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Als Höjbro am Abend nach Hause kam, traf er im Entree schon auf Frau Ihlen, die ihm äußerst niedergeschlagen und mit trauriger Stimme erzählte, was Fredrik passiert war. Jetzt blieb ihm kein anderer Ausweg, als Amerika zu versuchen; wenn er seine Bücher und seinen Arbeitstisch verkaufte, würde er vielleicht genug zur Reise bekommen. Auf jeden Fall würde er zu keinem von seiner Familie gehen, dessen hatte er sich bestimmt geweigert; es würde vielleicht auch nichts genützt haben. Von dem Augenblick an, wo Fredrik Mitarbeiter der Nachrichten geworden, hatten alle Ihlens ihm die größte Kälte gezeigt … Übrigens sei sie jetzt imstande, ihm das lange und große Darlehen, diese anderthalb hundert Kronen zurückzubezahlen; ja, ja, es sei auch nicht zu früh; die Sache hatte sich schon allzu lange hingezogen, er möge nur verzeihen …
Ob sie dies Geld denn jetzt entbehren könne, wo so eingreifende Veränderungen in der Familie bevorstanden?
Ja, sie habe dies Geld gerade zu diesem Zweck bekommen; Charlotte habe es ihr gegeben, Charlotte habe es erspart gehabt … also erspart. Arme Charlotte, sie sei so gut! Sobald sie erfahren, daß die Mutter Höjbro Geld schuldig sei, hatte sie gleich gesagt: das darf nicht sein, nicht einen Tag länger! Nun hatte sie also ihren Willen durchgesetzt. Weiß Gott, was das eigentlich mit Charlotte war; sie hatte den Winter so viel durchzumachen gehabt; sie hatte nie etwas gesagt, aber die Mutter hatte es doch gemerkt. Frau Ihlen war ja nicht blind gewesen; schon seit vielen Wochen hatte Endre Bondesen aufgehört, ins Haus zu kommen, und das hatte wohl etwas zu bedeuten; es war sicher etwas vorgefallen. Aber es tat ihr so bitter weh. Charlotte war ihr um den Hals gefallen und hatte gesagt, sie würde auch mit nach Amerika gehen, wenn sie nur Geld hätte; aber sie habe keins.
Dies alles erzählte Frau Ihlen mit leiser, vertraulicher Stimme, um nicht von den Töchtern im Zimmer gehört zu werden. Dann drückte sie ihm das Geld in die Hand und Höjbro wußte gar wohl, woher dieses Geld kam; es war das Darlehen, das sie auf das Zweirad bekommen hatte. Er machte Einwendungen, wollte das Geld jetzt nicht annehmen, Charlotte möge es bis auf weiteres behalten; sie könne es als Reisegeld benutzen.
Aber Frau Ihlen schüttelte den Kopf. Nein, sie habe die Weisung bekommen, ihm das Geld zu geben; Charlotte würde sie ja nur zurückschicken, wenn sie wieder damit hereinkäme. Also bitte!
Höjbro eilte in sein Zimmer und warf sich in höchster Erregung in den Schaukelstuhl. Gott sei Dank, nun konnte er seine Schuld in der Bank bezahlen! Schon morgen früh konnte er die Papiere auslösen, Schlag neun Uhr, noch bevor der Direktor kam. Also nur noch eine Nacht, eine einzige Nacht, und in dieser Nacht wollte er so glücklich schlafen, wie ein Mensch es nur konnte, – wenn es ihm möglich wurde, vor Freude ein Auge zu schließen.
Wie hatte er diesen Winter gelitten, ohne irgendwo eine Rettung zu erblicken! Jetzt hatte er allerdings diese Broschüre geschrieben, die bald an diesen, bald an jenen verkauft zu werden schien; daraus war ihm aber kein Verdienst erwachsen. Er hatte das Manuskript dem ersten besten Buchdrucker geschenkt und war nur froh gewesen, es ohne Auslagen veröffentlichen zu können. So waren die Tage hingegangen, und die Zeit des Zahlungstermins rückte immer näher.
