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XVI
Der Fluchtplan wird abgemacht. Das zweite Gerichtsverfahren und der Urteilsspruch

Trotz der Klugheit und ausgesuchten Herzlichkeit der Gastgeberin konnte man kaum finden, daß unsere Abendgesellschaft bei Mrs. Leverson wohlgelungen war. Oscar war nicht der alte; ganz gegen seine Gewohnheit saß er schweigsam und niedergeschlagen da. Hin und wieder seufzte er tief, und seine lastende Schwermut übertrug sich allmählich auf uns alle. Aber da ich mich gern beizeiten mit ihm entfernen wollte, war ich darüber nicht ungehalten. Und so hatten wir gegen zehn Uhr das Haus verlassen und befanden uns im Cromwell Road. Er wollte lieber zu Fuß gehen, und ohne daß er es bemerkte, schlug ich die Richtung über Queen's Gate nach dem Park ein. Als wir zehn Minuten gegangen waren, sagte ich zu ihm:

»Ich habe ein ernstes Wort mit dir zu reden. Weißt du vielleicht, wo Erith liegt?«

»Nein, Frank.«

»Das ist nämlich ein kleiner Landungsplatz an der Themse«, fuhr ich fort, »der nur einige Meilen von hier entfernt ist. Mit ein Paar flotten Pferden und einem Brougham kann man sehr schnell dorthin gelangen. Und in Erith gibt's eine Dampfjacht, die in kürzester Frist zur Abfahrt bereit ist. Sie hat jetzt bei Volldampf hundert Atmosphären pro Quadratzoll in ihrem Kessel. Der Kapitän wartet, die Mannschaft ist bereit – wie ein Windhund an der Leine. Sie kann ohne Anstrengung fünfzehn Knoten in der Stunde machen und würde in einer Stunde aus der Themse heraus und auf hoher See sein (ein köstlicher Ausdruck, wie?), – wirklich auf hoher See, wo unbeschränkte Freiheit herrscht.

»Wenn man jetzt wegfährt, kann man in Frankreich, sagen wir mal in Boulogne oder Dieppe, frühstücken, – in St.-Malo oder St.-Enogat oder in irgendeinem beliebigen Ort an der Küste der Normandie zu Mittag speisen und abends behaglich in Sables d'Olonne essen, wo kein Engländer zu finden ist, und wo schon im Mai vom Morgen bis zum Abend die Sonne scheint.

»Was meinst du, Oscar, willst du mitkommen und es morgen abend mal mit einem gemütlichen französischen Bourgeois-Essen versuchen – in einem Wirtshaus dicht an der Wasserkante, das ich kenne? Da können wir draußen auf der kleinen Terrasse sitzen, unseren Kaffee friedlich unter den breiten Weinblättern trinken und dabei beobachten, wie der silberne Pfad des Mondes auf den Fluten immer breiter wird. Da können wir all die Nöte in London belächeln und seine Raubtiergerichtshöfe, die viele hundert Meilen fern – fröstelnd im kalten, grauen Nebel – liegen. Reizt dich diese Aussicht nicht?«

Ich sprach gemächlich, ich breitete all diese Herrlichkeiten vor ihm aus und wartete auf seine Freude.

»Ach, Frank«, rief er, »das ist wundervoll, aber unmöglich!«

»Unmöglich! sei nicht närrisch. Siehst du die Lichter dort drüben?« erwiderte ich und zeigte ihm ein paar Lichter am »Park«-Tor auf der Hügelspitze uns gegenüber.

»Ja, Frank.«

»Das ist ein Brougham«, sagte ich, »mit einem Paar flotter Pferde. Er wird uns im Galopp nach der Dampfjacht zu einer mitternächtlichen Besichtigung fahren. An Bord befindet sich eine kleine Bibliothek mit französischen und englischen Büchern. Ich habe das Nachtessen in die Kajüte bestellt: Hummer à l'Americaine und eine Flasche Pommery. Du hast die Mündung der Themse noch nie zur Nachtzeit gesehen, nicht wahr? Es ist ein Anblick aus dem Märchenland: Häuser, die wie dunkle Farbenfleckchen aussehen, stehen dicht um dich her, – und Schiffe schweben wie schwarze Gespenster im Nebel vorüber, – und droben der purpurfarbene Himmel, der nicht ganz so dunkel ist wie der Fluß, – der Fluß mit seinen wechselnden Lichtern aus Rubin, aus Smaragd und Topas, der wie eine fettige, undurchsichtige Schlange mit ihrem unheimlichen Eigenleben dahingleitet … Komm, du mußt die Jacht besichtigen.«

Ich wandte mich ihm zu, aber er ging nicht mehr an meiner Seite. Mir stockte der Atem: was war geschehen? Er mußte im Nebel untergetaucht sein. Ich lief zehn Meter zurück, und da stand er, – ans Geländer gelehnt, und sein Gesicht lag auf seinem zuckenden Arm.

»Was ist dir, Oscar?« rief ich, »um alles in der Welt, was ist dir?«

»Ach, Frank, ich kann nicht fort«, rief er, »ich kann's nicht. Es wäre zu herrlich, aber es ist unmöglich. Die Polizei würde mich festnehmen, du kennst die Polizei nicht.«

»Ach Unsinn!« rief ich, »die Polizei kann dich nicht aufhalten, und von der Abfahrt bis zum Ziel wird dich kein einziger von ihren Beamten sehen. Außerdem habe ich Kleingeld für jeden, der mir in den Weg kommt, und von denen kann keiner einem ›Trinkgeld‹ widerstehen. Du steigst ganz einfach aus dem Wagen und gehst fünfzig Meter, dann bist du auf der Jacht und in Freiheit. Und wenn du willst, kannst du sogar im Wagen sitzenbleiben, bis die Matrosen dir als Ehrenwache zur Bedeckung dienen. Und an Bord der Jacht wird dir kein Mensch ein Haar krümmen. Da gilt kein Haftbefehl. Vorwärts, mein Junge!«

»Ach, Frank, es ist unmöglich!« sagte er mit tiefem Seufzer.

