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XVIII
Milderung der Strafe, aber kein Straferlaß

Sobald ich nach London zurückgekehrt war, suchte ich Sir Ruggles Brise auf. Kein Mensch hätte mir warmherzigeres Wohlwollen oder einsichtsvolleres Verständnis entgegenbringen können. Ich erstattete ihm Bericht und legte mit vollem Vertrauen die Angelegenheit in seine Hände. Dann nahm ich Gelegenheit, Oscars Freunden den Zustand zu schildern, in dem er sich befand, und gab ihnen zugleich die Versicherung, daß seine Lage sich bald bessern würde. Kurze Zeit darauf hörte ich, daß der Gefängnisdirektor abgelöst worden war, daß Oscar Bücher und Schreibmaterial erhalten hatte und bis zu vorgerückter Stunde in seiner Zelle Gas brennen durfte. Dann wurde es niedrig geschraubt, aber nicht ganz abgestellt. Tatsächlich wurde er seit dieser Zeit mit aller erdenklichen Freundlichkeit behandelt, und bald hörten wir, daß er die Gefangenschaft und die strenge Zucht über Erwarten gut ertrug. Sir Evelyn Ruggles Brise hatte offenbar die Schwierigkeiten in menschenfreundlichstem Sinne beseitigt.

Noch etwas später erfuhr ich, daß Oscar im Gefängnis angefangen hatte, »De Profundis« zu schreiben, was mich ebenfalls sehr hoffnungsvoll stimmte; keine Nachricht hätte mir mehr Freude bereiten können. Ich hielt es für sicher, daß er sich vor den Menschen rechtfertigen würde, wenn er die Strafe in eine Stufe zum Aufstieg verwandelte. Und in dieser Zuversicht wagte ich es, zur gelegenen Zeit mit einem zweiten Anliegen zu Sir Ruggles Brise zu gehen.

»Oscar wird gewiß nicht die ganze Strafzeit abbüßen«, sagte ich zu ihm, »gewiß werden ihm vier bis fünf Monate erlassen werden, weil er sich gut geführt hat.«

Sir Ruggles Brise hörte mir wohlwollend zu, machte mich aber gleich darauf aufmerksam, daß jeder Straferlaß eine Ausnahme sei. Jedoch war er bereit, mir mitzuteilen, was sich tun ließe, wenn ich in acht Tagen wieder bei ihm vorsprechen wollte. Zu meiner größten Überraschung schien er von Oscars guter Führung nicht einmal überzeugt zu sein.

Ende der Woche fand ich mich wieder bei ihm ein, und wir hatten nochmals eine lange Unterredung. Er sagte mir, daß man nach dem Gefängnislexikon von einer guten Führung nur sprechen könnte, wenn der Betreffende keinen Anlaß zu Ordnungsstrafen gegeben hatte, und Oscar war ziemlich oft bestraft worden. Selbstverständlich handelte es sich bei ihm nur um kleine Verstöße; es lag nichts Ernstes vor, und zumeist waren es wirklich nur kindische Sünden: daß er häufig sprach, daß er morgens unpünktlich war oder nicht genügende Ordnung in seiner Zelle hielt und dergleichen mehr. Das waren alles geringfügige Verfehlungen, aber das Zeugnis »gute Führung« hing von der Beobachtung solcher Kleinigkeiten ab. In Anbetracht dieses über Oscar eingegangenen Berichtes glaubte Sir Ruggles Brise nicht, daß die Strafe ohne weiteres abgekürzt werden konnte. Ich war wie vom Donner gerührt. Aber andererseits gibt es für mich keine unantastbaren Regeln, und in Wirklichkeit sind sie nur um ihrer Ausnahmen willen erträglich. Ich hielt so viel von Sir Ruggles Brise – von seinem gütigen Wesen und seinem gerechten Sinn –, daß ich ihm ohne Scheu alles zu sagen wagte, was ich über diese Angelegenheit dachte:

