbilligender Verachtung lächelte und seiner Nachbarin ein paar Weintrauben anbot. Aber die Hilfe war nicht fern. Lady Dorothy Nevill saß etwas weiter unten am Tisch, sie hatte zwar nicht alles gehört, was gesprochen worden war, aber die Tonart der Unterhaltung verstanden und das übrige erraten.

»Sprechen Sie von Oscar Wilde?« rief sie fragend. »Ich freue mich, von Ihnen zu hören, daß Sie mit ihm befreundet sind. Auch ich bin es und werde stets stolz darauf sein, daß ich ihn gekannt habe; er ist ein sehr geistreicher, ein bezaubernder Mensch.«

»Ich habe die Absicht, ihm zu Ehren ein Abendessen zu veranstalten, wenn er aus dem Gefängnis kommt, Lady Dorothy«, sagte ich.

»Hoffentlich werden Sie mich dazu einladen«, lautete die tapfere Antwort. »Ich würde mit Vergnügen kommen, denn ich habe ihn immer bewundert und gern gehabt. Er tut mir furchtbar leid.«

Geschickt lenkte der Zartfühlende die Unterhaltung in andere Bahnen, und dann wurde der Kaffee gereicht. Aber Miß Stanley sagte zu mir:

»Ich wünschte, ich hätte ihn gekannt, er muß sehr viel gute Eigenschaften besessen haben, um eine solche Freundschaft zu erringen.«

»Jedenfalls sehr viel Reiz«, erwiderte ich, »und das ist bei den Menschen noch seltener zu finden als Güte.«

Die erste Nachricht, die wir aus dem Gefängnis erhielten, war nicht unbedingt schlecht. Er hatte zwar einen Zusammenbruch erlitten und befand sich in der Krankenabteilung, war aber nun auf dem Wege der Besserung. Der prächtige Stewart Headlam, der für ihn Bürgschaft geleistet hatte, war bei ihm gewesen, dieser Stewart Headlam, der ein englischer Geistlicher und – als größtes aller Wunder – dennoch ein Christ war. Etwas später erfuhr man, daß Sherard ihn besucht und eine Versöhnung mit seiner Frau herbeigeführt hatte. Mrs. Wilde hatte sich sehr gut benommen, sie war ins Gefängnis gegangen und hatte ihn sicherlich getröstet. Das alles klang sehr hoffnungsvoll …

Viele Monate wurden meine Gefühle und Gedanken von den damaligen Verhältnissen in Südafrika vollkommen in Anspruch genommen.

In den ersten Januartagen des Jahres 1896 setzte Jameson seinen Raubzug gegen die Buren ins Werk, und ich schiffte mich nach Südafrika ein. Ich hatte für die »Saturday Review« Arbeiten übernommen, die mir Tag und Nacht keine Ruhe gönnten. Im Sommer war ich zwar wieder in England, aber meine Aufgabe, für die Burenfarmer einzutreten, wurde immer schwieriger, und so hörte ich nur, daß Oscars Ergehen den Umständen entsprechend nichts zu wünschen übrigließ.

Kurze Zeit darauf, als er bereits nach Reading Goal überführt worden war, kamen uns schlechte Nachrichten zu Ohren, die dahin lauteten, daß er dicht vor dem Zusammenbruch stand, daß er bestraft und gepeinigt wurde. Seine Freunde kamen zu mir mit der Frage, ob sich nicht irgend etwas dagegen machen ließe? Und, wie gewöhnlich, setzte ich meine einzige Hoffnung auf die höchste Instanz. Sir Evelyn Ruggles Brise stand an der Spitze der Gefängnis-Kommission und war nach dem Minister des Innern die einflußreichste Persönlichkeit, – der auf Lebenszeit ernannte Beamte, der hinter der parlamentarischen Dekorationsfigur stand, der Mann, der alles wußte und der handelte, während sein Vordermann das Wort führte. Ich setzte mich hin, bat ihn schriftlich um eine Unterredung – und erhielt umgehend ein paar höfliche Zeilen mit näheren Angaben für unsere Zusammenkunft.

Ich erzählte ihm dann, was ich über Oscar gehört hatte: daß seine Gesundheit untergraben wurde und sein Verstand versagte. Und ich wies darauf hin, wie ungeheuerlich es sei, ein Gefängnis zur Folterkammer zu machen. Zu meiner größten Überraschung stimmte er nicht nur mit meiner Meinung überein, sondern gab sogar zu, daß bei einem Ausnahmemenschen in der Behandlung eine Ausnahme gemacht werden müßte. Ich konnte nicht die geringste Pedanterie bei ihm entdecken; Sir Ruggles Brise hatte Kopf und Herz auf dem rechten Fleck. Er machte mir sogar das Zugeständnis, daß Oscar Wilde mit jeder erdenklichen Rücksicht behandelt, und daß bestimmte Gefängnisvorschriften, die sehr drückend für ihn waren, in möglichst milder Form angewendet werden sollten. Er gab zu, daß die Strafe für ihn sehr viel härter war als für einen gewöhnlichen Verbrecher, und hatte nur Worte der Bewunderung für seine glänzende Begabung.