Aber ich ließ nicht ab. »Was ist unmöglich? Wir wollen uns morgen in Frankreich beim ersten Frühstück alles noch einmal reiflich überlegen. Wenn du zurück willst, kann dich nichts daran hindern. Die Jacht bringt dich in vierundzwanzig Stunden zurück. Du hast deine Bürgschaftsverpflichtungen nicht verletzt und nichts Unrechtes getan. Du darfst nach Frankreich, Deutschland oder Sibirien fahren, vorausgesetzt, daß du am zwanzigsten Mai wieder zur Stelle bist. Betrachte es als eine Einladung, mit mir eine zehntägige Ferienzeit in Frankreich zu verleben. Gewiß ist es besser, eine Woche in meiner Gesellschaft zu verbringen als in diesem düsteren Hause in der Oakley Street, wo man schon an der Tür das Gruseln bekommt.«

»Ach, Frank, ich würde es brennend gern tun«, sagte er mit tiefem Seufzen, »ich sehe alles ein, was du mir sagst, aber ich kann nicht. Ich traue mich nicht. Ich bin in die Falle gegangen, Frank, und kann nichts tun, als auf das Ende warten.«

Ich wurde allmählich ungeduldig; er war willenloser, hundertmal willenloser, als ich geahnt hatte.

»So laß uns nur einen Ausflug machen, mein Junge«, rief ich und zog ihn weiter, bis wir nur noch zwanzig Meter vom Wagen entfernt waren. Aber da blieb er stehen, als wäre er zum Entschluß gekommen:

»Nein, nein, ich kann nicht mitkommen. Ich kann nicht in Frankreich mit dem Gefühl umhergehen, daß mir jeden Augenblick ein Polizist auf die Schulter klopfen kann. Ich kann ein Leben voller Angst und Zweifel nicht ertragen, es würde mich in vier Wochen umbringen.« Sein Ton klang bestimmt.

»Weshalb duldest du, daß deine Phantasie mit dir durchgeht?« sagte ich eindringlich. »Sei dieses eine Mal vernünftig. Furcht und Zweifel werden bald ein Ende nehmen. Wenn dich die Polizei nicht innerhalb einer Woche nach dem für das Gerichtsverfahren anberaumten Tage in Frankreich faßt, dann brauchst du nichts mehr zu befürchten, dann faßt sie dich überhaupt nicht: sie will dich eben gar nicht. Mit deinen nervösen Einbildungen machst du aus der Mücke einen Elefanten.«

»Ich würde verhaftet werden.«

»Ach, Unsinn!« erwiderte ich, »wer soll dich verhaften? Kein Mensch hat ein Recht dazu. Du bist gegen Bürgschaft auf freiem Fuß; diese Bürgschaft haftet bis zum zwanzigsten für dich. Geld spricht eine beredte Sprache, mein Junge, die Engländer geben ihr stets Gehör. Auf das Publikum und auf die Geschworenen wird es einen vorteilhaften Eindruck machen, wenn du aus Frankreich zurückkommst, um dein Verhör zu bestehen. Komm doch«, und ich faßte seinen Arm, aber er wollte nicht weiter. Zu meiner Überraschung blieb er unbeirrt und sagte:

»Und meine Bürgschaften?«

»Die werden wir alle beide zahlen, wenn du deine Verpflichtungen verletzest. Nun komm«, aber er wollte nicht.

»Frank, wenn ich mich heute abend nicht in der Oakley Street einfinde, würde Willie es der Polizei melden.«

»Dein Bruder?« rief ich.

»Ja«, sagte er, »mein Bruder Willie.«

»Großer Gott!« schrie ich, »so laß ihn seine Meldung machen. Ich habe über Erith oder über die Dampfjacht zu keiner Menschenseele ein Wort verlauten lassen. Da würde die Polizei wohl am allerwenigsten Verdacht schöpfen, und wir sind außer Schußweite, ehe Willie geplaudert hat. Übrigens kann man dir nichts anhaben, denn du tust nichts Unrechtes. Also verlaß dich bitte auf mich, du tust nicht einmal etwas Fragwürdiges, wenn du es nicht unterläßt, am zwanzigsten Mai in Old Bailey zu erscheinen.«

»Du kennst Willie nicht«, fuhr Oscar fort, »er hat meine Anwälte dazu veranlaßt, Briefe zu kaufen, die ich geschrieben habe, er hat Erpressungsversuche gegen mich gemacht.«

»Hui!« Ich pfiff bei dieser Mitteilung. »Aber dann brauchst du dir keine Gewissensbisse zu machen, wenn du von ihm gehst, ohne ›Lebewohl‹ zu sagen. Komm fort, wir wollen in den Wagen steigen.«

»Nein, nein«, wiederholte er, »das verstehst du nicht, ich kann nicht fort, ich kann nicht fort.«

»Ist das wirklich dein Ernst?« fragte ich. »Willst du wirklich nicht mitkommen und eine Woche auf der Jacht mit mir verleben?«

»Ich kann nicht.«

Ich zog ihn ein paar Schritte näher zum Wagen; es war ein trostloser und verzweifelter Klang in seiner Stimme, der mir ans Herz ging, – und ich sah ihn an: Die Tränen strömten ihm über das Gesicht, er war ein Bild des Jammers, und doch konnte ich ihn nicht von seinem Willen abbringen.

»Komm in den Wagen«, sagte ich in der Hoffnung, daß der hurtige Wind, der sein Gesicht streifte, ihn erfrischen, ihm einen flüchtigen Hauch von Lebensfreude bringen und die Sehnsucht nach Freiheit steigern würde.

»Ja, Frank«, sagte er, »wenn du mich nach der Oakley Street bringen willst.«

»Ebenso gern würde ich dich ins Gefängnis bringen«, erwiderte ich, »aber wie du willst.«

Im nächsten Augenblick waren wir eingestiegen und schaukelten die Queen's Gate hinunter. Die Luft schien durch den Nebel scharf zu werden. Am Ende von Queen's Gate angelangt, schwenkte der Kutscher von selbst nach links ab und fuhr in den Cromwell Road, da schien Oscar aus seiner Betäubung zu erwachen.