»Oscar Wilde beginnt gerade, sich dem Leben wieder zuzuwenden. Er ist mit seiner Gattin fast ausgesöhnt; er hat angefangen, ein Buch zu schreiben, und findet sich mit seinem schweren Schicksal ab. Wenn ihm jetzt eine kleine Aufmunterung zuteil wird, glaube ich, daß er Besseres leisten wird, denn je zuvor. Ich bin überzeugt, daß er zu viel größeren Dingen berufen ist, als die bisherigen Erfahrungen es erwarten lassen. Aber er ist überaus empfindsam und überaus eitel. Deshalb besteht die Gefahr, daß er durch die Härte und den Haß der Welt verängstigt und in seiner Entwicklung gehindert werden könnte. Dann wird er vielleicht menschenscheu werden und nichts leisten, wenn der Wind um seinetwillen nicht ein wenig gemildert wird. Jetzt eine leise Aufmunterung, das Bewußtsein, daß Menschen Ihrer Art ihn einer besonders freundlichen Behandlung für wert und würdig halten, und ich bin überzeugt, er wird Großes leisten. Ich glaube wirklich, es liegt in Ihrer Macht, einen ungewöhnlich begabten Menschen zu retten und das Beste in ihm auszulösen, wenn Sie dazu geneigt sind.«

»Selbstverständlich bin ich dazu geneigt«, rief er. »Daran können Sie nicht zweifeln, und ich verstehe ganz genau, was Sie meinen. Aber leicht wird es nicht sein.«

Doch ich ließ nicht nach:

»Wollen Sie nicht versuchen, was sich machen läßt? Bitte ersinnen Sie ein Mittel, wie es gemacht werden und wie der Minister des Innern bewogen werden kann, Wilde die letzten paar Monate seiner Strafe zu erlassen.«

Nach einer kleinen Pause erwiderte er:

»Glauben Sie mir, daß die Behörden durchaus bereitwillig – mehr als bereitwillig sind, jedes gute Werk zu unterstützen, das darf ich wohl nicht nur in meinem eigenen Namen, sondern auch im Namen des Innenministers mit Bestimmtheit sagen. Aber es ist Ihre Sache, uns für unsere Maßnahmen irgendeinen Grund zu beschaffen, – einen Grund, der zugegeben und gerechtfertigt werden kann.«

Da ich zuerst seine Absicht nicht verstand, setzte ich meine Vorstellungen fort:

»Sie erkennen an, daß der Grund vorhanden ist, daß es etwas Gutes wäre, Wilde eine Vergünstigung zu erweisen; weshalb geschieht es also nicht?«

»Wir leben unter einer parlamentarischen Regierungsform«, erwiderte er. »Nehmen Sie an, die Frage würde im Parlament vorgelegt, was ich bei der gegenwärtigen Stimmungslage des Publikums für sehr wahrscheinlich halte: was sollen wir darauf antworten? Die Hoffnung, daß Wilde neue Theaterstücke und Bücher schreiben wird, wäre doch kein stichhaltiger Grund, nicht wahr? Ich gestehe Ihnen zu, daß dieser Grund ausreichend sein sollte; aber Sie sehen selbst ein, daß er nicht so aufgefaßt werden würde.«

»Vermutlich haben Sie recht«, mußte ich ihm beipflichten. »Aber würde es genügen, wenn ich Ihnen ein von literarischen Persönlichkeiten unterzeichnetes Gesuch bringe, in dem Sie gebeten werden, Wilde aus Gesundheitsrücksichten freizulassen?«

Sir Ruggles Brise griff diese Anregung mit Freuden auf.

»Gewiß«, rief er, »wenn ein paar literarische Persönlichkeiten, Leute in Amt und Würden, schriftlich die Bitte einreichen, Wildes Strafmaß aus gesundheitlichen Gründen um drei bis vier Monate abzukürzen, so verspreche ich mir davon die beste Wirkung.«

»Ich werde sofort Meredith und ein paar andere Schriftsteller aufsuchen«, sagte ich zu ihm, »wie viele Namen soll ich beschaffen?

