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II
Oscar Wildes Schulzeit

Wildes hatten drei Kinder – zwei Söhne und eine Tochter. Der Älteste wurde im Jahre 1852 nach einjähriger Ehe geboren und nach seinem Vater William Charles Kingsbury Wills genannt. Der zweite Sohn wurde nach zweijähriger Pause im Jahre 1854 geboren; die Namen, die er erhielt, scheinen die nationalistische Gesinnung und den nationalistischen Stolz seiner Mutter zu bekunden. Er wurde Oscar Fingal O'Flahertie Wills Wilde genannt; aber nur in der allerersten Jugend scheint ihm diese prunkvolle Namenliste unangenehm gewesen zu sein. In der Schule verheimlichte er den Fingal, und als junger Mann hielt er es für ratsam, den O'Flahertie zu unterdrücken.

Oscar wurde in den Kinder- und ersten Knabenjahren für weniger rege, gewinnend und hübsch gehalten als sein Bruder Willie. Beide Knaben genossen den besten Schulunterricht, den es damals gab. Sie wurden als Pensionäre nach Enniskillen auf die Portora-Schule, eine der vier königlichen Schulen in Irland, geschickt. Oscar kam 1864 als Neunjähriger, zwei Jahre nach seinem Bruder, dorthin, wo er sieben Jahre verblieb, bis er als kaum Siebzehnjähriger ein Stipendium für das Trinity College in Dublin erhielt.

Die bisher zusammengebrachten und veröffentlichten Daten aus Oscars Schulzeit sind überaus spärlich und nichtssagend. Es ist ein Glück für meine Leser, daß ich von Sir Edward Sullivan, der sowohl die Schule als das College gleichzeitig mit Oscar besuchte, eine äußerst lebendige und interessante Federzeichnung des Knaben erhalten habe, eins jener überraschenden Meisterwerke bildhafter Kunst, wie es nur durch die ausdrucksfähige Zuneigung des Knabenalters und den vertrauten Verkehr gemeinsam verlebter Jahre gestaltet werden kann. Im späteren Leben ist nur die Liebe imstande, ein solches Wunder der Darstellungskunst zu vollbringen. Zu meiner großen Freude darf ich dieses realistische Miniaturbild in des Verfassers eigenen Worten wiedergeben:

»Ich lernte Oscar Wilde zu Anfang des Jahres 1868 auf der königlichen Portora-Schule kennen, als er dreizehn bis vierzehn Jahre alt war. Sein langes, glattes blondes Haar gab seiner Erscheinung ein charakteristisches Gepräge. Er hatte damals ein überaus kindliches Wesen und war außerhalb des Schulzimmers bis zur Rastlosigkeit beweglich, eine Eigenschaft, die noch mehrere Jahre anhielt. Dennoch nahm er niemals an den Schülerspielen teil. Man sah ihn wohl zuweilen in einem der Schulboote auf dem Loch Erne; aber auch zum Rudern hatte er kein Geschick.

»Schon als Schüler war er ein vorzüglicher Plauderer, sein Schilderungstalent ging weit über das übliche Maß hinaus, und seine humoristisch-übertriebene Darstellung mancher Schulereignisse wirkte stets höchst belustigend.

»Die Knaben pflegten besonders gern gegen Abend zur Winterszeit an einem Ofen in der sogenannten »Stone Hall« zu sitzen und zu schwatzen. Hier war Oscar in seinem Element, trotzdem sein Bruder Willie es damals vielleicht noch besser verstand, seine Geschichten vorzutragen.

»Oscar brachte oft Abwechslung in die Unterhaltung, wenn er in äußerst possierlicher Weise allerlei Heiligenfiguren in den steifen Stellungen nachmachte, die sie auf alten Glasbildern zur Schau tragen; er besaß eine sehr große Geschicklichkeit, die Glieder in unheimlicher Weise zu verrenken und zu krümmen. (Wie ich höre, hatte er diese Gewandtheit von seinem Vater Sir William Wilde geerbt.) Man darf jedoch nicht glauben, daß diesen Vorführungen irgendeine unehrerbietige Absicht zugrunde lag.