»Nein, Frank«, rief er, »nein, nein«, und er tastete am Türgriff herum, »ich muß aussteigen. Ich will nicht fort. Ich will nicht fortgehen.«

»Bleib ruhig sitzen«, sagte ich verzweifelt. »Ich werd's dem Kutscher sagen«, dann steckte ich den Kopf zum Fenster hinaus und rief:

»Robert, nach Oakley Street, nach Oakley Street in Chelsea.«

Ich glaube, daß ich, bis wir die Oakley Street erreichten, kein Wort mehr gesprochen habe. Ich kochte vor Zorn und verächtlichem Unwillen. Ich hatte nach bestem Wissen gehandelt und mein Spiel verloren. Weshalb? Das ahnte ich nicht, und ich habe auch nie erfahren, weshalb er sich weigerte, mitzukommen. Ich glaube nicht, daß er es selbst wußte. Ich hatte nie im Traume an eine solche Entsagung gedacht. Das war etwas ganz Neues für mich. Ich hatte mir die Entsagung in einer unklaren Form immer als etwas ganz Schönes vorgestellt, aber seit jener Zeit habe ich sie stets mit Unwillen empfunden: – Entsagung ist der Mut des Unentschlossenen. Oscars Hartnäckigkeit war der Deckmantel seiner Schwäche. Es ist erstaunlich, in welcher Weise die Willenlosigkeit manche Charaktere meistert. Das Zuwarten und Nichtstun besitzt für die Menschen, welche ein Gedankenleben führen und die Tat verabscheuen, eine starke Anziehungskraft. Als der Wagen in die Oakley Street einbog, sagte Oscar zu mir:

»Du bist mir doch nicht böse, Frank?« und streckte mir die Hand entgegen.

»Gewiß nicht«, antwortete ich, »weshalb sollte ich dir böse sein? Du hast über dein Schicksal zu bestimmen. Ich kann dir nur einen Rat geben.«

»Komm bald, um mich zu besuchen«, bat er eindringlich.

»Ich bin mit meiner Weisheit zu Ende«, erwiderte ich, »aber ich werde in zwei bis drei Tagen – sobald ich dir irgend etwas Wichtiges zu sagen habe – zu dir kommen … Vergiß nicht, Oscar, daß die Jacht daliegt und bis zum zwanzigsten da warten wird. Die Jacht und der Brougham sind beide stets bereit.«

»Gute Nacht, Frank«, sagte Oscar, »gute Nacht und vielen Dank.«

Dann stieg er aus und ging ins Haus, in das düstere, elende Haus, in dem der Bruder wohnte, der sein Fleisch und Blut verschachern wollte.

*

Nach drei oder vier Tagen sahen wir uns wieder, aber zu meinem Schrecken war Oscar nicht anderen Sinnes geworden. Wenn man sagt, daß er niedergeschmettert war, so ist das wörtlich wahr: er kam mir vor wie ein Mensch, der, aus großer Höhe herabgestürzt, nur halb bei Bewußtsein zerschlagen auf der Erde liegt. Sobald man ihn zu einer Bewegung veranlaßte, selbst nur um seinen Kopf aufzurichten, empfand er Schmerz und bat jammernd, daß man ihn in Ruhe lassen möchte. Da lag er niedergestreckt, und niemand vermochte ihm zu helfen. Es war schmerzlich, seine stumme Not mitanzusehen: selbst sein Geist, sein sonniger, strahlender Verstand schien ihn im Stich gelassen zu haben.

Noch einmal ging er mit mir zum Mittagessen aus, und wir fuhren nachher auf dem ruhigsten Wege durch den Regent's Park nach Hampstead und plauderten. Die Luft und die schnelle Bewegung taten ihm wohl. Der schöne Blick von der Heide hinunter schien ihn etwas anzuregen, und ich bemühte mich, ihm Mut zu machen.

»Du mußt dir bewußt sein«, sagte ich, »daß du siegen kannst, wenn du es willst. Du kannst nicht nur die Geschworenen, sondern auch den Richter dahin bringen, daß sie ihrer Sache nicht sicher sind. Ich war trotz aller Zeugenaussagen von deiner Unschuld überzeugt und wußte besser über dich Bescheid als sie. In der Gerichtsverhandlung unter Justice Charles' Vorsitz hat dich nur das eine gerettet, daß du von Davids und Jonathans Liebe und von der holden Zuneigung gesprochen hast, die die gemeine Welt nicht begreifen will. Es liegt noch ein zweiter Punkt gegen dich vor, den du bis jetzt unbeantwortet gelassen hast: Gill fragte dich, was du für Berührungspunkte mit diesen Dienern und Stallburschen hattest. Darüber hast du keine Erklärungen abgegeben. Du hast erklärt, daß du die Jugend mit ihrer Frische und ihrem Frohsinn liebst, aber du hast das nicht aufgeklärt, was den meisten Menschen unerklärlich erscheint, daß du mit Bedienten und Pferdeknechten verkehrst.«

»Das ist schwer zu erklären, ohne die Wahrheit zu sagen, nicht wahr, Frank?« Augenscheinlich versagte sein Geist.

»Nein«, erwiderte ich, »das ist leicht, das ist einfach. Denk' an Shakespeare. Wie hat er Holzapfel und Pistol, Bardolph und Dortchen Lakenreißer kennen gelernt? Er muß mit ihnen verkehrt haben. Du verkehrst nicht mit Knaben aus deinen Kreisen, die auf die hohe Schule gehen; denn du kennst sie und hast nichts von ihnen zu lernen: sie können dich nichts lehren. Aber du kannst den Stallburschen und Bedienten in deinen Theaterstücken nicht richtig zeichnen, ohne ihn zu kennen, und du kannst ihn nicht kennen lernen, ohne dich auf dieselbe Stufe zu stellen, ohne dich von ihm ›Oscar‹ nennen zu lassen und ihn ›Charlie‹ zu nennen. Wenn du das unentwegt wiederholst, wird der Richter einsehen, daß er es mit deiner Künstlernatur zu tun hat, und zum mindesten zugeben, daß deine Erklärung glaubhaft ist. Und dann wird er Bedenken haben, dich zu verurteilen, und wenn er erst Bedenken hat, wirst du siegen.

»Du hast schlecht gekämpft, weil du dein eigenes Wesen nicht genügend zu erkennen gegeben hast, du hast bei deiner Vernehmung deinen Verstand nicht benutzt und leider …« Ich sprach nicht weiter, weil ich in Wirklichkeit sehr besorgt war. Denn plötzlich kam es mir zum Bewußtsein, daß er im Queensberry-Prozeß mehr Mut und Geistesgegenwart bewiesen hatte als bei der Gerichtsverhandlung unter Justice Charles' Vorsitz, wo sehr viel mehr auf dem Spiel stand. Und ich hatte die Empfindung, daß er bei der nächsten Verhandlung noch niedergedrückter sein würde und weniger geneigt denn je, die Führung in die Hand zu nehmen. Überdies hatte ich bereits die Erfahrung gemacht, daß ich ihm nicht helfen konnte, daß er sich von diesem »holden Pfad der Verzweiflung« nicht ablenken lassen wollte, der für den künstlerischen Geist so verlockend ist. Aber ich wollte doch mein möglichstes tun.

»Verstehst du, was ich meine?« fragte ich ihn.