»Wenn Sie Meredith dafür gewinnen«, erwiderte er, »sind nicht viel andere erforderlich. Ein Dutzend ist genug, oder wenn Ihnen das zuviel erscheint, genügt eine kleinere Zahl.«

»Ich glaube nicht, daß es irgendwelche Schwierigkeiten geben wird«, erwiderte ich, »aber ich werde Sie von allem benachrichtigen.«

»Sie werden es mühseliger finden, als Sie glauben«, sagte er zum Schluß, »aber wenn Sie ein bis zwei berühmte Namen dafür gewinnen, werden die anderen vielleicht dem Beispiel folgen. Ein bis zwei gute Namen werden Ihnen die Sache jedenfalls erleichtern.«

Natürlich dankte ich ihm für seine Güte und ging vollkommen befriedigt von dannen. Ich hatte mir noch nie eine Aufgabe gestellt, die leichter zu sein schien. Denn Meredith konnte doch nicht unbarmherziger sein als eine königliche Kommission. So ging ich denn in mein Redaktionszimmer im Hause der »Saturday Review« zurück und nahm den Bericht der königlichen Kommission über diese zweijährige Zuchthausstrafe nebst Zwangsarbeit zur Hand. Die Kommission befürwortete, sie wegen allzu großer Strenge aus dem Gesetzbuch zu streichen. Ich entwarf nun ein kleines, möglichst harmloses Bittgesuch:

»In Anbetracht der Tatsache, daß eine königliche Kommission die zweijährige Zuchthausstrafe mit Zwangsarbeit wegen allzu großer Strenge verworfen hat, und in Berücksichtigung des Umstandes, daß Mr. Wilde sich durch seine literarischen Leistungen hervorgetan hat und, wie wir in Erfahrung gebracht haben, jetzt gesundheitlich leidet, bitten die Unterzeichneten, … usw.«

Ich ließ diesen Entwurf drucken und wandte mich schriftlich an Meredith mit der Frage, wann er mich in dieser Angelegenheit empfangen könnte. Denn ich wollte seine Unterschrift als erste unter das Gesuch drucken lassen und es dann weitergeben. Zu meiner Überraschung erhielt ich keine umgehende Antwort von Meredith, und als ich ihn mahnte und ihm die Tatsachen auseinandersetzte, schrieb er mir, daß er meinem Wunsch nicht entsprechen könnte. Ich beantwortete seinen Brief und bat ihn, mich in dieser Angelegenheit zu empfangen. Aber zum erstenmal in meinem Leben lehnte er meinen Besuch ab und schrieb mir, daß keine noch so dringende Vorstellung ihn von seinem Entschluß abbringen würde, und es daher nur für beide Teile peinlich wäre, in Unstimmigkeit zu kommen.

Dieses Verhalten von Merediths Seite war die größte Überraschung, die ich je erlebt habe. Ich kannte seine Dichtungen ziemlich genau und wußte, wie streng er jede sinnliche Schwäche beurteilte, vielleicht weil er sich selbst vor dieser Fallgrube fürchtete. Ich wußte auch, welch eine Kämpfernatur er im Grunde seines Herzens war und wie er die männlichen Tugenden verehrte. Aber ich glaubte, den Mann zu kennen, – seine zarte Herzensgüte, den Born des Mitleids in seiner Brust, und ich war überzeugt, daß ich immer auf ihn rechnen konnte, wenn es sich um ein Werk menschlicher Barmherzigkeit oder Großmut handelte. Aber nein, er war unzugänglich und hart. Erst viel später hat er mir erzählt, daß er eine ziemlich geringe Meinung von Oscar Wildes Begabung, überdies eine gefühlsmäßige, tief eingewurzelte Verachtung für sein prahlerisches Auftreten und einen bedingungslosen Abscheu vor seiner Unsittlichkeit empfand.

»Diese gemeine, sinnliche Zügellosigkeit stellt das Uhrwerk der Kultur zurück und dürfte nicht verziehen werden«, sagte er zu mir.

Nicht um alles in der Welt hätte ich Meredith das jemals verzeihen können, – und er hat für mich auch später nie wieder eine Rolle gespielt. Er war mir stets als Bannerträger in dem ewigen Kampfe erschienen, als Heerführer im Befreiungskrieg der Menschheit, und nun sah ich, daß er mit einem anderen Menschen kein Erbarmen hatte, der auf seiner Seite in dem großen Ringen verwundet worden war. Ich fand es entsetzlich. Gewiß war Wilde nicht im Kampfe für uns verwundet worden; gewiß hatte er seinen Posten verlassen und war zu Schaden gekommen, wie es wohl einem Trinker ergehen kann. Aber letzten Endes hatte er doch auf der richtigen Seite gekämpft; er war eine anregende, geistig einflußreiche Persönlichkeit gewesen, und es war furchtbar, ihn am Straßenrande liegen und ohne Mitgefühl verbluten zu lassen. Es war empörend grausam! Der bedeutendste Engländer seines Zeitalters nicht einmal fähig, Christi Vorbild zu verstehen, geschweige denn seine hohe Stufe zu erklimmen!

