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Was doch alles auf der Welt passieren kann … Zwei Herren treten aus einem Hause auf Haegdehangen. Der eine ist der Sohn des Hauses, Kandidat Ihlen, im grauen Sommeranzug mit Zylinderhut und Stock, der andere ist sein Freund und Genosse vom Gymnasium her, der Radikale Endre Bondesen. Sie bleiben einen Augenblick stehen und sehen zu den Fenstern im zweiten Stock hinauf, wo ein junges Mädchen mit rötlichem Haar steht und hinunternickt; darauf nicken auch die Herren, grüßen und gehen. Ihlen ruft einmal zu seiner Schwester hinauf:
»Leb wohl, Charlotte!«
Bondesen trägt einen schwarzen, eng anschließenden Cheviotanzug, eine seidene Mütze auf dem Kopf und ein wollenes Hemd mit Schnüren. Man sah ihm sofort den Sportmann an. Er trug auch keinen Stock.
»Du hast doch das Manuskript?« sagt er.
Und Ihlen antwortet, er habe das Manuskript.
»Nein, bei solchem Wetter mit diesem hohen Himmel, – was! Und wie ist es nun erst oben auf St. Hanshaugen, auf dem Lande, mit noch höherem Himmel und Rauschen in den Bäumen. Wenn ich alt bin, werde ich Landmann!«
Endre Bondesen studierte Jura. Er war fünf- oder sechsundzwanzig Jahr alt, hatte einen hübschen Schnurrbart und dünnes, zierlich gelegtes Haar unter der Mütze. Seine Gesichtsfarbe war bleich, beinahe durchsichtig, aber sein wiegender Gang und die schlenkernden Arme deuteten an, wie keck er war; war er auch nicht stark, so war er doch geschmeidig und zähe, übrigens studierte er nicht mehr, er bummelte umher, fuhr Rad und war radikal. Er hatte die Mittel dazu; jeden Monat bekam er Geld von zu Hause, vom Gutsbesitzer im Bergenschen, der durchaus nicht genau auf den Schilling sah. Endre bummelte nicht stark, aber dennoch brauchte er sein Geld zu diesem und jenem, und oft erzählte er selbst, wie er zu Werke ging, um den Vater dazu zu bringen, daß er ein bißchen mehr als das festgesetzte Monatsgeld schickte. So hatte er einmal nach Hause geschrieben, er wolle jetzt anfangen, römisches Recht zu studieren, und römisches Recht könne man nur in Rom studieren, weshalb er hoffe, die kleine Summe zu erhalten, die er sich jetzt zur Reise erbitte. Und der Gutsbesitzer schickte das Geld.
Ihlen war in Bondesens Alter, war aber noch etwas schmächtiger, er war auch etwas größer, ohne Bart, mit langen, weißen Händen und schmalen Füßen. Seine Stirn zuckte dann und wann über der Nasenwurzel.
Weiter unten auf der Straße grüßten sie einen Bekannten, und Bondesen sagte:
»Der sollte nur wissen, was wir vorhaben!«
Bondesen war in ausgezeichneter Laune. War es ihm doch endlich geglückt, seinen Freund, den Aristokraten, zu bekehren; drei Jahre hatte er daran gearbeitet. Es war ein stolzer Tag für ihn, und zu dessen Ehren hatte er eigens eine Radtour nach Ejdsvold aufgegeben. Charlotte hatte ihm ebenfalls gerade ins Gesicht gesehen, als er den Bruder zum zwanzigstenmal durch seine besten Gründe überzeugte. Wer weiß, vielleicht hatte er auch sie ein wenig gerührt!
»Hör mal, du hast doch wohl das Manuskript?« sagt er wieder, »du hast es doch wohl nicht auf dem Tisch liegen lassen?«
Und Ihlen schlägt sich auf die Brusttasche und sagt wieder, er habe das Manuskript.
»Es wäre ja übrigens auch kein Unglück, wenn ich es auf dem Tische hätte liegen lassen,« sagt er. »Und außerdem ist es wenig wahrscheinlich, daß er es nimmt.«
»Er nimmt es, er nimmt es!« erwidert Bondesen. »Lynge nimmt es sofort. Du kennst Redakteur Lynge nicht. Es gibt hier zu Lande nicht viele Menschen, die ich in so hohem Grade bewundere wie ihn; als ich noch ein Junge und zu Hause war, hat er mich sehr viel gelehrt, und mir wird heiß vor Dankbarkeit, wenn ich ihn nur auf der Straße sehe. Du, das ist ein wunderliches Gefühl. Hast du je was Ähnliches von Kraft gesehen? Drei, vier Reihen in seinem Blatte sagen ebensoviel wie eine Spalte in anderen Blättern. Er haut ordentlich zu, ja, allerdings; aber so muß man ihnen kommen. Hast du die kleinwinzige Notiz ans Ministerium in der letzten Nummer gelesen? Die sechs ersten Reihen so mild, so friedlich, nichts Böses im Sinn, und dann die siebente, eine einzige Reihe, ein Peitschenhieb, der den Schluß bildete und einen hübschen, blutigen Striemen hinterließ. Ja, ja, er versteht's … Wenn du zu ihm kommst, dann sag' so und so, du hast schon mehr als dies geschrieben; einiges hast du ins Ausland geschickt, und mehr noch hast du im Kopf. Dann legst du das Manuskript vor … Wenn ich nur auch etwas hätte, was ich ihm hinauftragen könnte. Sollte ich aber mal was haben, ich meine später mal, vielleicht im nächsten Jahr, so mußt du mir den Dienst erweisen, es ihm mitzunehmen. Doch, – das mußt du, ich komme nicht dazu, verstehe mich nicht darauf, das weiß ich; denn er hat starken Einfluß auf mich gehabt.«
»Du sprichst, als ob ich schon eine feste Anstellung bei den ›Nachrichten‹ hätte!«
»Es ist ein großer Unterschied zwischen dir und mir: du kannst mit einem alten, bekannten Namen antreten; denn nicht ein jeder heißt Ihlen; überdies schreibst du ja wissenschaftliche Abhandlungen.«
»Wie du rennst,« ruft Ihlen. »Ich kann doch nicht klatschnaß zu ihm kommen.«
»Nein, du hast recht. Du mußt ruhig bei ihm eintreten. Ich warte vor der Tür, bis du wiederkommst … Der Bär, der Höjbro sagte, er lese die Nachrichten nicht mehr. Na, das entspricht also der Bildung des Mannes, er liest natürlich gar nichts …«
»O doch, er liest sehr viel,« erwidert Ihlen.
