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Einleitung

Von allen Seiten wurde mir der Rat erteilt, dieses Buch nicht zu schreiben, und ein paar meiner englischen Freunde, die es gelesen haben, warnen mich eindringlich vor der Veröffentlichung mit den Worten:

»Man wird Ihnen den Vorwurf machen, dieses Thema zu wählen, weil die geschlechtliche Perversität Sie reizt, und die Art, wie Sie es behandeln, gibt Sie jedem Angriff preis.

Sie kritisieren und verurteilen den englischen Gerechtigkeitsbegriff und das englische Justizsystem. Sie zweifeln sogar an der Unparteilichkeit des englischen Rechts und werfen ein unvorteilhaftes Licht auf die englischen Geschworenen und das englische Publikum. Das alles ist nicht nur allgemein unbeliebt, sondern wird die urteilslosen Kreise überzeugen, daß Sie ein anmaßender Mensch oder wenigstens ein Ausländer mit zu ausgeprägtem Eigendünkel und einer viel zu losen Zunge sind.«

Es wäre mehr oder auch weniger als menschlich, wenn diese Argumente mich nicht bedenklich machten. Ich möchte nicht gern etwas tun, das mir die wenigen entfremdet, die mir noch freundschaftlich gesinnt sind. Aber für diese persönlichen Rücksichten sind die Beweggründe, von denen ich geleitet bin, zu gewichtig, und ich könnte mit dem Lateiner sagen:

»Non me tua fervida terrent
Dicta, ferox: Di me terrent, et Jupiter hostis.«

Und auch das wäre nur ein Teil der Wahrheit. Die Jugend sollte meines Erachtens stets vorsichtig sein, denn sie hat viel zu verlieren. Aber ich habe jenes Lebensalter erreicht, in dem ein Mann sich vermessen kann, kühn zu sein, und es selbst wagen darf, sich so zu zeigen, wie er ist – das Beste, das er in sich trägt, zum schriftlichen Ausdruck zu bringen, unbekümmert um Schurken und Narren und um alles, was diese Welt ihm antun mag. Meine Lebensreise geht zur Neige, und der Hafen ist in Sicht. Wie ein guter Seemann habe ich bereits die hohen Spieren abgetakelt und die widerspenstigen Segel geborgen, als Vorbereitung für die lange Zeit der Verankerung. Ich habe nur noch wenig zu fürchten.

Und die Unsterblichen sind meinem Vorhaben gnädig gesinnt. Die griechische Tragödie handelte von viel grausigeren und abstoßenderen Dingen, wie beispielsweise von Thyestes' Mahl. Und Dante scheute sich nicht, Ugolinos widernatürliche Speise zu schildern. Die urteilsfähigsten Köpfe der heutigen Zeit billigen meine Wahl. »Alles hängt vom Gegenstande ab«, sagt Matthew Arnold in bezug auf die große Literatur. »Wählt eine passende Handlung – eine große und bedeutsame Handlung – lebt euch vollkommen in die Stimmung des Geschehens hinein –: wenn das getan ist, wird sich alles andere von selbst ergeben, denn der Ausdruck ist nebensächlich und kommt erst in zweiter Linie in Betracht.«

Sokrates wurde bezichtigt, die Jugend zu verderben, und um dieses Vergehens willen zum Tode verurteilt. Die Anklage, die gegen ihn erhoben wurde, und seine Strafe bilden sicherlich solch eine große und bedeutsame Handlung, wie sie nach Matthew Arnolds Behauptung einzig und allein von höchstem und bleibendem literarischem Werte ist.

Die Handlung, die Oscar Wildes Aufstieg und Vernichtung in sich schließt, gehört derselben Gattung an und besitzt ein stetiges Interesse für die Menschheit. Der kritische Beurteiler wird vielleicht behaupten, daß Wilde eine geringwertigere Persönlichkeit ist als Sokrates und in vielen Beziehungen weniger bedeutsam. Aber wenn das selbst der Wahrheit entspräche, würde es am Standpunkt des Künstlers nichts ändern. Nicht Napoleons und Dantes Bildnisse sind die wichtigsten Gemälde der Welt. Die Verschiedenheiten zwischen den Menschen sind unerheblich im Vergleich zu ihrer angeborenen Gleichartigkeit. Und die Aufgabe des Künstlers besteht darin, den Sterblichen so darzustellen, daß er Unsterblichkeit gewinnt. –