Merediths Ablehnung verletzte mich nicht nur, sondern vernichtete fast meine Hoffnung, obwohl sie mich in meinem Entschluß nicht wankend machte. Ich bedurfte einer Dekorationsfigur für mein Bittgesuch und konnte die von mir gewählte Dekorationsfigur nicht für meine Sache gewinnen. Und so fing ich an, zu staunen und zu zweifeln. Zunächst wandte ich mich nun an einen ganz anders gearteten Mann, den verstorbenen Professor Churton Collins, meinen besonderen Freund, der trotz einer fast pedantischen Strenge der Gesinnung und des Wesens in seiner Tiefe eine eigenartige Quelle verständnisvollen Wohlwollens barg – ein kleines, stilles Wasser reiner Liebe für die von ihm bewunderten Dichter und Schriftsteller. Ich lud ihn zum Abendessen ein und bat ihn, mein Gesuch zu unterzeichnen. Ich erhielt zwar auch einen ablehnenden Bescheid, aber aus anderen Gründen als in Merediths Fall.

»Selbstverständlich müßte Wilde aus dem Gefängnis heraus«, sagte er, »der Urteilsspruch war barbarisch und zeugte von erbittertem Vorurteil. Aber ich habe Kinder und muß an mein eigenes Fortkommen in der Welt denken. Und wenn ich das unterzeichnete, würde ich über denselben Kamm geschoren werden wie Wilde. Das kann ich mir nicht leisten. Wenn er wirklich ein großer Mann wäre, würde ich es wahrscheinlich tun, aber ich kann mich Ihrem günstigen Urteil über ihn nicht anschließen. Ich glaube nicht, daß ich dazu berufen bin, der englischen Katze zu seinem Schutz eine Schelle umzuhängen Anspielung auf eine Fabel, in der erzählt wird, daß die Mäuse beschließen, zu ihrer Sicherheit der Katze eine Schelle umzuhängen., denn sie hat viele und lauter scharfe Krallen.«

Aber sobald er einsah, daß dieser Standpunkt seiner unwürdig war, nahm er eine andere Haltung an:

»Wenn Sie berechtigt wären, zu mir zu kommen, würde ich es tun, aber wer bin ich denn? Weshalb wenden Sie sich nicht an Meredith, Swinburne oder Hardy?«

So mußte ich auf den Professor ebenso wie auf den Dichter verzichten. Dann klopfte ich der Reihe nach an sehr viele Türen, aber alles war vergebens. Keiner wollte sich mißliebig machen. Der eine, der später berühmt geworden ist, erklärte mir, daß er keine gesellschaftliche Stellung hätte und daß sein Name für den vorliegenden Zweck zu unbedeutend wäre. Andere ließen meine Briefe unbeantwortet. Wieder ein anderer sandte mir nur eine Empfangsbestätigung mit dem Bemerken, daß es ihm zwar sehr leid täte, aber die öffentliche Meinung wäre gegen Mr. Wilde. Und so erhielt ich von allen Seiten – samt und sonders Ausreden …

Eines Tages war Professor Tyrrell vom Trinity College in Dublin zufällig in meinem Redaktionszimmer, während ich den Unterschied zwischen französischen und englischen Literaten im Lichte dieser Vorkommnisse zur Sprache brachte. In Frankreich herrscht unter den Schriftstellern ein anerkannter »esprit de corps«, der sie zwingt, zusammenzuhalten. Als Zola z. B. wegen seines Romans »Nana« mit einer öffentlichen Anklage bedroht war, ergriff ein Dutzend Männer, wie Cherbuliez, Feuillet und der jüngere Dumas, trotzdem sein Werk ihnen zuwider war und sie es für sensationell, kitschig und sogar für unsittlich hielten, sofort für ihn Partei. Sie erklärten, daß Polizeibeamte keine Kunstrichter wären und einen ernsten Arbeiter in Ruhe lassen sollten. Alle diese Franzosen, die zwar Zolas Werke mißbilligten und glaubten, daß er seine Beliebtheit durch eine Wirkung auf die niederen Instinkte erzielte, erkannten dennoch an, daß er eine literarische Macht war, und standen ihm, trotz ihrer eigenen Veranlagung und Vorurteile, entschlossen zur Seite. Aber in England ist das ganze Gefühlsleben selbstsüchtiger. Jeder hat seine eigennützigen, elenden persönlichen Interessen im Auge und ist recht froh, wenn ein Liebling der Gesellschaft entgleist; da wird keine Hand gerührt, um ihm zu helfen. Bei diesen Worten unterbrach Tyrrell plötzlich meine Darlegungen mit der Bemerkung:

»Ich weiß nicht, ob mein Name Ihnen irgend etwas nützen kann, aber ich stimme Ihren Worten vollkommen bei, und mein Name könnte mit Churton Collins' zusammen aufgeführt werden, obwohl ich selbstverständlich kein Recht habe, die Literatur zu vertreten.« Und ohne weitere Umstände unterzeichnete er das Gesuch mit dem vollen Titel: »Königlicher Professor der griechischen Sprache am Trinity College zu Dublin.«

»Wenn Sie Oscar das nächste Mal sehen«, fuhr er fort, »so sagen Sie ihm bitte, daß wir uns nach ihm erkundigt haben, meine Frau und ich. Wir bewahren ihm beide ein dankbares Andenken, denn er war überaus geistreich in Wort und Schrift und noch dazu ein ganz reizender Kerl. Hol' der Teufel diese ganze englische Puritanerwirtschaft!«

Das Leben in Irland trägt an sich schon dazu bei, einen Engländer menschenfreundlicher zu machen; aber dieser eine Name genügte noch nicht, und Tyrrell war der einzige, den ich für meine Sache gewinnen konnte. In meiner Verzweiflung und da ich wußte, daß George Wyndham eine Vorliebe für Oscar gehabt und seine große Begabung bewundert hatte, forderte ich ihn zum Mittagessen im Savoy Hotel auf, trug ihm die Angelegenheit vor, bat ihn, seinen Namen dafür herzugeben, und erhielt eine Ablehnung. Da ich sehr betroffen war, führte er zu seiner Entschuldigung an, daß er – sobald ihm die Gerüchte über Oscars vertraulichen Umgang mit Bosie Douglas zu Ohren gekommen waren – Oscar gefragt hatte, ob etwas Wahres an diesen ehrenrührigen Geschichten sei.

»Sie wissen«, fuhr er fort, »daß Bosie nebenbei mit mir verwandt ist, und so hatte ich ein Recht zu dieser Frage. Darauf gab mir Oscar sein Ehrenwort, daß es sich nur um rein freundschaftliche Beziehungen zwischen ihnen handelte. Er hat mich belogen, und das kann ich ihm nie vergeben.«

Ein Politiker, der nicht imstande ist, eine Lüge zu verzeihen! – da kann man wohl die olympischen Götter spöttisch lachen hören? Ich hatte keine Antwort auf diesen erbärmlichen, gekünstelten Unsinn. Nach Politikerart zeigte mir Wyndham, von welcher Seite der Wind der Volksstimmung wehte, und ich sah ein, daß meine Bemühungen fruchtlos waren.

Unter den englischen Literaten gibt es keine Solidarität. Sie halten tatsächlich weniger zusammen als irgendein anderer Stand, und aus freien Stücken hatte kein einziger von ihnen den Wunsch, einem verunglückten Mitglied ihrer Herde zu Hilfe zu kommen. So mußte ich denn Sir Ruggles Brise meinen Mißerfolg berichten.

Später habe ich erfahren, daß es mir vielleicht geglückt wäre, wenn ich mich zuerst an Thomas Hardy gewendet hätte. Ich kannte Hardy, ohne seine Begabung sonderlich zu bewerten. So darf ich wohl annehmen, daß es mir vielleicht teilweise geglückt wäre, wenn ich nicht anderes zu tun gehabt hätte. Aber gerade in diesen beiden Jahren war ich durch Arbeit und Sorgen überaus in Anspruch genommen: die Sturmwolken in Südafrika wurden immer düsterer, und meine Stellungnahme zu den südafrikanischen Angelegenheiten war in London äußerst mißliebig. Meines Erachtens war es von lebenswichtiger Bedeutung, England vor einem Kriege gegen die Buren zurückzuhalten. So mußte ich meine Bemühungen, einen Straferlaß für Oscar zu erwirken, einstellen und mich damit trösten, daß Sir Ruggles Brise mir für ihn die denkbar rücksichtsvollste Behandlung zugesagt hatte.