Heute abend war er nun gerade nach Hause gekommen, um noch einmal zu überlegen, sich in diesen Schaukelstuhl zu setzen und noch einmal so recht über einen Ausweg nachzudenken, wie er dies Geld beschaffen könne. Er war vergebens bei zweien, ja dreien seiner Kollegen gewesen und hatte um Hilfe gebeten; aber vielleicht fiel ihm noch irgendein guter Freund ein, der diese Kleinigkeit entbehren konnte; unmöglich war es ja nicht, wenn er noch einmal so recht nachdachte. Und dann würde er hier gesessen haben, hier auf derselben Stelle, ohne die Lampe anzuzünden, ganz so wie jetzt, und stundenlang darüber gegrübelt haben. Und jetzt saß er nun da mit dem Gelde in der Hand! Die beiden großen Banknoten dufteten ein wenig nach Moschus; er zerknitterte sie zwischen den Fingern – er täuschte sich nicht – er hatte sie. War es nicht seltsam?
Er konnte nicht still sitzen; er stand auf in dem dunklen Zimmer und lächelte; als er Schritte im Entree hörte, öffnete er hurtig die Tür und blickte hinaus. Sonst pflegte er immer still zu sitzen und den Atem anzuhalten, wenn er lauschte, – jetzt öffnete er die Tür mit einem fröhlichen Ruck, ganz ohne Absicht, ohne jemand treffen zu wollen.
»Guten Abend!« sagte jemand.
»Guten Abend, Fräulein Charlotte!« antwortete er und blieb in der Tür stehen; in seinem Zimmer war es noch immer dunkel.
»Wollen Sie so spät noch fort?« fragte sie.
»Fort? Nein. Ich glaubte nur, es sei Ihr Bruder, der nach Hause käme; ich wollte ihm guten Abend sagen.«
»Mein Bruder ist im Zimmer,« sagte sie, »soll ich ihn holen?«
»Nein, keineswegs; ich wollte nur … Es war nichts, absolut nichts.«
Sie standen einander gegenüber; sie sah an ihm vorbei in sein dunkles Zimmer und fragte:
»Haben Sie heute abend vielleicht keine Lampe bekommen?«
»O doch, – Lampe? Da will ich doch gleich …«
Er machte sich daran, sie anzuzünden, mit geschäftigen, unsicheren Händen; unterdes sprachen sie miteinander. Zuletzt trat sie ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Sie setzten sich beide.
»Ich habe Ihnen etwas abzubitten«, sagte sie.
»Mir? Daß ich nicht wüßte! Aber ich möchte Ihnen danken …«
Er deutete mit den Blicken auf das Geld, das auf seinem Tische lag; aber sie unterbrach ihn:
»Ich bitte Sie um Verzeihung wegen meiner Unart von neulich.«
Ach, Unsinn, dafür brauche sie doch nicht abzubitten, und überdies sei er vielleicht selbst schuld daran gewesen. Er entgegnete:
»Sie können ja gegen mich sein, wie es Ihnen beliebt, wissen Sie. übrigens waren Sie nicht anders als sonst … ja, ja, ich meine …«
»Nein, das will ich doch nicht hoffen«, sagte sie lächelnd. Und sehr ernst fügte sie hinzu: »Ich weiß nicht, ich war so reizbar, beinahe krank vor Bosheit. Haben Sie es gemerkt?«
»Nein.«
»Doch, – es war so. Aber ich werde es nie wieder sein, Höjbro. Es hat mir auch gar keine Ruhe gelassen; ich hätte Sie noch am selben Abend um Verzeihung gebeten, als ich aber an Ihre Tür klopfte, antworteten Sie nicht.«
»Also das waren Sie doch! Ich ahnte es wohl; aber ich hatte nicht den Mut, Sie zu sehen, Ihnen in die Augen zu sehen.«
»Nicht den Mut, mir in die Augen zu sehen?«
»Nein. Man kann ja irgend etwas begangen haben, weshalb man die Augen zu Boden schlagen muß. Aber in solche Lage können Sie sich nicht versetzen, – Sie nicht.«
»O doch, – ich kann mich hinein versetzen. Man kann eine heimliche Sünde begangen haben, um derentwillen man die Augen zu Boden schlagen muß.«
Er nahm dies für eine halbe Frage, eine Aufforderung fortzufahren: »Nun, und was weiter?« Sie wollte wohl zeigen, daß sie Verständnis habe, daß sie begreifen und verzeihen könne. Dann bereitete er sich vor, ihr zu sagen, worin seine Sünde bestehe, eine Betrügerei, eine Fälschung; ihm habe einst das Geld zur Bezahlung einer Wette gefehlt, wirklich, eine Wette auf Ehrenwort, und da habe er dann ein Dokument beigebracht und das Geld darauf erhalten.