»Ich entsinne mich, daß bei einer dieser Zusammenkünfte, etwa im Jahre 1870, eine Debatte über einen kirchlichen Strafprozeß stattfand, der damals erhebliches Aufsehen erregte. Oscar war zugegen und von dem geheimnisvollen Gepräge des Court of Arches Court of Arches = der unter dem Erzbischof von Canterbury stehende geistliche Appellhof. ganz erfüllt; er erzählte uns, daß er sich für sein künftiges Leben nichts sehnlicher wünsche, als der Held einer solchen ›cause célèbre‹ zu sein und als Angeklagter in einem von der Krone geführten Prozeß ›Regina versus Wilde‹ der Nachwelt überliefert zu werden. Auf der Schule wurde er fast stets ›Oscar‹ genannt, – aber er hatte auch einen Spitznamen, den er sehr übelnahm. Wenn seine Mitschüler ihn ärgern wollten, nannten sie ihn ›Grey-Crow‹ (graue Krähe), ein Name, dessen Herkunft von einer im oberen Loch Erne gelegenen Insel, die mit dem Boot von der Schule aus leicht zu erreichen war, nicht ganz aufgeklärt ist.

»Kurze Zeit vor seinem Abgang aus der Schule erfuhren die Knaben seinen vollen Namen: Oscar Fingal O'Flahertie Wills Wilde. Gerade am Schluß seiner Schulzeit erhielt er den von Carpenter gestifteten Preis für das griechische Testament und wurde an dem Tage, an dem die Preisverteilung stattfand, von Dr. Steele mit allen seinen Namen auf das Podium gerufen – zu seinem großen Arger, da er infolgedessen von seinen Mitschülern viele Neckereien über sich ergehen lassen mußte.

»Er war stets großherzig, freundlich und gutmütig. Ich entsinne mich, daß wir beide bei einem sogenannten ›Turnier‹, das in einem der Klassenzimmer stattfand, als konkurrierende Jockeis auf den Rücken von zwei größeren Knaben ritten. Oscar wurde mit seinem Pferde zu Boden geworfen und trug einen Armbruch davon. Aber da er wußte, daß es sich nur um einen unglücklichen Zufall handelte, ließ er unsere freundschaftlichen Beziehungen unverändert bestehen.

»Er hatte, soviel ich weiß, auf der Schule keine besonders vertrauten Freunde. Ich stand wohl während der ganzen Zeit ebensogut mit ihm wie die anderen, obwohl ich dem nächstfolgenden Jahrgang angehörte …

»Willie Wilde war nie sehr innig zu ihm und behandelte ihn damals stets als jüngeren Bruder …

»Als wir beide in der obersten Klasse waren, gingen wir eines Nachmittags mit zwei anderen Knaben nach Enniskillen und gesellten uns zu einer Menschengruppe, die sich um einen Straßenredner versammelt hatte. Einer von uns trat Spaßes halber näher an den Sprechenden heran, schlug ihm mit dem Stock den Hut vom Kopfe und rannte dann heimwärts, während die drei Kameraden ihm folgten. Mehrere von den Zuhörern, welche diese Dreistigkeit übel vermerkten, jagten uns nach. Und so geschah es, daß Oscar im eiligen Lauf mit einem alten Krüppel zusammenstieß und ihn zu Boden warf – ein Ereignis, das, wie es sich von selbst versteht, den Mitschülern berichtet wurde, als wir unversehrt nach Hause gelangten. Oscar soll dann später erzählt haben, daß ihm ein grimmiger Riese in den Weg getreten sei, mit dem er viele Runden ausgefochten und den er schließlich tot auf der Landstraße zurückgelassen habe, nachdem er wahre Wunder an Tapferkeit gegen seinen furchtbaren Gegner vollbracht habe. Die romantische Einbildungskraft war bereits in jener Schulzeit stark bei ihm entwickelt. Aber wenn er eine solche Geschichte erzählte, so ließ er doch immer gewissermaßen durchblicken, daß er wohl wußte, seine Zuhörer glaubten nicht so recht daran. Es war eben nur dasselbe in so humoristischer Weise betriebene Fabulieren, das er durch die beiden männlichen Hauptfiguren seines Lustspiels ›The Importance of being Earnest‹ zum Ausdruck bringt …