Dennoch hatte meine Fürsprache eine gute Wirkung gezeitigt.

Wir haben von Oscar selbst gehört, wieviel ihm die Güte, die ihm in dem letzten halben Jahre seines Gefängnislebens erwiesen wurde, in Wahrheit bedeutet hat. Er schreibt in »De Profundis«, daß er während der ersten Periode seiner Gefangenschaft nur die Hände in ohnmächtiger Verzweiflung ringen und schreien konnte: »Was für ein Ende, was für ein entsetzliches Ende!« Aber als der neue Geist der Güte sich ihm nahte, da konnte er mit aufrichtiger Überzeugung sprechen: »Was für ein Anfang, was für ein wunderbarer Anfang!« Er faßt das alles in die Worte zusammen:

»Wäre ich nach achtzehn Monaten auf freien Fuß gesetzt worden, wie ich es erhoffte, so hätte ich dieses Gefängnis voller Ekel und alle seine Beamten mit einem so bitteren Haß verlassen, daß mein ganzes Leben dadurch vergiftet worden wäre. Ich habe noch ein weiteres halbes Jahr in Gefangenschaft verbracht, aber während dieser ganzen Zeit hat die Menschenfreundlichkeit bei uns geweilt. Und wenn ich nun herauskomme, werde ich stets der großen Freundlichkeiten gedenken, die mir hier fast von allen Seiten zuteil geworden sind. Und an meinem Entlassungstage werde ich vielen Leuten vieles zu danken haben und sie bitten, auch meiner zu gedenken.«

Das ist der Mann, zu dem Justice Wills gesagt hat, daß er für jede edle Regung unempfänglich wäre.

Erst nach einiger Zeit besuchte ich Oscar von neuem. Er hatte sich über die Maßen verändert, er war wohlgemut und heiter, und ich fand sein Aussehen besser denn je. Offenbar war ihm die strenge Enthaltsamkeit des Gefängnislebens zuträglich. Mit einem Scherzwort empfing er mich:

»Du bist es, Frank!« rief er und stellte sich überrascht, »bleibst doch immer ein eigenartiger Kauz! Du kommst aus eigenem Antrieb ins Gefängnis zurück!«

Dann erklärte er mir, daß der neue Gefängnisdirektor, Major Nelson, in jeder Weise freundlich zu ihm gewesen war und daß er seit Monaten keine Strafe erhalten hatte. »Ach, Frank, und dann diese Wonne, nach Belieben lesen und nach Gefallen schreiben zu dürfen, – dieses Glück wieder zu leben!« Er war so unendlich zu seinem Vorteil verwandelt, daß seine Worte mich entzückten.

»Was hast du denn für Bücher?« fragte ich ihn.

»Ich dachte, daß mir ›König Ödipus‹ zusagen würde«, erwiderte er in ernstem Ton, »aber ich konnte ihn nicht lesen. Das kam mir alles so unwirklich vor. Dann habe ich an den heiligen Augustinus gedacht, aber damit war's noch schlimmer. Die Kirchenväter waren mir noch fremder; es ist ihnen allen so leicht geworden, Buße zu tun und ein anderes Leben zu beginnen. Mir scheint das gar nicht so leicht zu sein. Endlich bekam ich Dante in die Hände, das war's, was mir nottat. Ich habe das ›Purgatorio‹ von Anfang bis zu Ende gelesen und mich gezwungen, es italienisch zu lesen, um den vollen Reiz und die volle Bedeutung zu erfassen. Auch Dante ist in der Tiefe gewesen und hat die bittere Hefe der Verzweiflung gekostet. Ich möchte eine kleine Bibliothek haben, wenn ich hier herauskomme, eine aus zwanzig Werken bestehende Bibliothek. Ob du mir wohl behilflich sein wirst, sie mir zu besorgen? Ich möchte Flaubert, Stevenson, Baudelaire, Maeterlinck, den älteren Dumas, Keats, Marlowe, Chatterton, Anatole France, Théophile Gautier, Dante, Goethe, Merediths Gedichte und seinen ›Egoisten‹ haben und außerdem noch das ›Hohe Lied‹ Salomonis, das Buch Hiob und selbstverständlich die Evangelien.«