Er begann.
»Es kam so …«
Aber sie unterbrach ihn wieder:
»Nein, nein, nein. Sie sollen mir nichts erzählen! Wir wollen uns nichts erzählen; nicht wahr? Nein, Bester, lassen Sie uns heute abend ein wenig fröhlich sein, sonst geht es nicht gut mit mir. Ich bin fast nicht mehr imstande …«
Sie tat sich Gewalt an, um nicht in Tränen auszubrechen.
Er war allzu bestürzt, um fortfahren zu können; er sagte kein Wort mehr. Einen Augenblick dachte er wieder daran, ihr für das Geld zu danken; aber sie hatte ihn unterbrochen, als er es vorhin tun wollte; es war vielleicht auch unzart von ihm, sie so direkt an die Armut ihrer Mutter, den Pfandleiher, das Zweirad zu erinnern, und er schwieg.
Dann fing sie an, ihn nach den alten Porträten auszufragen, die auf seinem Tische standen, nach seinen Eltern, nach seiner einzigen Schwester, alles Dinge, deren sie früher niemals erwähnt hatte. Und sie freute sich und war überrascht, als er ihr ein Bild seiner Schwester zeigte.
»Sie sind heute abend so gut,« sagte er, »darf ich Ihnen nicht auch meinen letzten Brief von zu Hause zeigen? Freilich ist er nicht überall ganz richtig buchstabiert.«
Sie nahm den Brief und las ihn mit aufrichtiger Freude. Welche kerngesunden und festen Ansichten, welche Liebe! Sie amüsierten sich beide über den Schluß, wo der alte Vater, der sonst niemals scherzte, ein Menge Interpunktionszeichen hintereinandersetzte und dazu schrieb: »Hier lege ich dir ein paar Dutzend Zeichen bei, die du hier und da in den Brief setzen kannst.« Ach ja, das war eine durch und durch redliche Seele, naiv und stark, ein wirklich Gläubiger.
Und während Höjbro den Brief wieder zusammenlegte, saß Charlotte und sah ihn an, dachte und sah.
Sie fingen an, von Fredrik zu sprechen. Er hatte nun den Entschluß gefaßt, sein Glück in Amerika zu versuchen, und hatte schon angefangen, seine Bücher zu verwerten; er hatte gar nicht so wenig Bücher; es hatte den Anschein, als würden sie die Überfahrt decken. Sie hätte ihn gern begleitet, wenn sie die Mittel gehabt hätte; mit einem Lächeln, das beinahe ein Seufzer war, erzählte sie ihm, sie habe Gott den ganzen Nachmittag um Reisegeld gebeten, – wie wenig sie seiner Hilfe auch würdig war.
»Nein, Sie dürfen nicht,« sagte Höjbro unvorsichtig. »Sie dürfen nicht mitreisen.«
»Weshalb nicht? Ach doch, ich möchte so gern; hier bin ich meiner selbst so überdrüssig geworden.«
»Aber kein anderer ist Ihrer überdrüssig. Mancher würde Sie schmerzlich vermissen, wenn Sie reisten.«
»Wer sollte mich wohl vermissen?«
Er selbst am meisten; er selbst Tag und Nacht. Aber er sagte:
»Da Sie doch fragen: Endre Bondesen zum Beispiel.«
Sie rief nein, ballte die Hände und rief nein, bleich vor Erregung, mit harter Stimme. Und dann stieß sie ein kurzes Hohngelächter aus.