»Es war sehr bedauerlich«, sagte er, »daß Wilde überhaupt ins Gefängnis gekommen ist – sehr bedauerlich.«

Die Tür, an die ich klopfte, war schon im voraus aufgetan, und überdies hatte das Jahr, das ungefähr seit seiner Verurteilung verflossen war, Frist zum Nachdenken geboten. Dennoch benahm sich Sir Ruggles Brise in ganz ungewöhnlicher Art, verständnisvoll und hochherzig zugleich: noch ein ehrlich gesinnter Engländer an leitender Stelle, – welche unbegrenzte Hoffnung und Beruhigung barg diese Tatsache!

Ich hatte buchstäblich darauf bestanden, daß sofort etwas geschehen mußte, um Oscar Mut und Hoffnung zu machen; er durfte nicht hingemordet oder der Verzweiflung preisgegeben werden.

Und so fragte mich Sir Ruggles Brise schließlich, ob ich nach Reading fahren, dann über Oscar Wildes Lage berichten und irgendeinen Vorschlag machen wollte, den ich mir inzwischen zurechtgelegt hätte. Er wußte zwar nicht, ob das statthaft war, wollte aber den Minister des Innern aufsuchen und es befürworten, wenn ich bereit war, den Auftrag zu übernehmen. Selbstverständlich war ich mit Freuden dazu bereit. Und nach zwei oder drei Tagen erhielt ich wieder ein Schreiben von ihm, das mich zu einer Zusammenkunft beschied, zu der ich mich wieder einfand. Er empfing mich mit bezaubernder Güte und teilte mir mit, daß der Minister des Innern es gern sehen würde, wenn ich nach Reading fahren und über Oscar Wildes Zustand Bericht erstatten wollte.

»Jeder spricht mit Bewunderung und Freude von seinem köstlichen Talent«, sagte Sir Ruggles Brise. »Der Minister des Innern würde es als einen großen Verlust für die englische Literatur betrachten, wenn er tatsächlich durch die strenge Zucht im Gefängnis geschädigt werden sollte. Hier ist Ihre Vollmacht, ihn allein zu sprechen, und ein kurzes Empfehlungsschreiben an den Gefängnisdirektor mit der Bitte, Ihnen jede nötige Auskunft zu erteilen.«

Ich konnte nicht sprechen, ich konnte ihm nur stumm die Hand drücken.

England ist wahrlich das Land der Abnormität! Ein Richter am obersten Reichsgericht ist ein verknöcherter, selbstzufriedener, gemeingefährlicher Frömmler, während der Beamte, der das Gefängniswesen zu verwalten hat, ein Mann von vielseitiger Bildung und menschenfreundlichen Anschauungen ist und den Mut der edlen Menschlichkeit besitzt.

Ich fuhr nach Reading Goal und gab mein Empfehlungsschreiben ab. Der Direktor empfing mich und ordnete an, daß Oscar Wilde in ein Zimmer geführt werde, in dem wir unter vier Augen sprechen konnten. Meine Unterredungen mit dem Direktor oder dem Arzt kann ich an dieser Stelle nicht wiedergeben; es wäre gewissermaßen ein Vertrauensbruch, und zudem sind derartige Gespräche immer etwas rein Persönliches. Manche Leute wecken unsere besten Gefühle, andere unsere schlechtesten Regungen. Und so habe ich vielleicht unbeabsichtigt den Bodensatz aufgerührt. Nur so viel kann ich hier sagen, daß ich damals zum erstenmal die volle, unglaubliche Bedeutung dessen kennen lernte, was man des »Menschen Unmenschlichkeit dem Menschen gegenüber« nennt.