»Mit dem größten Vergnügen werde ich dir die Bücher besorgen, wenn du mir das Verzeichnis schickst«, sagte ich. »Übrigens habe ich gehört, daß du dich mit deiner Frau ausgesöhnt hast, ist es wahr? Ich würde mich freuen, wenn es wirklich wahr wäre.«

»Ich hoffe, es wird alles in Ordnung kommen«, sagte er in ernstem Ton, »sie ist sehr lieb und gut. Vermutlich hast du gehört«, fuhr er fort, »daß meine Mutter während meines Hierseins gestorben ist; ihr Tod hinterläßt eine große Lücke in meinem Leben … Ich habe meine Mutter immer sehr bewundert und geliebt. Sie war eine bedeutende Frau, eine reine Idealistin, Frank. Mein Vater hat einmal in Dublin große Unannehmlichkeiten gehabt, hast du vielleicht davon gehört?«

»Ja, gewiß«, sagte ich, »ich habe den Prozeß gelesen« (der im ersten Kapitel dieses Buches geschildert ist).

»Nun, Frank, meine Mutter ist im Gerichtssaal aufgestanden und hat mit vollkommener Gelassenheit, mit vollkommenem Vertrauen und ohne eine Spur der üblichen weiblichen Eifersucht zu seinen Gunsten ausgesagt. Sie mochte nicht glauben, daß der Mann, den sie liebte, würdelos sein könnte, und ihre Überzeugung war so fest, daß sie sich auf die Geschworenen übertrug. Ihr Vertrauen war so vornehm, daß auch sie davon durchdrungen wurden und ihn freigesprochen haben Ich führe Oscars Lesart des Gerichtsverfahrens an, lediglich um zu zeigen, wie seine romantische Phantasie die unangenehme Wirklichkeit zur freundlichen Fabel umwandelte. Oscar konnte die Verhandlung nur vom Hörensagen kennen, und vielleicht hatte seine Mutter ihn darüber aufgeklärt, – was die Geschichte noch interessanter macht.. Das war doch etwas Außergewöhnliches, nicht wahr? Sie war auch über den Wahrspruch gar nicht im Zweifel. Nur vornehme Seelen besitzen diese Sicherheit und Gelassenheit …

»Als mein Vater starb, war es ganz ebenso. Ich sehe sie stets vor mir, wie sie mit einem dunklen Schleiertuch auf dem Kopf ganz stumm, ganz unbewegt da an seinem Bette saß. Durch nichts ließ sie sich ihren Optimismus trüben. Sie glaubte, daß wir nur Gutes erleben können; und als der Tod sich dem Manne nahte, den sie liebte, fügte sie sich mit derselben Gelassenheit, und als meine Schwester starb, trug sie es in derselben hoheitsvollen Art. Meine Schwester war ein wunderbares Geschöpf, so heiter und hochgesinnt, – ich pflegte sie den ›verkörperten Sonnenschein‹ zu nennen.

»Als sie uns genommen wurde, glaubte meine Mutter eben nur, daß es so für ihr Kind am besten wäre. Die Frauen haben bei weitem mehr Mut als die Männer, findest du nicht auch? Ich habe nie einen Menschen gekannt, der eine so vollkommene Gläubigkeit besaß wie meine Mutter. Sie war eine der großen Persönlichkeiten in dieser Welt. Ich darf gar nicht daran denken, wie sie durch meine Verurteilung gelitten haben muß: ich bin überzeugt, daß sie Todesqualen erduldet hat. Denn sie hatte Großes von mir erhofft. Als ihr gesagt wurde, daß sie sterben müßte und mich nicht sehen konnte, denn es wurde mir nicht gestattet, zu ihr zu gehen In Frankreich wird selbst einem Mörder die Genehmigung erteilt, seine sterbende Mutter zu besuchen. Die Engländer behaupten frömmer zu sein als die Franzosen, aber sicherlich sind sie weniger menschlich., da sprach sie die Worte: ›Möge ihm das Gefängnis zum Heile werden‹, und wandte das Gesicht zur Wand.