»Ich wünsche nicht, daß er mich vermißt, nicht einmal, daß er sich meiner erinnert. Nein.« Sie ging in einen anderen Ton über und sagte: »Aber wir wollten heute abend ja fröhlich sein?«
»Ja, seien wir fröhlich!« sagte auch er.
Übrigens konnte sie selbst nicht über die Sache mit Endre Bondesen fortkommen; sie begann wieder von ihm zu sprechen. Er hätte sie so unglücklich gemacht, wie ein Mensch den andern nur machen könne. – Na, aber sie wollten jetzt nicht mehr davon sprechen; nur fröhlich sein.
»Aber Sie haben ihn doch wohl einmal geliebt,« sagte Höjbro, »und dann …«
»Nun will ich Ihnen etwas sagen, aber Sie werden mir wohl nicht glauben; nein, Sie glauben mir nicht. Aber wenn es mein letztes Wort in diesem Leben wäre, – ich habe ihn nie geliebt. Jetzt weiß ich das so bestimmt, wie ich weiß, daß ich hier sitze. Gebe Gott, daß Sie verständen, was ich sage; aber Sie verstehen es wohl nicht. Ich habe ihn nicht geliebt. Aber einen Abend war ich in ihn verliebt, und an jenem Abend wurde ich … geschah … Aber ich habe ihn nie geliebt, ich war nur einen Abend in ihn verliebt. Und die ganze Zeit habe ich gewußt, seit jenem Abend, daß ich ihn nicht liebte, aber ich habe versucht zu glauben, daß ich es tue, ja, ich habe mich angefleht, ihn zu lieben. Gott allein weiß das.«
Höjbro fühlte eine heftige, geheime Freude, sein Gesicht rötete sich und er versuchte nicht einmal, es zu verheimlichen. Ja, so war es, des einen Tod ist des anderen Brot. Mitten in seiner neugierigen, frohen Erregung wollte er weiter sprechen, mehr erfahren; aber sie streckte die Hand gegen ihn aus, berührte beinahe sein Haar mit ihren Fingern und sagte mit bittendem Blick:
»Ja, aber Bester, lassen Sie uns jetzt von etwas anderem reden!«
Unwillkürlich hatte sie sein Haar gestreichelt. Es durchrieselte ihn vom Scheitel bis zur Sohle, und er nahm ihre Hand, faßte sie.
»Und ich werde Sie auch vermissen, wenn Sie reisen«, sagte er ihr beinahe ins Ohr.
»Ja, Sie vielleicht«, sagte sie ebenso leise. »Aber Sie sollen wissen, daß ich das nicht wert bin.«
»Ach, nicht wert, Sie!«
Er trat näher an sie heran, kniete neben ihrem Stuhl und nahm ihre beiden Hände. Sie ließ sie ihm und lächelnd flüsterte sie:
»Das dürfen wir nicht. Es könnte jemand kommen.«
»Nein, wir hören niemand, es kommt niemand. Ich bin so glücklich in dieser Stunde, wie nie zuvor in meinem Leben, nie. Sehen Sie, hier halte ich Ihre Hände, wissen Sie das?«
»Ja.«
Da ertönten Schritte im Entree. Jemand ging vom Zimmer in die Küche. Charlotte fuhr auf, setzte sich aber gleich wieder. Höjbro nahm wieder ihre Hände und küßte sie, er streichelte diese mageren weißen Hände, die er so oft in Gedanken geküßt hatte; jetzt preßte er seine Hände in heißer Freude darauf. Und er sprach, flüsterte einige Worte, hoffte, daß dies alles kein Traum sei, bat, sie wirklich lieb haben zu dürfen, wie er sie immer lieb gehabt habe. Niemand, niemand habe geahnt, wie sein Herz sich diesen ganzen Winter nach ihr gesehnt habe.