Überdies veranlassen mich besondere Gründe dazu, gerade dieses Thema zum Gegenstand meiner Schilderung zu machen. Oscar Wilde ist lange Jahre mein Freund gewesen; ich konnte nicht anders, ich habe ihn bis zum bitteren Ende geschätzt: für mich war er stets eine bestrickende, seelisch anregende Persönlichkeit. Menschen, die ihm vollkommen unebenbürtig waren, haben ihn auf das furchtbarste bestraft: zugrunde gerichtet, verfemt und gemartert, bis der Tod selbst zum Erlöser wurde. Das Urteil, das gegen ihn gesprochen wurde, zeugt gegen seine Richter. Die ganze Geschichte ist mit tragischem Pathos beschwert und birgt eine Fülle unvergeßlicher Lehren. Ich habe über zehn Jahre gewartet, denn ich hoffte, daß irgendein anderer in diesem Sinne über ihn schreiben würde und ich, dieser Verpflichtung enthoben, anderes unternehmen könnte. Aber es ist noch nichts in der Öffentlichkeit erschienen, was diesem meinem Vorhaben entspricht.

Oscar Wilde hat meines Erachtens in seinem mündlichen Ausdruck Größeres geleistet als in seinen Schriften – ein Ruhm, der am schnellsten schwindet. Wenn ich seine Geschichte nicht erzähle und sein Bild nicht darstelle, so glaube ich kaum, daß es von anderer Seite geschieht.

Die englischen Moralphilister werden mich vielleicht beschuldigen, daß ich gegen die Sittlichkeit verstoße: diese Beschuldigung wäre mehr als widersinnig. Die tiefsten Grundlagen unserer Alten Welt sind sittlich; selbst die verkohlte Asche schwebt durch den Raum und ist an unerläßliche Gesetze gebunden. Der Denker mag den Sittlichkeitsbegriff erläutern; der Reformator mag versuchen, unsere sittlichen Vorstellungen mit der Wirklichkeit besser in Einklang zu bringen. Menschliche Liebe und menschliches Mitleid mögen sich bemühen, ihre gelegentlichen Ungerechtigkeiten zu mildern und ihre unerträgliche Strenge zu sänftigen. Aber das ist die ganze Freiheit, die uns Sterblichen zuteil geworden, der Spielraum, der uns vergönnt ist.

Dieses Buch wird dem Leser die Gestalt des Künstlers zeigen, der, als ein zweiter Prometheus, gleichsam mit eisernen Bändern an die gewaltigen Granitfelsen des englischen Puritanertums gefesselt war. Seine vielseitigen Vorzüge und Gaben wurden nicht in Betracht gezogen, seine außergewöhnlichen Leistungen ihm nicht zugute gehalten; er wurde aus dem Leben gehetzt, weil seine Sünden nicht die Sünden des englischen Mittelstandes waren. Der Verbrecher war bei weitem vornehmer und besser als seine Richter.

Hier sind alle Vorbedingungen für die große Tragödie: Mitleid, Schmerz und Grauen.

Der Künstler, dem Oscar Wilde ein großes, unabweisliches Motiv für seine Kunst bietet, bedarf keines Arguments zur Rechtfertigung seiner Wahl. Und wenn das Gemälde ein bedeutendes, lebenswahres Bildnis ist, wird der Tugendrichter zufrieden sein: die tiefen Schatten dürfen ebensowenig fehlen wie die hellen Lichter, und die Wirkung muß darin bestehen, daß unsere Nachsicht erhöht und unser Mitleid verstärkt wird.

Wenn das Bild hingegen verzeichnet oder schlecht gemalt ist, könnten die Vernunftgründe einer ganzen Welt und die Lobsprüche aller Schmeichler nichts dagegen ausrichten, daß dem Gemälde Verachtung und dem Künstler Tadel gebührt. –

Es gibt einen Maßstab, demzufolge die Absicht von der Leistung gesondert beurteilt werden kann – nur einen einzigen. Pascal sagt: »Si ce discours vous plait et vous semble fort, sachez qu'il est fait par un homme qui s' est mis à genoux auparavant et après Siehe Pascal: Pensées, Article II, pag. 78.

Es gibt kein Buch, das in größerer Ehrfurcht geschrieben worden ist als dieses Buch.

Nizza 1910
Frank Harris


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