»Selbstverständlich, Frank, selbstverständlich, aber du machst dir keinen Begriff, wie ich dieser ganzen Sache, wie ich der Schande und des Kampfes und des Hasses müde bin. Es ist mir so zuwider, diese Leute zu sehen, die einer nach dem anderen den Zeugenstand betreten, um gegen mich auszusagen. Das selbstzufriedene Grinsen der Barrister, der hochtrabende, törichte Richter mit den schmalen Lippen, den listigen Augen und den spitzen Kinnbacken. Ach, es ist schrecklich. Ich möchte am liebsten die Hände ausstrecken und ihnen zurufen: ›Macht in Gottes Namen mit mir, was ihr wollt, aber macht es schnell. Seht ihr denn nicht, daß ich ganz zermürbt bin? Befriedigt euren Haß, wenn es euch Freude macht.‹ Frank, sie würgen den Menschen mit gierigem Rachen, wie die Hunde ein Kaninchen würgen. Und doch nennen sie sich Menschen. Es ist entsetzlich.«

Der Tag ging zur Rüste, und im Westen war der Himmel ganz mit karmesinroten, safrangelben und rosigen Schleiern verhangen: ein leichter Nebel schwebte über London, der, purpurfarben am fernen Horizont, in der Nähe zu einem blauen Hauch verblaßte. Hier und da blickte ein Kirchturm durch die dünne Hülle, wie ein Finger, der nach oben weist. Zur Linken hing die St. Paul's Kuppel wie eine graue Seifenblase über der Stadt; zur Rechten die Doppeltürme von Westminster mit dem Flusse und der Brücke, die Wordsworth besungen hat. Friede und Schönheit umwebte alles, und dort drunten im Nebel versunken lag jene »Rattenfalle«, die die Menschen die Stätte der Gerechtigkeit nennen. Dort sitzen sie und urteilen ihre Nächsten ab – und verwechseln Gleichgültigkeit mit Unparteilichkeit, als könnte jemand seinen Mitmenschen beurteilen, wenn er die Liebe nicht hätte. Aber selbst wenn die Liebe mitspricht, sind wir alle noch so weit entfernt von jenem vollen Verständnis, das über aller Versöhnlichkeit steht, dem es zur Freude gereicht, dem Schwachen beizustehen und den zu trösten, der gebrochenen Herzens ist.

*

Die Tage enteilten schnell, und mein Unvermögen, ihn zu beeinflussen, erfüllte mich mit Selbstverachtung. Und ich sagte mir, daß ich gewiß imstande wäre, ihm zu helfen, wenn ich ihn besser kennen würde. Ob mit der Eitelkeit etwas zu erreichen war? Sie war seine Haupttriebfeder, und ich konnte es immerhin versuchen. Vielleicht ließ er sich durch die Hoffnung leiten, daß die Engländer wieder von ihm sprechen würden, weil er ein Mann war, der den Mut zur Flucht gehabt hatte, – daß sie begierig sein würden, was er nun zunächst zu unternehmen gedachte. Ich wollte den Versuch machen, und ich habe ihn gemacht. Aber seine Niedergeschlagenheit war stärker als ich, und sein Widerwille gegen den Kampf schien von Tag zu Tag zuzunehmen.

Er wollte mir kaum zuhören, er zählte die Tage bis zur Gerichtsverhandlung und war bereit, sich einer ungünstigen Entscheidung zu fügen. Strafe, Not und Schande schienen ihm immer noch besser zu sein als die Ungewißheit und die Wartezeit. Und ich war überrascht, als er sagte:

»Ein Jahr, Frank, – können sie mich zu einem Jahr verurteilen? Das wäre die Hälfte des zulässigen Strafmaßes, – die Mittelstraße, die die englischen Richter stets wählen, eine Art Kompromiß, den sie für ungefährlich halten.« – Und seine Augen blickten mich, Zustimmung heischend, an.

Mein Vertrauen zu den englischen Richtern war weniger groß, ihre Kompromisse sind gewöhnlich Schachergeschäfte, und wenn sie einen Künstler in der Hand haben, lassen sie ihrer gefühlsmäßigen Furcht und Abneigung die Zügel schießen.

Aber ich wollte ihn nicht mutlos machen, und so wiederholte ich ihm meine alte Litanei: »Du kannst siegen, Oscar, wenn du nur willst.« Aber sein mattes, mutloses Lächeln trieb mir die Tränen in die Augen.

»Möchtest du nicht allen Leuten Stoff geben, über dich zu sprechen und wieder über dich zu staunen? Wenn du in Frankreich wärst, würden alle fragen: wird er nun zurückkommen oder ganz verschwinden? Oder wird er künftig seine Anschauungen in ein paar neuen Lustspielen zum Ausdruck bringen, die frohsinniger und heidnischer sind denn je?«

Ich hätte ebensogut zu den Toten sprechen können: er schien vor Verzweiflung erstarrt und hypnotisiert zu sein. Die Strafe war bereits über seine Kräfte gegangen. Und ich fing an zu befürchten, daß das Gefängnis ihn um den Verstand bringen könnte, wenn er wirklich verurteilt würde. Zuweilen fürchtete ich schon, daß sein Geist nicht standhielt, so tief war seine Schwermut, so hoffnungslos seine Verzweiflung.

*

Die Verhandlung begann am 21. Mai 1895 unter dem Vorsitz des Justice Wills. Das Schatzamt hatte den Königlichen Rat und Abgeordneten Sir Francis Lockwood damit betraut, die Herren C. F. Gill, Horace Avory und Sutton zu beraten. Oscar wurde durch denselben Rechtsbeistand vertreten wie bei den früheren Verhandlungen.

Das ganze Verfahren lastete auf mir wie ein Alpdruck; von Anfang an trug es den Stempel der abscheulichsten Voreingenommenheit und Ungerechtigkeit. Die Hohenpriester des Gesetzes waren der Hindernisse müde, die ihnen in den Weg gelegt wurden, und eifrig darauf bedacht, ein Ende zu machen. Sobald der Vorsitzende seinen Platz eingenommen hatte, beantragte Sir Edward Clarke, gegen die Angeklagten einzeln vorzugehen. Da sie bereits von der auf Mittäterschaft lautenden Anklage freigesprochen waren, lag kein Grund dazu vor, gegen sie gemeinsam zu verhandeln.

Der Vorsitzende forderte den Solicitor-General Solicitor-General ist ein hoher juristischer Beamter der Krone. auf, sich zu diesem Antrag zu äußern.