Nach einer Viertelstunde wurde ich in ein kahles Zimmer geführt, in dem Oscar Wilde bereits an einem einfachen Tisch aus Kiefernholz stand. Nachdem der Wärter, der Oscar begleitet hatte, hinausgegangen war, reichten wir uns die Hand und nahmen Platz, so daß einer dem anderen gegenübersaß. Er hatte sich stark verändert und sah sehr gealtert aus. Das dunkelbraune Haar war besonders vorn und an den Schläfen mit grauen Fäden durchzogen. Er war viel magerer und hatte mindestens fünfunddreißig Pfund, wahrscheinlich sogar über vierzig Pfund abgenommen. Aber im ganzen machte er in körperlicher Beziehung einen vorteilhafteren Eindruck als seit vielen Jahren vor seiner Gefangenschaft. Die Augen waren klar und frisch und die Umrisse des Gesichts nicht mehr verschwommen. Selbst die Stimme war klangvoll und melodisch. Meines Erachtens ging es ihm gesundheitlich besser, obwohl sein Gesicht, wenn er sich ruhig verhielt, einen nervösen, niedergeschlagenen und gequälten Ausdruck hatte.

»Du weißt, wie ich mich freue, dich zu sehen, ich freue mich von Herzen, daß du so wohl aussiehst«, begrüßte ich ihn, »aber nun sag' mir schnell, worüber du zu klagen hast und woran es dir fehlt, denn vielleicht bin ich in der Lage, dir zu helfen.«

Eine geraume Zeit konnte er nicht sprechen, weil er zu hoffnungslos und zu eingeschüchtert war. »Ich würde kein Ende finden, wenn ich all meine Beschwerden aufzählen sollte«, sagte er schließlich, »das schlimmste von allem ist, daß ich andauernd grundlos bestraft werde. Der Direktor straft zu seinem Vergnügen, und mir entzieht er meine Bücher zur Strafe. Ganz furchtbar ist es, ohne Unterlaß den Geist sich zwischen den oberen und unteren Mühlsteinen des Grams und der Reue zermahlen zu lassen. Wenn ich Bücher hätte, wäre mein Leben – wäre jedes Leben – erträglich«, fügte er in traurigem Tone hinzu.

»Also hast du ein schweres Leben. Erzähle mir davon.«

»Das möchte ich nicht gern«, sagte er, »alles ist so furchtbar, so garstig und so schmerzlich. Ich will lieber nicht daran denken«, und voller Verzweiflung wandte er sich ab.

»Aber du mußt es mir erzählen, sonst bin ich nicht in der Lage, dir zu helfen.« Stückweise entlockte ich ihm seine Beichte.

»Zuerst war es wie ein teuflischer Alpdruck – schrecklicher als irgend etwas, das ich mir jemals träumen ließ: gleich am ersten Tage, da mußte ich mich vor ihren Augen entkleiden, in das schmutzige Wasser steigen, das sie ein Bad nannten, und mich mit einem feuchten braunen Lappen abtrocknen und dieses Kleid der Schmach anziehen. Die Zelle war entsetzlich: ich konnte kaum darin atmen, und das Essen ekelte mich an; mir wurde schon übel, wenn ich es zu riechen und zu sehen bekam. Tagelang habe ich keinen Bissen gegessen; ich konnte nicht einmal das Brot herunterbekommen; und alles andere war ungenießbar. Da lag ich die ganze Nacht schaudernd auf dem sogenannten Bett … Bitte, verlange nicht von mir, daß ich darüber sprechen soll. Worte genügen nicht, um die Gesamtwirkung dieser unzähligen Plagen, dieser rohen Behandlung und dieser langsamen Aushungerung zu schildern. Gewiß steht es – wie bei Dante – auf meinem Gesicht geschrieben, daß ich in der Hölle gewesen bin. Nur hat sich Dante die Hölle niemals wie ein englisches Gefängnis vorgestellt; in seinem untersten Kreise durften sich die Menschen frei bewegen, sie durften ihre Schicksalsgenossen sehen und ihre Seufzer vernehmen; es gab eine gewisse Abwechslung, eine gewisse Kameradschaft im Unglück …«

»Wann hast du angefangen, die Kost zu dir zu nehmen?« fragte ich.

»Das weiß ich nicht genau, Frank«, erwiderte er. »Nach ein paar Tagen machte sich der Hunger so stark bemerkbar, daß ich etwas genießen, an einer Brotkruste knabbern und ein bißchen von der Flüssigkeit trinken mußte; aber ich hätte nicht sagen können, ob es Tee, Kaffee oder Grütze war. Sobald ich wirklich irgend etwas zu mir nahm, bekam ich starken Durchfall und hatte den ganzen Tag und die Nacht zu leiden. Und von Anfang an konnte ich nicht schlafen. Dann wurde ich schwach und bekam qualvolle Wahnvorstellungen … Du mußt nicht von mir verlangen, daß ich dir das beschreibe. Das wäre ebenso, als ob du von einem Menschen, der Fieber gehabt hat, verlangen wolltest, daß er dir einen seiner grausigen Träume beschreibt. In Wandsworth habe ich gedacht, daß ich wahnsinnig werden würde. Wandsworth ist am schlimmsten: kein Kerker in der Hölle kann schlimmer sein; weshalb ist das Essen denn so schlecht? Es hat sogar schlecht gerochen. Das konnte man keinem Hund vorsetzen.«

»So war also das Essen das Schlimmste dabei?« fragte ich ihn.