»Sie dachte ebenso über das Gefängnis wie du, Frank, und ich glaube wirklich, daß ihr beide recht habt; es ist mir zum Heile geworden. Ich verstehe jetzt manches, was ich früher nicht verstanden habe. Ich verstehe, was Mitleid bedeutet. Ich habe gedacht, daß ein Kunstwerk schön und freudebringend sein müsse. Jetzt aber verstehe ich, daß dieses Ideal unzulänglich und sogar seicht ist. Ein Kunstwerk muß auf Mitleid gegründet sein; ein Buch oder ein Gedicht, das kein Mitleid in sich trägt, sollte lieber nicht geschrieben werden …

»Wenn ich hier herauskomme, werde ich sehr verlassen sein, und ich kann die Verlassenheit und Einsamkeit nicht aushalten, sie ist mir unerträglich und verhaßt, ich habe sie zu gründlich kennen gelernt …

»Weißt du, Frank, ich sage mich von der Vergangenheit vollkommen los. Ich werde die Geschichte meiner Vergangenheit schreiben und berichten, wie ich in Versuchung geführt wurde und der Sünde verfallen bin, wie ich von dem Manne, den ich liebte, in seinen furchtbaren Zwist hineingerissen, zum Kampf gegen seinen Vater getrieben und dann im Stich gelassen worden bin, um allein zu büßen …

»Das ist die Geschichte, die ich jetzt erzählen werde. Das ist das Buch »De Profundis«. Was Oscar als den »schrecklichen Teil« des Buches bezeichnet, ist die gegen Lord Alfred Douglas gerichtete Anklage, die später vor Gericht verlesen worden ist. vom Mitleid und von der Liebe, das ich jetzt schreibe – ein schreckliches Buch …

»Ob du es wohl veröffentlichen würdest, Frank? Ich möchte gern, daß es in der ›Saturday Review‹ erscheint.«

»Ich würde mit Vergnügen jede Schrift von dir veröffentlichen«, erwiderte ich, »und mit noch größerer Freude ein Werk, welches den Beweis erbringt, daß du endlich das bessere Teil erwählt hast und ein neues Leben beginnst. Ich würde dir auch den vollen Preis bezahlen, den ich dafür erziele; jedenfalls viel mehr, als ich Bernard Shaw oder irgendeinem anderen Verfasser zahle.« Ich sagte das absichtlich, um ihm Mut zu machen.

»Davon bin ich überzeugt«, lautete seine Antwort. »Ich werde dir das Buch schicken, sobald ich es beendigt habe, und ich glaube, daß es dir gefallen wird.« – Damit war für den Augenblick die Sache erledigt.

Endlich hatte ich das sichere Gefühl, daß alles sich für Oscar zum Guten wenden würde. Und mußte ich nicht dieses sichere Gefühl haben? Sein Geist war fruchtbarer und kraftvoller denn je zuvor; und er hatte sich von der ganzen finsteren Vergangenheit losgesagt. Ich war überglücklich in dem Glauben, daß er noch Größeres leisten würde, als er je geleistet hatte, und auch er war von diesem Glauben und diesem festen Willen beseelt. Das kann jeder erkennen, der die Worte liest, die er damals im Gefängnis geschrieben hat:

»Es bleibt mir noch so viel zu tun übrig, daß ich es für eine furchtbare Tragödie halten würde, wenn ich sterben sollte, ehe es mir vergönnt ist, wenigstens einen kleinen Teil zur Ausführung zu bringen. Ich sehe neue Entwicklungsmöglichkeiten in der Kunst und im Leben, von denen jede eine neue Form der Vollendung ist. Ich habe den sehnlichen Wunsch, zu leben, um das zu erforschen, was nichts Geringeres für mich ist als eine neue Welt. Wollt ihr wissen, was diese neue Welt ist? Ich glaube, ihr könnt es erraten. Es ist die Welt, in der ich gelebt habe. Das Leid also und alles, was es uns lehrt, ist meine neue Welt …

»Ich pflegte früher mein ganzes Leben dem Genuß zu widmen. Ich habe das Leiden und den Schmerz in jeglicher Gestalt gemieden. Beides war mir verhaßt …«

Durch die Kerkergitter hatte Oscar allmählich die Einsicht gewonnen, wie er sich geirrt hatte, wieviel bedeutsamer und heilsamer das Leiden für die Seele ist als der Genuß.

»Aus dem Schmerz sind die Welten erschaffen worden, und die Geburt eines Kindes oder eines Sternes bereitet Weh.«


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