Dieser hatte nichts dagegen einzuwenden, hielt es aber im Interesse der Angeklagten für ratsam, gegen sie gemeinsam zu verhandeln, denn wenn einzeln vorgegangen würde, müßte der Angeklagte Taylor zuerst an die Reihe kommen.

Sir Edward Clarke entkräftete diesen Vorwand, und Justice Wills erledigte die Frage durch die Mitteilung, daß er im Besitz des ganzen Beweismaterials sei, das sich aus den früheren Verhandlungen ergeben habe, und daß nach seiner Ansicht die beiden Angeklagten einzeln abgeurteilt werden sollten.

Dann beantragte Sir Edward Clarke, Mr. Wildes Fall zuerst zu verhandeln, da sein Name als erster auf der Anklage stand und die erste Schuldfrage sich auf ihn bezog und mit Taylor nichts zu tun hatte … »Aus gewissen Gründen, die zweifellos auch für Ew. Lordschaft entscheidend sind, dürfte gegen Wilde nicht sofort nach dem anderen Angeklagten verhandelt werden.«

Justice Wills bemerkte mit scheinbarer Gleichgültigkeit: »Das dürfte nicht den geringsten Unterschied machen, Sir Edward. Wir, d. h. ich und die Geschworenen, werden sicherlich nach besten Kräften dafür sorgen, daß die jetzige Verhandlung von dem vorigen Gerichtsverfahren ganz unbeeinflußt bleibt.«

Doch Sir Edward Clarke bestand auf seinem Willen: In höflicher Form drang er darauf, daß Mr. Wildes Fall zuerst verhandelt werden müßte, da sein Name als erster auf der Anklage stand.

Darauf erwiderte Justice Wills, daß er der Ansicht der Anklagevertreter nicht vorgreifen und den üblichen Verlauf nicht abändern könne. Auf der einen Seite Gerechtigkeit und ehrliches Spiel, auf der anderen Seite die herkömmliche Richtschnur. Und mit unbeirrter Gleichgültigkeit wurde die Gerechtigkeit aus dem Saale gewiesen. Daraufhin stellte Sir Edward Clarke den dringenden Antrag, die Verhandlung gegen Mr. Oscar Wilde bis zur nächsten Sitzungsperiode zu vertagen, der wiederum von Justice Wills abgelehnt wurde. Jetzt war von der herkömmlichen Richtschnur nichts mehr zu hören, aber die Voreingenommenheit war stärker denn je.

Die Verhandlung gegen Taylor nahm den ganzen Tag in Anspruch und wurde am nächsten Morgen fortgesetzt. Taylor betrat den Zeugenstand und stellte alle Beschuldigungen in Abrede. In seinem Schlußwort verwertete der Vorsitzende das ganze Beweismaterial gegen ihn, und um dreieinhalb Uhr zogen sich die Geschworenen zur Beratung zurück. Nach dreiviertel Stunden erschienen sie wieder im Saal und machten einen Zweifel geltend, der bedeutsam war. Auf die Frage des Vorsitzenden gab der Obmann die Erklärung ab: »Sie wären darüber einig, daß der Angeklagte Wilde durch den Angeklagten Taylor mit Parker bekannt geworden war, aber von Wildes Schuld in dieser Angelegenheit nicht überzeugt.«

Justice Wills: »Sind Sie hinsichtlich der anderen Schuldfragen einig geworden?«

Obmann: »Ja, Mylord.«

Justice Wills: »Gut, vielleicht wäre es ebenso angemessen, Ihren Wahrspruch über die anderen Schuldfragen zu hören.«

Dementsprechend verkündeten die Geschworenen durch den Obmann, daß sie Taylor in bezug auf Charles und William Parker schuldig gesprochen hätten.

Von Seiner Lordschaft befragt, erklärte Sir F. Lockwood, daß er den in diesen beiden Schuldfragen auf »schuldig« lautenden Wahrspruch der Geschworenen anerkennen würde.

Nachdem dieser Wahrspruch in aller Form zu Protokoll gegeben war, forderte der Vorsitzende den Angeklagten auf, abzutreten, und verschob den Urteilsspruch. Geschah das, weil er die nächsten Geschworenen durch die Strenge des Urteilsspruchs nicht erschrecken wollte? Ich konnte für sein Verhalten keinen anderen Grund ausfindig machen.

Nun erhob sich Sir Edward Clarke und sagte, da die Zeit bereits sehr vorgeschritten war und die Geschworenen über Mr. Wildes Schuld zum zweitenmal nicht einig geworden waren, so könnte vielleicht …

Hier unterbrach Sir F. Lockwood den Sprechenden in erregtem Ton:

»Ich erhebe Einspruch dagegen, daß Sir Edward Clarke derartige Bemerkungen macht.«

Justice Wills nahm ebenfalls Stellung zu der Frage:

»Sie können das wohl kaum als nicht einig bezeichnen, Sir Edward«, obwohl ich nicht wüßte, mit welchem anderen Ausdruck er das bezeichnen wollte.

Darauf wurde die Verhandlung gegen Oscar Wilde auf den nächsten Tag verschoben, da andere Geschworene ausgelost werden sollten. Aber gleichviel, welche Geschworenen herangezogen wurden, – sie mußten ja hören, daß Taylor von ihren Vorgängern schuldig gesprochen worden war, – sie würden wissen, daß die ganze Londoner Presse ausnahmslos den Spruch gebilligt hatte. Welche günstigen Aussichten für Wilde! Ungefähr ebenso, als wenn ein Staatssekretär für Irland vor einem aus Sinnfeinern bestehenden Geschworenengericht verhört wurde.

Am nächsten Tage, dem 23. Mai, erschien Oscar Wilde morgens auf der Anklagebank. Der Solicitor-General eröffnete die Verhandlung und rief dann seine Zeugen auf. Einer der ersten war Edward Shelley, der beim Kreuzverhör zugab, daß er geistig krank gewesen war, als er Mr. Wilde die Briefe schrieb, die als Beweis beigebracht worden waren. Er sei infolge von »Überarbeitung nervös geworden«, wie er behauptete.