»Der Hunger schwächt den Menschen, aber die Hartherzigkeit war das Schlimmste von allem, Frank, was für teuflische Wesen sind die Menschen! Ich habe sie überhaupt nicht richtig gekannt und mir von derartigen Grausamkeiten niemals etwas träumen lassen. Als wir spazieren geführt wurden, sprach mich einmal ein Gefangener an. Wie du weißt, darf man dabei nicht reden; aber er ging gerade vor mir und flüsterte – um nicht bemerkt zu werden –, daß ich ihm so leid täte, und daß er hoffte, ich würde es standhaft ertragen. Da streckte ich ihm die Hände entgegen und rief: ›Ach, danke, danke.‹ Der gütige Ton seiner Stimme trieb mir die Tränen in die Augen. Selbstverständlich wurde ich sofort bestraft, weil ich gesprochen hatte; schrecklich ist die Strafe gewesen; ich will nicht daran denken: ich darf's nicht. In Bosheiten sind sie unendlich erfinderisch, unendlich erfinderisch in Strafen, Frank … Bitte, laß uns nicht davon sprechen, es ist zu schmerzlich, zu furchtbar, daß die Menschen so roh sind.«

»Erzähle mir ein Beispiel, etwas weniger Schmerzliches, wofür man Abhilfe schaffen kann.«

Er lächelte matt. »Das Ganze, Frank, das Ganze müßte geändert werden. In einem Gefängnis herrscht nur der Geist des Hasses, des Hasses in der Maske eines erniedrigenden Formenwesens. Zuerst ertöten sie den Willen und rauben dir die Hoffnung, und dann meistern sie dich durch die Furcht. Eines Tages kam ein Wärter in meine Zelle und sagte zu mir:

»›Ziehen Sie die Schuhe aus.‹

»Selbstverständlich folgte ich seinem Geheiß und fragte dabei:

»›Um was handelt es sich? Weshalb soll ich meine Schuhe ausziehen?‹

»Er verweigerte mir die Antwort. Aber sobald ich ihm meine Schuhe eingehändigt hatte, sagte er zu mir:

»›Kommen Sie aus Ihrer Zelle heraus.‹

»›Weshalb?‹ fragte ich von neuem. Denn ich ängstigte mich, Frank. Was hatte ich getan? Ich hatte keine Ahnung, aber ich wurde ja so oft grundlos bestraft. Um was handelte es sich denn? Keine Antwort. Sobald wir draußen auf dem Korridor waren, befahl er mir, mich mit dem Gesicht zur Wand zu stellen; dann entfernte er sich. Da stand ich nun auf Strümpfen und wartete. Die Kälte ging mir durch Mark und Bein, ich versuchte es, mich zuerst auf den einen, dann auf den anderen Fuß zu stellen, zerbrach mir den Kopf, was sie mit mir machen würden, und hätte gern den Grund und die Dauer dieser Strafe wissen mögen. Du kennst ja die furchtbaren Gedanken, die den Geist martern … Nach einer Zeit, die mir zur Ewigkeit wurde, hörte ich, daß der Wärter zurückkam. Aber ich wagte nicht, mich zu bewegen und nicht einmal aufzublicken. Er trat zu mir und blieb einen Augenblick bei mir stehen; – mir stockte das Herz. Da warf er neben mir ein Paar Schuhe auf die Erde und sagte:

»›Gehen Sie in Ihre Zelle und ziehen Sie die da an‹, – und ich wankte in meine Zelle. In dieser Form bekommt man im Gefängnis ein Paar neue Schuhe, Frank, in dieser Form wird den Gefangenen eine Freundlichkeit erwiesen.«

»Die erste Zeit ist wohl die schlimmste gewesen?« fragte ich ihn.

»Ach ja, bei weitem die schlimmste! Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles, an das Essen, an das Bett und an das Schweigen: man merkt sich die Vorschriften und weiß, was man zu hoffen und was man zu fürchten hat …«

»Wie hast du die erste Zeit im Gefängnis überstanden?« fragte ich.