»Er interessierte sich weder auf der Schule noch auf dem College jemals für Mathematik. Über die Naturwissenschaften machte er sich lustig, und für einen Mathematik- oder Physiklehrer hatte er nie ein gutes Wort übrig. Aber er äußerte sich niemals gehässig oder boshaft über sie, noch über irgendeinen anderen Menschen.

»Während der Schulzeit machten Disraelis Werke unter der gesamten englischen Romanliteratur den größten Eindruck auf ihn. Über Dickens als Romanschriftsteller urteilte er geringschätzig …

»Die alten Klassiker nahmen während seiner späteren Studienzeit fast seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch, und die glatte Formvollendung seiner mündlichen Übersetzungen beim Unterricht – gleichermaßen im Thukydides, im Plato oder Virgil – machte einen nachhaltigen Eindruck.«

Diese sogenannte Photographie, die Oscar als Schüler darstellt, ist überraschend scharf und lebenswahr. Aber ich besitze noch ein zweites Bild, das ein anderer seiner Altersgenossen, der in der Folgezeit als klassischer Gelehrter am Trinity College rühmlichst bekannt geworden ist, von ihm entworfen hat. Er bestätigt die allgemeinen, von Sir Edward Sullivan geschilderten Züge, legt aber gewissen geistigen Eigenschaften, die später zur vollen Entfaltung kamen, größere Bedeutung bei.

Dieser Beobachter, der seinen Namen nicht genannt haben will, schreibt:

»Oscar besaß einen prickelnden Witz, und fast alle Spitznamen in der Schule waren seine Erfindung. Was seine klassische Bildung anbelangt, war er auf literarischem Gebiet sehr gut beschlagen und hatte für die Dichtkunst besondere Neigung.

»Es fiel auf, daß er sich stets mit Vorliebe die großgedruckten Prachtausgaben der klassischen Werke verschaffte … Er legte mehr Wert auf seine Kleidung als alle übrigen Knaben.

»Er war sehr belesen und las in der Tat mit großer Geschwindigkeit; aber ich konnte nie ausfindig machen, wieviel er sich wirklich aneignete. Musikalisches Talent besaß er nicht.

»Er galt für einen ziemlich guten Kenner der klassischen Literatur, wenn auch für nichts Außergewöhnliches. Im letzten Schuljahr bereitete er jedoch allen bei der Prüfung zur Preismedaille für klassische Literatur eine große Überraschung, da er uns im mündlichen Examen über das griechische Drama ›Agamemnon‹ mühelos überflügelte.«

Ich möchte nun versuchen, einen oder zwei Züge auf diesen sogenannten Photographien besonders zur Geltung zu bringen, um dann das ganze Bild durch einen Beitrag zu vollenden, den mir Oscar selbst geliefert hat. Die Lust am humoristischen Fabulieren und die Liebenswürdigkeit seines Gemüts, die Sir Edward Sullivan erwähnt hat, waren, solange Oscar lebte, seine kennzeichnenden Wesenszüge. Auch seine Schwäche für auserlesene Kleidung und seine Freude an prächtig ausgestatteten Büchern, seine Liebe zur Literatur »mit besonderer Neigung zur Dichtkunst« – das alles waren Eigenschaften, die ihn bis an sein Ende auszeichneten.

»Bis zu meinem letzten Schuljahr«, sagte er einmal zu mir, »konnte ich es mit dem Ansehen meines Bruders Willie in keiner Weise aufnehmen. Ich las zu viel englische Romane, zu viel Gedichte, verträumte zu viel Zeit, um meine Schulaufgaben zu bewältigen.

»Ich eignete mir nur Kenntnisse an, wenn ich Freude an der Sache hatte, wie es wohl vermutlich immer der Fall ist.