Alfred Wood gab zu, daß er ganz kürzlich Geld – in Wirklichkeit Erpressungsgelder – bekommen hatte. Er war so bösartig wie möglich. »Als er nach Amerika ging«, sagte er aus, »hatte er Wilde mitgeteilt, daß er mit ihm (Wilde) und Douglas nichts mehr zu tun haben wollte.«

Dann wiederholte Charlie Parker seine abscheuliche Zeugenaussage mit unaussprechlicher Schamlosigkeit und einer gewissen Schadenfreude. Eine tiefere Stufe konnte die bestialische Gemeinheit nicht erreichen. Parker gab zu, daß er seit dem früheren Gerichtsverfahren auf Kosten der Ankläger gelebt habe. Nach diesem Geständnis wurde die Verhandlung vertagt, und wir verließen den Saal.

Als ich in der Fleet Street anlangte, hörte ich zu meinem Erstaunen, daß an demselben Nachmittag in Piccadilly ein Auftritt zwischen Lord Douglas of Hawick und seinem Vater, dem Marquis von Queensberry, stattgefunden hatte. Anscheinend hatte Lord Queensberry abscheuliche Briefe über den Fall Wilde an Lord Douglas' Gattin geschrieben. Als Percy Douglas ihn nun in Piccadilly traf, stellte er ihn und forderte ihn auf, künftig solche unanständige Briefe an seine Frau zu unterlassen. Und da der Marquis sich weigerte, kam es zu Tätlichkeiten zwischen Vater und Sohn. Queensberry scheint über die Tatsache erbittert gewesen zu sein, daß Douglas of Hawick eine der Bürgschaften für Oscar Wilde übernommen hatte. Ich kann es mir nicht versagen, eins der Telegramme, die der Marquis of Queensberry an Lady Douglas sandte, hier anzuführen, lediglich als Beweis für die wahnsinnige Veranlagung des Mannes, der über ein Gerichtsverfahren frohlocken konnte, das den Ruf seines eigenen Sohnes untergrub. Offenbar war es nach dem Ergebnis des Taylor-Verhörs geschrieben worden:

Muß zum Wahrspruch gratulieren, kann's nicht zu Percys Erscheinung. Sieht wie eine ausgegrabene Leiche aus. Fürchte wegen zu toller Küsserei. Taylor schuldig gesprochen. Wilde kommt morgen dran.

Queensberry.

In dem von dem Polizeirichter Hannay geleiteten Verhör wurde festgestellt, daß Lord Queensberry an Lady Douglas ähnlich geartete Briefe gesandt hatte, welche »die abscheulichsten Beschuldigungen gegen Lord Douglas und dessen Gattin sowie gegen Queensberrys geschiedene Frau und ihre Familie« enthielten. Aber Mr. Hannay hielt alle diese Herausforderungen für belanglos und gebot, daß Vater und Sohn sich persönlich und durch zwei Bürgen verpflichteten, Frieden zu halten, – ein unverantwortlicher Entscheid, der nur durch das Wohlwollen erklärt werden kann, das Queensberry überall wegen seines Sieges über Wilde bezeigt wurde. Denn sonst hätte sicherlich jeder gerechte Richter den Vater verurteilt, der unanständige Briefe an die Frau seines Sohnes – eine unantastbare Dame – schickte. Diese gemeinen Briefe und die richterliche Parteilichkeit fügten nach meinem Empfinden zu der furchtbaren Gemeinheit des Gerichtsverfahrens noch den letzten grotesken Zug hinzu. Das gehörte alles in Dantes siebenten Kreis, aber Dantes Phantasie hätte solch einen Vater und solche Richter nie ersinnen können! – –

Am nächsten Morgen wurde Oscar Wilde wieder auf die Anklagebank gesetzt. Das Beweismaterial des Queensberry-Prozesses wurde verlesen, und damit war der Fall für die Krone beendigt.

Darauf erhob sich Sir Edward Clarke und machte darauf aufmerksam, daß keine Veranlassung vorlag, wegen der allgemeinen Schuldfragen an die Geschworenen heranzutreten. Nach einer ausführlichen rechtlichen Darlegung für und gegen diese Frage äußerte sich Justice Wills dahin, daß er dem Appellationsgericht die Entscheidung vorbehalten würde. Er vertrat den Standpunkt, »daß das Beweismaterial völlig unzulänglich sei«; glaubte aber, daß die Verantwortung den Geschworenen überlassen bleiben müßte. Für diesen Richter war das völlig »unzulängliche« Beweismaterial wertvoll, solange es gegen den Angeklagten sprach.

Dann machte Sir Edward Clarke geltend, daß die Fälle Shelley, Parker und Wood auf Grund mangelnden Nachweises ungültig waren. Justice Wills gab zu, daß Shelley geistig »eine eigenartige Erregbarkeit« bekundete; zudem war seine Familie durch geistige Störungen erblich belastet, und was das Allerschlimmste war, für seine Aussagen war kein Nachweis zu erbringen. Demzufolge wurde Shelleys Beweismaterial trotz der Darlegungen von seiten des Solicitor-Generals gestrichen. Aber es war bereits angenommen worden und hatte das Urteil der Geschworenen nachteilig beeinflußt.

Und gerade Shelleys Zeugenaussage hatte Justice Charles bei der vorigen Verhandlung veranlaßt, in seinem Schlußwort das ganze Beweismaterial gegen den Angeklagten geltend zu machen. Justice Charles bezeichnete Shelley als den »einzigen ernstzunehmenden Zeugen«.

Nun ergab es sich, daß Shelleys Beweise überhaupt nicht als gültig angenommen werden, und daß die Geschworenen Shelleys Aussagen oder ihre Anerkennung von Seiten des Vorsitzenden überhaupt nicht gehört haben durften. – –

Als die Sitzung am nächsten Morgen eröffnet wurde, war ich mir bewußt, daß der ganze Verlauf des Falles von Oscar Wilde und dem Eindruck abhängig war, den er beim Verhör machen würde. Aber leider war er mutlos und benommen. Er war eben keine Kämpfernatur, und die lange Dauer dieser Fehde hätte auch einen streitbaren Menschen zermürben können. Der Solicitor-General verhörte ihn zuerst über seine Briefe an Lord Alfred Douglas, und wir bekamen wieder das »Gedicht in Prosa« und all die anderen unsäglich sinnlosen Vorurteile des Mittelstandes gegen jedes leidenschaftliche Gefühl zu hören. Es stellte sich dabei heraus, daß Lord Alfred Douglas sich jetzt in Calais aufhielt. Der Haß, den er gegen seinen Vater empfand, war die causa causans des ganzen Falles; er hatte Oscar in den Kampf getrieben, und Oscar, der noch immer beflissen war, seinen Freund zu decken, erklärte, daß er ihn gebeten hätte, ins Ausland zu gehen.