»Ich bin gestorben«, sagte er gelassen, »und als Kranker wieder zum Leben erwacht.« Ich blickte ihn erstaunt an. »Das ist wirklich wahr, Frank. Denn infolge des Durchfalls und der Hungerkost, durch die Schlaflosigkeit und vor allem durch die Reue, die an meiner Seele nagte, und durch die unablässigen, peinigenden Gewissensbisse wurde ich immer schwächer; die Kleider schlotterten mir am Körper, und ich konnte kaum gehen. Und eines Sonntag morgens, nach einer besonders schlechten Nacht, war es mir unmöglich, das Bett zu verlassen. Als der Wärter in die Zelle kam, sagte ich ihm, daß ich krank sei.

»›Es wäre besser für Sie, wenn Sie aufstehen‹, sagte er, aber ich war nicht imstande, seinem guten Rat zu folgen.

»›Ich kann nicht‹, erwiderte ich, ›machen Sie mit mir, was Sie wollen.‹

»Nach einer halben Stunde kam der Arzt und schaute zur Tür herein. Er kam überhaupt gar nicht in meine Nähe, sondern rief ganz einfach:

»›Stehen Sie auf und stellen Sie sich nicht krank; Ihnen fehlt gar nichts. Sie werden bestraft, wenn Sie nicht aufstehen!‹ Und mit diesen Worten entfernte er sich.

»Ich mußte also aufstehen. Aber ich war sehr schwach, ich fiel beim Anziehen vom Bett herunter und schlug mich braun und blau; aber irgendwie kam ich in die Kleider und mußte dann mit den anderen in die Kapelle gehen, wo sie Kirchenlieder, gräßliche Kirchenlieder mißtönend zum Ruhme ihres mitleidlosen Gottes sangen.

»Ich konnte mich kaum aufrecht halten; es war mir, als ob alles ringsum abwechselnd verschwand und wieder ganz matt zum Vorschein kam, und dann muß ich wohl plötzlich umgefallen sein …« Er führte die Hand zum Kopf. »Als ich wieder aufwachte, hatte ich ein Schmerzgefühl hier im Ohr. Ich befand mich in der Krankenabteilung, ein Wärter saß bei mir, und meine Hand ruhte auf einem sauberen weißen Laken. Wie im Himmel war es. Ich konnte nicht anders, ich mußte mit den Zehenspitzen das Bettuch befühlen, weil es so weich, so kühl und sauber war. Da blickte mich der Krankenpfleger gütig an:

»›Sie müssen etwas essen‹, sagte er und reichte mir eine Weißbrotschnitte mit Butter. Ich werde das nie vergessen, Frank. Mir lief das helle Wasser im Munde zusammen, ich war ja so erbärmlich hungrig, und es schmeckte so köstlich. Vor Schwäche habe ich geweint.« Und er bedeckte die Augen mit den Händen und würgte die Tränen hinunter.

»Ich werde das nie vergessen, der Wärter war so gütig. Nun wollte ich ihm nicht gern sagen, daß ich ausgehungert war. Aber als er aus dem Zimmer ging, sammelte ich die Krümchen vom Betttuch auf und aß sie. Und als ich nichts mehr fand, schob ich mich an den Bettrand, sammelte die Krümchen vom Fußboden auf und aß sie ebenfalls. Denn das Weißbrot schmeckte so gut, und ich war so hungrig.«

»Und jetzt?« fragte ich, unfähig, das noch länger mit anzuhören.

»Ach, jetzt«, sagte er und zwang sich zur Heiterkeit, »selbstverständlich wäre alles ganz gut, wenn sie mir nicht meine Bücher fortnehmen würden, und wenn ich schreiben dürfte. Wenn ich nur schreiben dürfte, was ich will, dann wäre ich ganz zufrieden. Aber sie strafen mich unter allen möglichen Vorwänden. Weshalb tun sie das, Frank? Weshalb wollen sie mir mein Leben hier zur endlosen Pein machen?«

»Bist du nicht noch immer ein wenig schwerhörig?« fragte ich, um mir die Qual des unerträglichen Mitleids, die mich bedrückte, zu erleichtern.

»Ja«, erwiderte er, »hier auf dieser Seite, da, wo ich in der Kapelle zu Fall gekommen bin. Weißt du, ich bin gerade aufs Ohr gefallen und muß mir das Trommelfell zerplatzt oder sonst irgendeine Verletzung zugezogen haben, denn den ganzen Winter über hat es mir weh getan, und häufig blutet es ein bißchen.«

»Aber sie könnten dir doch ein wenig Watte oder etwas anderes geben, um es hineinzustecken?« sagte ich.