»Fast sechzehn Jahre war ich alt, als mein Verständnis für das Wunder und die Schönheit des Lebens im alten Griechenland erwachte. Da tauchten plötzlich die weißen Gestalten vor mir auf, die purpurfarbene Schatten auf die sonnendurchglühte Palästra warfen: ›Reigen von unbekleideten Jünglingen und Jungfrauen‹ – du entsinnst dich der Worte Gautiers – ›die über einem dunkelblauen Hintergrund schweben wie auf dem Fries vom Parthenon.‹ Aus Liebe zu allen diesen Dingen begann ich eifrig Griechisch zu lesen, und je mehr ich las, desto mehr geriet ich in ihren Bann:

Goldner Stunden hehre Feier
Andachtsvoll wir einst erlebt,
Als der Chor im weißen Schleier
Hauchentfachend uns umschwebt.
Die Kothurne würdig schreiten
Durch der Jamben tiefe Reihn,
Und die Anapäste gleiten
Kraus wie Rauch am Altarschrein.

»Der Direktor hielt mir meinen Bruder stets als Muster vor; aber er mußte doch zugeben, daß ich während des letzten Jahres auf der Portora-Schule erstaunliche Fortschritte gemacht hatte. Damals habe ich den Grundstein zu allem gelegt, was ich an klassischer Bildung besitze.«

Nach Jahren kam es mir einmal in den Sinn, Oscar zu fragen, ob das Pensionsleben in einer großen höheren Schulanstalt nicht viel zur geschlechtlichen Perversität beiträgt.

»Das behaupten alle Engländer«, erwiderte er, »aber ich habe diese Erfahrung nicht gemacht. Ich war sehr kindlich, Frank, und bis über mein sechzehntes Jahr hinaus ein richtiger Junge. Natürlich war ich nach Knabenart sinnlich und neugierig und machte mir die üblichen knabenhaften Vorstellungen, ohne mich ihnen im Übermaß hinzugeben.

»Auf der Portora-Schule hatten neun Zehntel der Jungen nichts anderes im Kopf als Fußball, Kricket und Rudern. Fast alle trieben Sport und nahmen an Wettläufen, Springkünsten und anderen Übungen teil. Aus dem weiblichen Geschlecht schien sich keiner etwas zu machen. Wir waren gesunde junge Barbaren und weiter nichts!«

»Hast du an den Spielen teilgenommen?« fragte ich ihn.

»Nein«, erwiderte Oscar lächelnd, »ich habe mir nie etwas daraus gemacht, Fußtritte zu geben oder zu empfangen.«

»Du hast gewiß mit irgendeinem jüngeren Knaben verkehrt, mit dem du von deinen Träumen und Hoffnungen gesprochen und den du liebgewonnen hast, nicht wahr?«

Diese Frage führte zu einem vertraulichen persönlichen Geständnis, das hier berichtet werden soll.

»Wie sonderbar, daß du das erwähnst«, sagte er. »Da gab es einen Knaben«, und nachdenklich fügte er hinzu: »und einen eigentümlichen Zwischenfall, der sich in meinem letzten Schuljahr ereignete. Der Knabe war ein paar Jahre jünger als ich, und wir waren sehr befreundet. Wir pflegten große Spaziergänge zusammen zu unternehmen, und da fanden meine Erzählungen kein Ende. Ich sagte ihm, was ich getan hätte, wenn ich Alexander gewesen, oder wie ich mich in Athen als König aufgespielt haben würde, wenn ich Alcibiades gewesen wäre. Soweit meine Erinnerung reicht, habe ich mich immer in die Rolle jeder hervorragenden Persönlichkeit hineingedacht, die in meiner Lektüre vorkam. Aber im Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren bemerkte ich etwas verwundert, daß ich mir eher vorstellen konnte, Alcibiades oder Sophokles als Alexander oder Cäsar zu sein. Das Leben in den Büchern war mir interessanter geworden als das wirkliche Leben …