Sir Edward Clarke tat wieder soviel oder sowenig er zu tun vermochte. Er wies darauf hin, daß das Verfahren sich auf ein von richtigen Erpressern beigebrachtes Beweismaterial stützte. Er wollte das nicht anfechten und erörtern, aber man könne unmöglich verkennen, daß das Handwerk der Erpresser sich schnell zu einem gefährlicheren Schaden und einer schlimmeren Gefahr für die Gesellschaft auswachsen dürfte als je zuvor, wenn ihnen Gehör und Glauben zuteil würde.

Die Rede war schwach, aber das Publikum im Saal bekundete Sir Edward Clarke seinen Beifall, der vom Vorsitzenden sofort untersagt wurde.

Der Rest des Tages wurde durch eine gehässige Erwiderung des Solicitor-General in Anspruch genommen, und Sir Edward Clarke mußte ihn sogar daran erinnern, daß die richterlichen Beamten der Krone sich der Unparteilichkeit befleißigen sollten. Ich möchte hier ein Beispiel für seine Voreingenommenheit anführen: Als Oscar über die Briefe verhört wurde, die er an Lord Alfred Douglas geschrieben hatte, wünschte Sir Frank Lockwood zu wissen, ob er sie für »anständig« hielte, was der Zeuge mit einem »Ja« beantwortete.

»Verstehen Sie die Bedeutung des Wortes?« lautete die Entgegnung dieses Herrn.

Ich verließ den Saal mit der festen Überzeugung, daß die Sache verloren war. Oscar hatte sein wahres Wesen überhaupt nicht zu erkennen gegeben und nicht einmal mit dem Nachdruck gesprochen, den er im Queensberry-Prozeß angewendet hatte. Er schien zu verzweifelt, um einen Schlag zu führen.

Das Schlußwort des Vorsitzenden am 25. Mai war absonderlich dumm und gehässig. Er fing mit der Erklärung an, daß er »vollkommen unparteiisch« wäre, obwohl Sir Edward Clarke seine Darstellung der Tatsachen immer wieder berichtigen mußte. Im Verlauf seiner Rede äußerte er sein Bedauern, daß die auf Mittäterschaft lautende Anklage vorgebracht worden war, da sie doch aufgegeben werden mußte. Er wies ferner darauf hin, daß er ein farbloses Schlußwort, das »für niemand von Nutzen wäre«, nicht vorbringen könnte. Seine geistige Veranlagung läßt sich am besten an einem Punkte ermessen, der für den ganzen Fall entscheidend war: er klammerte sich an die Tatsache, daß Oscar die von Wood gekauften Briefe verbrannt hatte, die nach seiner Behauptung bedeutungslos sein sollten, abgesehen davon, daß sie dritte Personen betrafen. Der Vorsitzende hatte sich selbst überzeugt, daß die Briefe unbeschreiblich anstößig waren, – scheinbar zog er dabei nicht in Betracht, daß Wood oder seine Genossen sich die alleranrüchigsten zu Erpressungszwecken ausgesucht und aufbewahrt hatten, und daß dieser Vorsitzende selbst keinerlei Gewicht darauflegen konnte, nachdem er sie gelesen hatte. Dennoch blieb er dabei, daß die Verbrennung der Briefe eine Wahnsinnstat war. Während es jedem Menschen, der nur über ein wenig verständnisvolle Einsicht verfügte, als das Allernatürlichste erscheinen mußte, was ein schuldloser Mensch tun konnte. Denn damals, als Oscar die Briefe verbrannte, ahnte er nicht, daß er jemals vor Gericht gestellt werden würde. Seine Briefe waren falsch gedeutet worden, der anrüchigste wurde gegen ihn ausgebeutet, und so warf er die übrigen selbstverständlich ins Feuer, sobald er sie erhalten hatte. Der Vorsitzende hielt das für Wahnsinn und baute auf dieser Schlußfolgerung eine Schuldpyramide auf. »Nichts von dem, was Wood ausgesagt hat, darf geglaubt werden, denn er gehört zur gemeinsten Verbrechersorte; für die Wirksamkeit der Anklage ist einzig und allein die Art entscheidend, in der Wood mit Wilde bekannt gemacht worden ist, wie sie durch die Geschichte der Briefe und ihrer Verbrennung erläutert und bestätigt wird.«

Eine Schuldpyramide, die auf ihrem Scheitelpunkt mit aller Sorgfalt im Gleichgewicht gehalten wird! Hätte der törichte Vorsitzende nur seinen Shakespeare gelesen. Sagt doch Heinrich VI.:

»Verfahrt nicht schärfer gegen unseren Oheim Gloster,
Als er auf wahrhaft Zeugnis guter Art
In seinen Taten schuldig wird erkannt.«

Gegen Wilde gab es kein »wahrhaft Zeugnis guter Art«, aber der Vorsitzende wandelte einen harmlosen Vorgang zu einem Schuldbekenntnis.

Dann erfolgte ein Zwischenspiel, das den englischen Gerechtigkeitsbegriff in helles Licht rückt. Der Obmann der Geschworenen wünschte im Hinblick auf die vertraulichen Beziehungen zwischen Lord Alfred Douglas und dem Angeklagten zu wissen, ob gegen Lord Alfred Douglas jemals ein Haftbefehl erlassen worden war.

Justice Wills: »Ich glaube kaum; davon ist uns nie etwas zu Ohren gekommen.«

Obmann: »Oder ist er jemals in Erwägung gezogen worden?«

Justice Wills: »Das kann ich nicht sagen, und das können wir auch nicht erörtern. Der Erlaß eines solchen Haftbefehls würde nicht von den Zeugenaussagen der Parteien, sondern davon abhängig sein, ob Beweismaterial für eine solche Handlung vorhanden war. Briefe, die auf solche Beziehungen hindeuten, würden nicht dafür ausreichen. Lord Alfred Douglas war nicht vorgeladen worden, und Sie können diesem Umstand die Bedeutung beimessen, die Ihnen beliebt.«

Obmann: »Wenn wir auf Grund dieser Briefe auf irgendeine Schuld schließen sollen, so würde sie in gleicher Weise für Lord Alfred Douglas in Betracht kommen.«

Justice Wills pflichtete dieser Ansicht bei, glaubte aber letzten Endes, daß sie mit der vorliegenden Verhandlung, die sich mit der Schuld des Angeklagten beschäftigte, nichts zu tun hätte.

Die Geschworenen zogen sich um dreieinhalb Uhr zur Beratung zurück und erschienen nach zwei Stunden wieder im Saal, um sich zu erkundigen, ob irgendein Beweis dafür vorhanden wäre, daß Charlie Parker am St. James Place genächtigt hätte.