Er lächelte ein trauriges, mattes Lächeln:

»Wenn du glaubst, daß man den Arzt oder den Wärter mit Ohrenschmerzen behelligen darf, dann weißt du nicht sehr gut, wie es in einem Gefängnis zugeht; dafür würdest du zu büßen haben. Nun, Frank, so krank ich nun auch gewesen sein mag«, und er dämpfte seine Stimme zum Flüsterton und blickte sich um, als fürchtete er, belauscht zu werden, »so krank ich auch gewesen bin, ich hätte es mir doch nicht einfallen lassen, nach dem Arzt zu schicken. Das hätte ich mir nicht einfallen lassen«, sagte er in ehrfurchtsvollem Tone. »Die Gefängnismethoden habe ich kennen gelernt.«

»Ich würde mich dagegen auflehnen«, rief ich, »weshalb läßt du dir den Mut niederringen?«

»Sie würden dich bald niederringen, wenn du dich hier auflehnst. – Im übrigen gehört das alles zum System. Ja, das System! Kein Mensch da draußen weiß, was das bedeutet. Ich fürchte, das ist eine alte Geschichte, die Geschichte von der Grausamkeit des Menschen gegen den Menschen.«

»Ich glaube dir versprechen zu können«, sagte ich, »daß das System ein wenig abgeändert wird. Du wirst Bücher und Schreibmaterial bekommen und nicht immerfort mit Strafen gequält werden.«

»Sei vorsichtig«, rief er in krampfhafter Angst und legte seine Hand auf die meine, »sei vorsichtig, sonst werden sie mich vielleicht noch viel ärger strafen. Du weißt nicht, wozu sie imstande sind.« Mir aber stieg vor Entrüstung das Blut zu Kopf.

»Bitte, erzähle nichts von dem, was ich dir gesagt habe. Versprich mir, daß du nichts erzählen wirst. Versprich's mir. Ich habe mich überhaupt nicht beklagt, ich hab's nicht getan.« Seine Aufregung verriet genug.

»Gewiß nicht«, erwiderte ich zu seiner Beruhigung.

»Nein, du mußt es mir in allem Ernst versprechen«, wiederholte er. »Du mußt's mir versprechen. Denk' doch, daß ich's dir im Vertrauen gesagt habe, daß alles nur für deine Ohren bestimmt ist.« Augenscheinlich war er so verängstigt, daß er alle Selbstbeherrschung verloren hatte.

»Gewiß«, sagte ich, »ich werde nichts erzählen. Aber ich werde die Tatsachen von anderen Leuten, und nicht von dir, in Erfahrung bringen.«

»Ach, Frank«, sagte er, »du weißt nicht, wozu sie imstande sind. Hier gibt es eine Strafe, die ist viel furchtbarer als die Streckfolter.« Und mit seitlich gedrehten Augen, in denen nur das Weiße sichtbar war, flüsterte er mir zu: »Sie können dich in einer Woche zum Wahnsinn treiben, Frank Das bezog sich vermutlich auf die Einzelhaft in einer dunklen Zelle, die von dem englischen Scharfsinn erfunden worden ist und nach den vorliegenden Schilderungen so furchtbar sein muß, wie irgendeine der in früheren Zeiten üblichen Folterstrafen. Denn diese Foltern waren rein körperlicher Art, während der moderne Engländer den Verstand und die Nerven zum Angriffspunkt nimmt und die Angst vor dem Wahnsinn für fürchterlicher hält als die Angst vor dem Schmerz. Wie schade, daß Justice Wills sie nicht vierundzwanzig Stunden kennen gelernt hat, nur vierundzwanzig Stunden, um zu erproben, was eine »hinlängliche Strafe« für sinnliche Zügellosigkeit und auch, was eine hinlängliche Strafe für unmenschliche Grausamkeit heißt. –

»Zum Wahnsinn!« rief ich, denn ich glaubte ihn falsch verstanden zu haben, obwohl er bleich aussah und zitterte.

»Wie steht es mit den Wärtern?« fragte ich dann wieder, um von etwas anderem zu reden, denn ich empfand allmählich, daß ich diese Schrecken bis zur Neige ausgekostet hatte.

»Manche sind freundlich«, seufzte er. »Der eine, der mich hergebracht hat, ist sehr freundlich zu mir, und ich würde gern etwas für ihn tun, wenn ich hier herauskomme. Er ist ganz menschlich, und es ist ihm gar nicht unangenehm, mit mir zu sprechen und mir alles zu erklären; aber in Wandsworth waren manche wie die Bestien … Ich will lieber nicht mehr daran denken. Ich habe dieses Kapitel versiegelt, und du mußt nie wieder von mir verlangen, daß ich es aufschlage. Ich traue mich nicht, es aufzuschlagen«, rief er in jämmerlichem Ton.