Hierauf antwortete sie:
»Sie sagen, daß Sie glücklich sind, Höjbro; aber morgen werden Sie das nicht sagen.«
»Morgen und immer, wenn ich darf! Sagen Sie, – darf ich? Sie allein haben darüber zu entscheiden, Sie allein. Weshalb nicht morgen? Ja, gerade morgen, ganz besonders morgen. Denn morgen werde ich eine unangenehme Sache ordnen, die mich bedrückt hat, und wenn ich Sie morgen abend sehen darf, will ich Sie um etwas bitten, Sie auf den Knien um etwas bitten, Charlotte.«
Aber plötzlich erhebt Charlotte sich und wehrt ihm mit beiden Händen:
»Nein, nein, nun dürfen wir nicht mehr, um Gottes willen! Jetzt muß ich gehen. Dank, Dank für diesen Abend! Und Höjbro, Sie dürfen mich um nichts auf den Knien bitten! O Gott, ich antworte Nein; darum dürfen Sie es nicht tun; hören Sie? Denn ich antworte Ihnen nein! So, jetzt muß ich gehen.«
»Sie antworten mir nein? Ich habe Ihre Hände gehalten, ich habe Sie geküßt und trotzdem werden Sie nein sagen? Hören Sie mich an, hören Sie, wollen Sie niemals, nein, niemals? Geben Sie mir ein wenig Hoffnung, vielleicht erst nach langer, langer Zeit, stellen Sie mich auf die Probe; lassen Sie mich lange, lange warten; ich kann lange warten, wenn ich hoffen darf.«
Wieder ertönten die Schritte im Entree; sie schwiegen so lange, dann verloren die Schritte sich ins Zimmer, und alles wurde still.
Charlotte legte schon die Hand auf die Türklinke; sie stand schlank und stolz erhoben da, ihre Wangen flammten, ihre Brust hob und senkte sich.
»Ich liebe Sie,« sagte sie ruhig, »ja, Sie liebe ich; aber ich sage nein.«
Sie sahen sich an.
»Sie lieben mich! Ja? Lieben Sie mich? Wirklich? Aber dann sagen Sie nicht nein, nicht für alle Zeit? Weshalb denn? Sagen Sie mir das!«
Sie trat schnell zu ihm, nahm seinen Kopf zwischen beide Hände und küßte ihn auf den Mund, mitten auf den Mund. Und als sie es tat, jammerte sie laut auf. Dann begrub sie das Gesicht in den Händen und eilte an die Tür.
Aber er rief ihr nach, beobachtete keine Vorsicht mehr, sondern ging direkt an die Tür und rief heraus:
»Aber Charlotte, weshalb gehst du so von mir?«
»Weil,« sagte sie heiser flüsternd, »weil ich kein reines Weib mehr bin. Ich bin nicht rein, nein!«
Und noch immer verbarg sie das Gesicht in den Händen. Dann machte sie ein paar Schritte durch das Entree, öffnete die Stubentür und verschwand …
Höjbro schloß seine Tür und blieb mitten im Zimmer stehen. Nicht rein? Was bedeutete das? Charlotte nicht rein? Sie hatte ihn geküßt, wirklich geküßt, er fühlte es noch. Und weshalb hatte sie gesagt, daß sie nicht rein sei?
Aber um des Himmels willen, Charlotte nicht rein? Ja, aber was dann, wenn sie es nicht war? Sie hatte ihn geküßt, sie liebte ihn; wie war das, hatte sie nicht geradeaus gesagt, daß sie ihn liebe? Aber sie sei nicht rein, hatte sie darauf gesagt, und darauf kam es doch nicht an, wenn sie ihn liebte. Wer war rein? Er selbst war es auch nicht, er war sogar ein Verbrecher, ein Übeltäter und erst morgen würde er sein Papier einlösen können.