»Mein Freund besaß die wundervolle Eigenschaft, aufmerksam zuzuhören. Da ich immer redete und von mir selbst erzählte, war ich so in Anspruch genommen, daß ich über ihn nur sehr wenig wußte – wenn ich jetzt daran denke, war es merkwürdig wenig. Aber der letzte Zwischenfall in meinem Schulleben bringt mich auf den Gedanken, daß er gewissermaßen ein stummer Dichter war und viel mehr Innerlichkeit besaß, als ich glaubte. Ich sollte damals gerade erst erfahren, daß ich ein Stipendium erhalten hatte und auf das Trinity College kommen würde. Dr. Steele hatte mich in sein Arbeitszimmer rufen lassen, um mir die wichtige Neuigkeit mitzuteilen. Er sagte mir, daß er sich sehr darüber freue, und betonte, daß ich das alles der im letzten Jahre geleisteten angestrengten Arbeit zu verdanken hätte. Die ›angestrengte‹ Arbeit hatte mich sehr interessiert, sonst wäre wohl nicht viel daraus geworden. Ich entsinne mich, daß der Direktor seine Rede mit der Versicherung schloß, daß ich, wenn ich weiter so fleißig wäre wie im letzten Jahre, noch ebenso Gutes leisten könnte wie mein Bruder Willie und der Schule und allen, die mit ihr in Verbindung standen, ebensoviel Ehre machen könnte wie er.

»Ich mußte darüber lächeln, denn obwohl ich Willie gern hatte und wußte, daß er in der klassischen Literatur ziemlich gut bewandert war, habe ich ihn nie und nimmer als ebenbürtigen Nebenbuhler auf geistigem Gebiet betrachtet. Er wußte mit Fußball und Kricket vortrefflich Bescheid und studierte unverdrossen seine Schulbücher, während ich alles las, was mir gefiel, und mir stets einbildete, ›die Krone davonzutragen‹.« Hier lachte er in einer bezaubernden Art, als er in belustigtem Spott seiner Überhebsamkeit gedachte.

»Nur über die Form der ›Krone‹ war ich mir noch nicht ganz einig, Frank. Hätte man mir die päpstliche Tiara angeboten, so wäre das in meinen Augen nur der gebührende Lohn für meine außergewöhnlichen Verdienste gewesen …

»Als ich das Zimmer des Direktors verließ, eilte ich zu meinem Freunde, um ihm die ganze herrliche Neuigkeit zu berichten. Zu meiner Verwunderung blieb er kühl und sagte – nach meiner Meinung – etwas verbittert:

»›Du scheinst froh zu sein, daß du fortgehst?‹

»›Froh, daß ich fortgehe‹, rief ich, ›das will ich wohl meinen! Denk' dir, von hier auf das Trinity College in Dublin zu kommen, – da werde ich doch mit Männern zusammen sein, und nicht mit Knaben. Natürlich bin ich froh, ich bin vor Freude ganz außer mir; es ist der erste Schritt, der nach Oxford und zum Ruhme führt.‹

»›Ich meine nur‹, fuhr mein Kamerad in derselben kühlen Art fort, ›du bist wohl froh, daß du mich verläßt?‹

»Sein Ton verblüffte mich.

»›Du dummer Kerl‹, rief ich aus, ›ganz gewiß nicht; ich bin immer froh, wenn ich mit dir zusammen sein kann. Aber vielleicht kommst du auch aufs Trinity College – nicht wahr?‹

»›Ich fürchte – nein‹, sagte er, ›aber ich werde häufig nach Dublin kommen.‹

»›Dann werden wir uns treffen‹, bemerkte ich. ›Du mußt mich in meiner Wohnung besuchen. Mein Vater wird mir in unserem Hause ein eigenes Zimmer zur Verfügung stellen. Du weißt doch, daß der Merrion Square im vornehmsten Viertel von Dublin liegt. Du mußt mich besuchen.‹

»Er blickte mit sehnsüchtigen, traurigen und bekümmerten Augen zu mir auf. Aber mir winkte die Zukunft, und ich konnte es nicht unterlassen, davon zu sprechen. Ich hielt ja den goldenen Schlüssel zum Wunderland in der Hand und glühte von Wünschen und Hoffnungen.