Seine Lordschaft antwortete verneinend.

Bald darauf erschienen die Geschworenen wieder und verkündeten den Wahrspruch »Schuldig« in allen Schuldfragen.

Vielleicht verlohnt es sich, das Zugeständnis des Vorsitzenden selbst, daß das Beweismaterial für einige Schuldfragen »völlig unzulänglich« war, nochmals zu erwähnen. Aber als dieses Beweismaterial durch sein voreingenommenes Schlußwort gestützt wurde, war es für die Geschworenen mehr als ausreichend.

Sir Edward Clarke befürwortete, den Urteilsspruch bis zur nächsten Sitzungsperiode zu vertagen, um die rechtliche Darlegung des Falles zu hören.

Aber Justice Wills ließ sich nicht zurückhalten, er meinte, daß das Urteil sogleich gefällt werden sollte. Dann wandte er sich an die Angeklagten mit einer Rede, die ich genau im Wortlaut wiedergebe, um ihm nicht unrecht zu tun.

»Oscar Wilde und Alfred Taylor, das Vergehen, dessen Sie überführt worden sind, ist so schwer, daß man sich den stärksten Zwang auferlegen muß, um die Gefühle, die im Herzen jedes Ehrenmannes wach werden müssen, der die Einzelheiten dieser schrecklichen beiden Verhandlungen gehört hat, nicht in Ausdrücken zu schildern, die ich lieber vermeiden möchte.

»Ich kann es nicht über mich gewinnen, dem leisesten Zweifel Raum zu geben, daß die Geschworenen im vorliegenden Fall einen richtigen Wahrspruch gefunden haben. Jedenfalls hoffe ich, daß die Leute, die sich zuweilen einbilden, daß ein Richter in bezug auf Anstand und Sittlichkeit gleichgültig ist, weil er dafür sorgt, daß der Fall durch keine Voreingenommenheit beeinflußt wird, nun einsehen werden, daß diese Gesinnung wenigstens mit der höchsten Entrüstung über die schrecklichen Beschuldigungen vereinbar ist, die Ihnen beiden nachgewiesen worden sind.

»Es hat keinen Zweck, daß ich das Wort an Sie richte. Leute, die solche Dinge tun, müssen für jedes Schamgefühl erstorben sein, und es läßt sich nicht erhoffen, daß man auf Sie einwirken kann. Dieser Fall ist der schlimmste, den ich je verhandelt habe … Man kann unmöglich daran zweifeln, daß Sie, Wilde, der Mittelpunkt eines Kreises gewesen sind, in dem unter jungen Männern eine weitgehende Sittenverderbnis abscheulichster Art geherrscht hat.

»Unter diesen Umständen wird damit gerechnet werden, daß ich das strengste gesetzlich zulässige Urteil abgebe. Nach meiner Meinung ist es vollkommen unzulänglich für den Fall, mit dem wir es hier zu tun haben.

»Das Urteil des Gerichtes lautet auf zweijährige Zuchthausstrafe mit Zwangsarbeit für jeden der beiden Angeklagten.«

Im bestürzten Staunen über dieses Urteil verstummten die Anwesenden, – Schweigen herrschte im Saal.

Wilde erhob sich und rief: »Mylord, darf ich um das Wort bitten?«

Justice Wills winkte verweisend mit der Hand, während das Publikum auf der öffentlichen Galerie »Pfui« rief und zischte. Sicherlich galt manches Pfui und manches Zischen dem Richter und war wohlverdient. Was hatte er mit den Worten gemeint, daß Oscar der Mittelpunkt eines Kreises war, »in dem eine weitgehende Sittenverderbnis abscheulichster Art« herrschte? Von Seiten der Anklagevertretung war kein Beweismaterial dafür beigebracht und nicht einmal behauptet worden, daß eine einzige unschuldige Person verdorben worden war. Diese Beschuldigung hatte der »vollkommen unparteiische« Vorsitzende erfunden, um seine ungeheuerliche Grausamkeit zu rechtfertigen. Die unverdienten Beleidigungen und der entsetzliche Urteilsspruch hätten den übelsten Richter aus der Zeit der Inquisition entehrt.

Justice Wills litt augenscheinlich an der eigenartigen geistigen »Erregbarkeit«, die er bei Shelley festgestellt hatte. Auch einige andere Vorsitzende der englischen Gerichtshöfe besitzen dieselbe Eigentümlichkeit, wenn auch in weniger ausgesprochener Form, die sie stets bekunden, wenn die geschlechtliche Sittlichkeit zur Verhandlung steht. Justice Wills unterschied sich von ihnen nur durch die Tatsache, daß er stolz auf sein Vorurteil und beflissen war, danach zu handeln. Offenbar entzog es sich seiner Kenntnis oder seinem Interesse, daß das Urteil, welches er gefällt und für »vollkommen unzulänglich« erklärt hatte, von einer königlichen Kommission als »unmenschlich« verworfen worden war. Er hätte lediglich aus zopfiger Dummheit die »Unmenschlichkeit« bis zur Bestialität getrieben. Und die Empörung, die man über diese vernunftlose Gehässigkeit empfand, wurde durch den Umstand nur verstärkt, daß er vermutlich in ehrlicher Überzeugung handelte.

Dantes bitterste Worte sind nicht bitter genug, um mein Empfinden wiederzugeben:

»Non ragioniam di lor ma guarda e passa.«

Die ganze Szene hatte mich angewidert. Haß, in der Maske der Gerechtigkeit, der rachsüchtig zuschlägt und die Schmähung zur Beleidigung gesellt. Das gemeine Bild hatte seinen passenden Außenrahmen. Wir hatten den Gerichtssaal noch nicht verlassen, da wurden Beifallskundgebungen auf der Straße laut. Und draußen tanzten ganze Horden der gemeinsten Londoner Weiber – sie warfen in grauenhafter Ausgelassenheit die Beine in die Luft, während das ganze Aufgebot der umherstehenden Polizisten und Zuschauer vor Freude wieherte. Als ich mich von dieser Vorstellung abwandte, die so unanständig und seelisch besudelnd war, wie irgendein Vorgang, den die Raserei der französischen Revolution gezeitigt hat, sah ich Wood und die beiden Parkers, die lachend und scheelblickend in eine Droschke stiegen.

Um dieser feilen Kreaturen willen wurde Oscar Wilde bestraft, – weil er sie verdorben haben sollte!


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