Er sieht das Geld auf dem Tisch, und die großen Zettel liegen an ihrem Platz. Ja, morgen wollte er mit seiner großen Bitte zu Charlotte gehen. Sie sollte nicht rein sein? Ach, reiner als er, reiner als irgend jemand; er wollte vor ihr knien. Nein – und sie liebte ihn, sie hatte ihn geküßt!
Er ist überwältigt von dieser Erinnerung, durchbebt von wildem Freudenrausch, und er bleibt mitten im Zimmer stehen, ohne etwas zu tun. Sie hatte ihr Morgenkleid angehabt, dieses leichte Kleid, durch welches man das Mieder sah; die Arme waren fast bis zum Ellbogen hinauf bloß, so kurz waren diese Kleiderärmel. Aber es waren auch merkwürdig hübsche Arme. Aber wie, wenn ein anderer diese Arme geküßt hatte? Ja, was dann? Natürlich hatten wohl andere sie geküßt; sie sagte ja selbst, sie sei nicht rein. Diese Arme hatten auch wohl schon einen andern Nacken umschlungen, – einen andern, wenn sie nicht rein war! Aber sie war doch rein, er liebte sie.
Die Lampe stand ruhig auf dem Tisch; ihr Schein strahlte starr und hell durch die Kuppel und sie brannte, als ob ihm nichts, gar nichts sei, ihm, der allein im Zimmer stand und grübelte.
Er setzte sich in den Schaukelstuhl. Also diese Arme hatten andere umschlungen; ließ sich das wohl vergessen? Sie sollten um seinem Nacken ruhen, wie sie um andere geruht; – sie konnten sein nicht allein sein; sie konnte Vergleiche anstellen zwischen seinen Liebkosungen und denen anderer.
Tiefer und tiefer versinkt er in Nachdenken. Nein, war sie wirklich nicht rein? Es fiel ihm wieder ein, daß er sie vor Bondesens Tür getroffen habe und er war den beiden zweimal an ganz entlegenen Orten begegnet. Und sie, die er angebetet jeden Tag, jede Stunde, seitdem er sie zum erstenmal gesehen hatte! Sie würde zu ihm kommen, voll Erfahrung, an alles mögliche gewöhnt, würde zärtlich gegen ihn sein, wie sie es gegen andere gewesen, ihn umschlingen mit ihren geübten Armen. Und dann durch das ganze Leben gehen und wissen, daß es so sei! Er konnte es nicht, nein, es war unmöglich; eher Hand an sich selbst legen!
Die Lampe brannte weiter, und die Lampe brannte weiter.
Stunde auf Stunde verging; bald in Entzücken darüber, daß Charlotte ihn liebte; dann wieder in gewaltsamem Schmerz. Er schlug sich vor den Kopf. Nein, es war unmöglich, und das wußte er nur zu gut, daß er es nicht aushalten würde. Sie hätte gestohlen, gemordet haben können, – nur gerade dies nicht. Dann brannte die Lampe aus und als sie anfing zu flackern, blies er sie aus. Er legte sich aufs Bett, vollständig angekleidet, mit weitgeöffneten Augen. Charlottens Kuß brannte noch auf seinen Lippen. Sie hatte Gott um Reisegeld gebeten! Sie war nicht verderbt, und er liebte sie unmenschlich; aber was half das? Das ganze Leben hindurch alles wissen!
Erst als es Morgen wurde und sein Rouleau das Tageslicht nicht mehr abhalten konnte, fielen ihm die Augen bleischwer zu; er fiel in einen Todesschlaf, aus dem er nicht früher erwachte, als bis an seine Tür gepocht wurde.
Fredrik Ihlen trat ein.
»Es ist zehn Uhr,« sagte er, »aber Sie haben heute vielleicht frei?«
»Zehn Uhr? Nein, ich habe nicht frei.«
Höjbro sprang auf.
»Ich habe meinen Abschied von den Nachrichten bekommen, deshalb bin ich noch zu Hause.«
»Das habe ich gehört.«
»Ja, so kann es gehen. Ach, ich hätte auf Ihren Rat hören und davon bleiben sollen, aber …«
»Ach ja. Aber …«
»Daran ist nicht mehr zu zweifeln.«
»Sie sind angekleidet; Sie sind also wohl zu früh aufgestanden und wollten nachher noch ein Schläfchen tun?« sagte Ihlen.