»Aber du solltest das doch alles erzählen«, sagte ich, »vielleicht ist das der Zweck deines Hierseins: und sein tiefster Grund.«

»Ach nein, Frank, ganz und gar nicht. Das müßte ein unendlich kraftvoller Mensch sein, der hierherkäme und einen wahrheitsgetreuen Bericht über alles abgeben könnte, was ihm geschehen ist. Ich glaube nicht, daß du dazu imstande wärest. Ich glaube nicht, daß irgend jemand dazu genug Kraft aufbieten kann. Hunger und Durchfall allein würden jedes Menschen Kraft zugrunde richten. Und alle wissen, daß man hier mit Hunger und Durchfall bis an den Rand des Grabes gebracht wird. Das ist's, was zwei Jahre Zwangsarbeit bedeuten. Nicht die Arbeit ist der schwere Zwang. Die Lebensbedingungen machen sie unerträglich schwer, sie richten einen körperlich und seelisch zugrunde. Und wenn man Widerstand leistet, machen sie einen verrückt … Aber bitte, erzähle nicht, daß ich dir etwas gesagt habe; du hast's versprochen, du weißt, daß du es getan hast. Du wirst daran denken, nicht wahr?«

Ich hatte ein böses Gewissen: denn diese Eindringlichkeit, diese atemlose Furcht bewiesen mir, wie furchtbar er gelitten haben mußte. Er war aus Angst ganz von Sinnen. Ich hätte ihn früher besuchen müssen. Nun ging ich zu einem anderen Gesprächsthema über und sagte:

»Du wirst Schreibmaterial bekommen, Oscar, und deine Bücher. Zwing' dich zum Schreiben. Du siehst besser aus als früher. Deine Augen sind frischer, dein Gesicht ist klarer.« Das alte Lächeln, der unsterbliche Humor dämmerte wieder in seinen Augen.

»Ich habe eine Ruhekur durchgemacht, Frank«, sagte er und lächelte matt.

»Du solltest dieses Leben mit all den Wirkungen, die es auf dich ausgeübt hat, aufzeichnen, so weit du es vermagst. Du weißt, daß du gesiegt hast. Schreib' diesen hartherzigen Bestien ihre Namen mit Vitriol auf die Stirn, wie Dante es für alle Zeiten getan hat.«

»Nein, nein, ich kann es nicht, ich werde es nicht tun. Ich möchte leben und vergessen. Ich könnte das nicht, ich traue mich nicht, ich besitze weder Dantes Kraft, noch seine Bitterkeit. Ich bin ein zu spät geborener Grieche.« Da hatte er endlich das wahre Wort gefunden.

»Ich werde wiederkommen, um dich zu besuchen«, gab ich zur Antwort. »Kann ich sonst noch etwas für dich tun? Wie ich höre, hat deine Frau dich besucht. Hoffentlich hast du dich mit ihr ausgesöhnt?«

»Sie hat sich Mühe gegeben, freundlich gegen mich zu sein, Frank«, sagte er mit tonloser Stimme, »ich glaube, daß sie freundlich gewesen ist. Sie muß gelitten haben; es tut mir leid …« Man hatte das Gefühl, daß er um anderer willen kein Leid mehr aufzubringen hatte.

»Kann ich nichts für dich tun?« fragte ich ihn.

»Nichts, Frank, das einzige wäre, wenn du mir Bücher und Schreibmaterial verschaffen könntest, und wenn ich sie wirklich benutzen dürfte! Aber du wirst nichts wiedererzählen von allem, was ich dir gesagt habe, das versprichst du mir, nicht wahr?«

»Ich verspreche es dir«, erwiderte ich, »und ich werde bald wiederkommen, um dich zu besuchen. Ich glaube, dann wird es dir besser gehen …

»Hab' keine Angst vor der Zukunft, wenn du wieder frei bist; du hast Freunde, die für dich wirken werden, mächtige Helfer.« – Und ich erzählte ihm von Lady Dorothy Nevills Verhalten bei Mrs. Jeunes Mittagsgesellschaft.