»Ich entsinne mich, daß mein Freund sehr schweigsam war und meine Rede mit der Frage unterbrach:

»›Wann gehst du fort, Oscar?‹

»›Früh‹, erwiderte ich gedankenlos, oder vielmehr von meinen eigenen Gedanken ganz erfüllt, ›morgen früh, soviel ich weiß, mit dem gewöhnlichen Zuge.‹

»Als ich mich morgens von allen verabschiedet hatte und gerade zum Bahnhof gehen wollte, trat er sehr bleich und merkwürdig ruhig an mich heran:

»›Ich bringe dich zum Bahnhof, Oscar‹, sagte er, ›der Direktor hat es mir erlaubt, als ich ihm erzählte, wie befreundet wir waren.‹

»›Das freut mich‹, rief ich mit bösem Gewissen, denn ich hatte nicht daran gedacht, ihn um seine Begleitung zu bitten. ›Das freut mich sehr, denn du gehörst mit dazu, wenn ich an meine letzten Stunden auf der Schule zurückdenken werde.‹

»Er blickte verstohlen zu mir auf, und dieser Blick überraschte mich, er erinnerte mich an einen Hund, der einen Menschen ansieht. Aber meine eigenen Hoffnungen nahmen mich bald wieder gefangen, und ich weiß nur noch, daß ich über den bittenden Ausdruck in seinem Auge ein dumpfes Staunen empfand.

»Als ich mich auf meinem Platz im Zuge niedergelassen hatte, sagte er mir nicht Lebewohl und ging nicht fort, um mich meinen Träumen zu überlassen, sondern holte mir Zeitungen und allerhand anderes und machte sich etwas zu schaffen, bis der Schaffner kam und sagte:

»›Es ist jetzt Zeit, Herr, daß Sie gehen.‹

»Mir gefiel's, daß er ›Herr‹ zu ihm sagte. Aber zu meiner Verwunderung sprang mein Freund ins Abteil und bemerkte:

»›Schon gut, Schaffner! Ich gehe noch nicht, aber sobald Sie pfeifen, schlüpfe ich hinaus.‹

»Der Schaffner grüßte und entfernte sich. Ich sagte irgend etwas Beliebiges, denn ich war ein bißchen verlegen.

»›Nicht wahr, Oscar, du schreibst mir und erzählst mir alles?‹

»›Gewiß‹, erwiderte ich, ›weißt du, sobald ich mich eingelebt habe; zuerst wird's eine Menge zu tun geben, und ich brenne darauf, alles zu sehen. Ich bin gespannt, wie die Professoren mich behandeln werden. Hoffentlich sind's keine Dummköpfe oder Pedanten; schade, daß nicht alle Professoren Dichter sind …‹ So redete ich lustig darauflos, bis plötzlich der Pfiff ertönte und der Zug sich einen Augenblick später in Bewegung setzte.

»›Nun mußt du gehen‹, sagte ich zu ihm.

»›Ja‹, erwiderte er mit einer merkwürdigen, verschleierten Stimme und hielt die Hand am Türgriff des Abteils. Mit einemmal wandte er sich zu mir und rief:

»›Ach, Oscar!‹ und ehe ich wußte, was geschah, hatte er mein Gesicht mit seinen heißen Händen umfaßt und mich auf den Mund geküßt. Im nächsten Augenblick schlüpfte er aus der Tür und verschwand …

»Ich saß da und war ganz erschüttert. Plötzlich fühlte ich, daß kalte, dicke Tropfen – seine Tränen – über mein Gesicht flossen. Sie machten einen seltsam ergreifenden Eindruck auf mich, und während ich sie trocknete, sagte ich mir in höchster Verwunderung:

»›Das ist Liebe: so hat er's gemeint … Liebe.‹

»Ich zitterte am ganzen Körper. Lange saß ich so, ohne einen Gedanken fassen zu können, von Staunen erfüllt und von Reue bewegt …«


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