»Ja, so ist's.«
»Ach ja, das ist mir auch schon passiert. Was ich doch sagen wollte: – Sie haben eine Broschüre herausgegeben; Sie sind heute übrigens wieder in den Nachrichten.«
»So?«
Und während Höjbro sich wusch, ging Ihlen das Blatt holen. Eigentlich war es nur dieselbe Notiz, wie das vorige Mal, nur verschärft, die Anklage wegen nicht makellosen Wandels nur stärker unterstrichen; sie hatte bestimmtere Form angenommen; es war nicht mehr die Rede von »Vernehmen nach«, nein, Gott und alle Welt wisse es. In diesem Wiederholen, in diesem die Sache nicht aus den Augen lassen, sondern sie tagaus, tagein in immer stärkere Behandlung nehmen – darin erkannte man Lynge wieder. Höjbro las die Sache mit Interesse und sagte nicht ein Wort, als er zu Ende war.
»Was sagen Sie, wie finden Sie das?«
»Man erzählt von Aktaion, daß er eines Tages Artemis mit ihren Nymphen im Bade überraschte; er überraschte sie. Zur Strafe für dieses unfreiwillige Vergehen verwandelte Artemis ihn in einen Hirsch, und seine eigenen Jagdhunde zerrissen ihn. So ergeht es auch mir; ich überraschte Lynge in seinem Element und schrieb eine Broschüre, und diese meine eigene Broschüre vernichtet mich durch Lynge. Ach ja, was soll man dazu sagen!«
»Ja, – was soll man sagen!«
Als Ihlen gegangen war, schlug Höjbro sich wiederholt vor die Stirn, während er im Zimmer auf und ab ging. Jedesmal, wenn er an die Tür kam, blieb er eine Sekunde stehen und lauschte auf Schritte, aber er hörte keine. Charlotte war vielleicht noch gar nicht auf; vielleicht war sie auch schon ausgegangen. Er sehnte sich händeringend nach ihr und bat sie flüsternd zu kommen. Und er ging und ging, auf und ab. Und die Nachrichten waren wieder hinter ihm her; sie schrieben frech drauf los von seinem Wandel, als ob sie jeden einzelnen Flecken darauf kennten. Drüben auf dem Tische lag das Geld; es kostete ihn ein paar Minuten, in die Bank hinunter zu laufen und das Papier einzulösen; alles würde im Verlauf einer halben Stunde geordnet sein, die Ehre gerettet, die Andeutungen der Nachrichten für ewig niedergeschlagen.
Was dann? Und Charlotte, das schuldige, geliebte Kind! Plötzlich eilt er an den Tisch, nimmt das Geld und faltet es hastig zusammen. Dann nimmt er ein Kuvert und schiebt die Banknoten hinein, legt eine Karte dazu, auf die er ein Lebewohl und ›Dank für alles, Geliebte‹, schreibt; dann adressiert er dieses Kuvert an Charlotte und verbrennt all seine übrigen Briefschaften. Der Tisch ist aufgeräumt, alles in Ordnung; Charlottens Reisegeld liegt mitten im Zimmer, auf dem dunklen Teppich, damit es sofort gefunden wird.
Er eilt aus dem Zimmer und erreicht die Straße, ohne gesehen worden zu sein. Im selben Augenblick erhebt er die Augen zur zweiten Etage und gewahrt dort Charlotte; sie tritt verlegen zurück, er grüßt hinauf; sein dunkles Mulattengesicht verzieht sich, obgleich er lächelt. Und sie nickt ihm wieder zu, da er stehen bleibt und hinaufsieht, zieht sie die Gardine zurück und tritt dicht ans Fenster. Dann grüßt er wieder.
Eine halbe Stunde später hatte Höjbro sich der Polizei gestellt.