»Ist das nicht eine prächtige alte Dame?« rief er, »ein bezauberndes, geistreiches, menschenfreundliches Wesen! Sie ist wie aus einem Thackerayschen Kapitel herausgeschnitten, nur hat Thackeray nie etwas geschrieben, das ganz so feinfühlig und bezaubernd ist. In seinem ›Esmond‹ hat er es beinahe erreicht. Ach, ich entsinne mich, daß dir das Buch nicht gefällt, aber es ist doch vorzüglich geschrieben, Frank, in vorzüglichem, ungekünsteltem, melodischem Englisch. Es schmeichelt sich in unser Ohr. ›Lady Dorothy‹ (wie er den Titel liebte!) ist stets gütig zu mir gewesen, aber London ist schrecklich. Ich könnte nicht wieder in London leben und muß aus England wegziehen. Entsinnst du dich, Frank, daß du mit mir von Frankreich gesprochen hast?« Und er legte mir beide Hände auf die Schultern, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen, und er schluchzte. »Das schöne Frankreich, das einzige Land auf Erden, in dem menschliche Ideale und menschliches Leben etwas gelten. Ach! wäre ich nur mit dir nach Frankreich gegangen.« Die Tränen strömten ihm über die Wangen, und unsere Hände fanden sich in krampfhaftem Druck.

»Ich freue mich, daß du so wohl aussiehst«, begann ich von neuem. »Die Bücher sollst du bekommen, laß nur um Gottes willen den Mut nicht sinken. Ich komme wieder, um dich zu besuchen. Und vergiß nicht, daß du da draußen gute Freunde hast, – wir sind eine ganze Schar!«

»Ich danke dir, Frank, aber sei vorsichtig, nicht wahr, und denk' an dein Versprechen, nichts zu erzählen.«

Ich nickte zustimmend und schritt zur Tür, während der Wärter ins Zimmer trat.

»Die Unterredung ist zu Ende«, sagte ich zu ihm, »wollen Sie mich hinunterführen?«

»Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, hier noch eine Minute sitzenzubleiben. Ich muß ihn erst zurückbringen.«

»Ich habe meinem Freunde erzählt, wie gut Sie zu mir gewesen sind«, sagte Oscar zu dem Wärter. Dann wandte er sich zum Gehen und ließ mir die Erinnerung an seine Augen und sein unvergeßliches Lächeln zurück. Aber als er hinausging, bemerkte ich, daß er mager war und in der häßlichen, schlechtsitzenden Sträflingstracht gekrümmt und gebeugt aussah. Ich nahm eine Banknote aus der Tasche und schob sie unter das Löschpapier, das für mich auf den Tisch gelegt worden war. Nach zwei oder drei Minuten kam der Wärter zurück, und als ich das Zimmer verließ, dankte ich ihm für die Güte, die er meinem Freunde erwiesen hatte, und erzählte ihm, wie freundlich Oscar von ihm gesprochen hatte.

»Er hat hier nichts zu suchen, Herr«, sagte der Wärter. »Er sieht einem von den Brüdern hier so ähnlich wie 'n Kanarienvogel 'nem frechen kleinen Spatzen. Gefängnis is' nich für so'ne Leute wie er, und er nich fürs Gefängnis. Er is so sanft, wissen Se, Herr, – und so freindlich. Er is viel eher wie 'ne Frau, ja das is er; man tut 'm weh, ohne 's zu wollen. Ich mach' mir nichts draus, was sie sagen, ich hab 'n gern, und er erzählt so schön, Herr, nich' wahr?«

»Freilich tut er das«, sagte ich, »er ist der beste Erzähler, den es auf Erden gibt. Ich möchte Sie bitten, in die Schreibunterlage auf dem Tisch zu schauen. Da habe ich Ihnen einen Geldschein hingelegt.«

»Nein, Herr, für mich nich, ich könnt's nich annehmen, nein, Herr, bitte nich«, rief er in hastigem, angsterfülltem Ton. »Sie ha'm was liegen lassen, Herr, kommen Sie zurück un hol'n Sie's, bitte, bitte, Herr. Ich darf's nich.«

Trotz meiner Gegenvorstellungen führte er mich zurück, und ich mußte den Geldschein wieder in die Tasche stecken.

»Wissen Sie, Herr, ich könnt's nich, ich bin nich um so was gut zu ihm gewesen.« Sein Benehmen wurde anders, und er schien gekränkt zu sein.

Ich sagte ihm, daß ich davon wirklich vollkommen überzeugt wäre, bat ihn, mir zu glauben, daß ich mich jederzeit freuen würde, wenn ich irgend etwas für ihn tun könnte, und gab ihm meine Adresse. Aber er hörte mir nicht einmal zu, – dieser ehrliche, brave Mann mit der ganzen unverfälschten Unschuld seiner Menschenfreundlichkeit. Gütige Taten leuchten wie Sterne in dieser kerkerähnlichen Welt! Dieser Wärter und Sir Ruggles Brise – jeder in seinem Wirkungskreis: das sind die Männer, die das Salz der englischen Erde bilden; bessere gibt es hienieden nicht! – –


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