»So? Höjbro liest viel? Wenn man aber mit fortschreiten und ein moderner Mensch sein will, so muß man meiner Ansicht nach die Nachrichten lesen. Höjbro lachte mich aus, als ich sagte, die Nachrichten seien radikal. Das war die reine Wichtigtuerei. Ich bin radikal, und ich behaupte, die Nachrichten sind es auch. Aber sie machten Reklame für sich – aufrichtig gesagt: weshalb auch nicht? Haben sie denn nicht Grund, ihre Überlegenheit zu fühlen? Alle äffen ihnen ja nach, und wenn es nur gilt, Überschriften für die Artikel zu erfinden, so können sie ja von den Nachrichten lernen. Nicht wahr? Übrigens mag man sagen, was man will, die Nachrichten sind das einzige Blatt, das nennenswerten Einfluß hat. Lynge hat – ich hätte beinahe gesagt ›buchstäblich‹ – das Ministerium in seine Fauteuils eingesetzt, und er ist auch der Mann dazu, es wieder herunterzusetzen. Gewissermaßen arbeitet er auf diese Weise allerdings seiner eigenen Arbeit entgegen; aber ist das Lynges Schuld? Ist es nicht das Ministerium, das seiner alten Fahne untreu wird? Nieder mit dem Elend. Lynge wird schon dafür sorgen.«
»Da du gerade von Überschriften sprichst, fällt mir ein, daß ich meinem Artikel vielleicht noch eine Überschrift geben sollte?«
»Wie heißt er jetzt?«
»Jetzt heißt er nur: Einiges über unsere Beerensorten.«
»Ja, gehen wir ins Grand Grand, bekanntes Café-Restaurant in Kristiania. und denken wir über eine zweite Überschrift nach.«
Als die Herren aber ins Grand kamen und jeder ein Seidel getrunken hatte, änderte Bondesen seine Ansicht. Dies »Einiges über unsere Beerensorten« sei kein Titel für die Nachrichten, er nahm sich nicht gut aus, für eine Reihe war er auch zu lang. Aber es sei ein bescheidener Titel für eine Debütarbeit, die man auf den Tisch eines großen Redakteurs niederlege. Sie wollten es Lynge selbst überlassen, die Überschrift zu machen; er hatte nicht seinesgleichen, was das Erfinden von pikanten Überschriften betraf. »Einiges über unsere Beerensorten« war vorläufig gut, kein Wort mehr.
Und die Herren traten wieder auf die Straße.
Als sie dem Lokal der Nachrichten näher kamen, verlangsamten sie ihre Schritte unwillkürlich. Bondesen sah ganz beklommen aus. Der Name des Blattes war über der Tür angebracht, quer über die Fassade des Hauses, auf den Fenstervorsetzern, an den Türschildern, überall, wo er sich anbringen ließ. Aus der Druckerei klang das Lärmen der Walzen und Räder.
»Siehst du,« sagte Bondesen, »hier sind große Verhältnisse!« Und selbst inmitten all dieses Lärms sprach er gedämpft.
»Ja, Gott weiß, wie es jetzt gehen wird!« sagte Ihlen und lächelte. »Aber er kann ja nicht mehr sagen als ›Nein‹.«
»Geh nur hinauf und tu, wie ich dir gesagt habe,« ermunterte der Freund. »Du hast einer ausländischen Zeitschrift was eingeschickt, und mehr noch hast du im Kopf. ›Darf ich bitten, hier bringe ich etwas über Beeren, über unsere Beerensorten …‹ Ich warte hier auf dich.«
Ihlen kam in das Vorzimmer des Redakteurs. Hier saßen zwei Herren und schrieben und schnitten mit der Schere, und ihm war, als seien mindestens fünf Scheren in Tätigkeit – so groß waren die Verhältnisse. Er fragte nach dem Redakteur, und mit einer Handbewegung deutete einer der schreibenden Herren nach des Redakteurs Privattür, die er öffnete.
Es waren mehrere Leute anwesend, sogar ein paar Damen; mitten im Zimmer an einem Tische an der Wand saß der Redakteur selbst, Alexander Lynge, der große Journalist, den die ganze Stadt kannte. Er ist ein Mann von vierzig Jahren, mit markierten, lebhaften Zügen und munteren Knabenaugen. Sein helles Haar ist kurz geschoren, und sein Bart ist fürsorglich gestutzt; sowohl sein Anzug wie seine Stiefel sind neu. Im ganzen sieht er liebenswürdig und gewinnend aus. Die beiden Damen lächeln über etwas, das er gesagt hat, und inzwischen öffnet er selbst die Telegramme, die er mit vielfach unterstrichenen Überschriften versieht; wenn er sich über den Tisch beugt, wird sein Doppelkinn sichtbar, und seine Weste schlägt kleine Fettfalten über dem Bauch.
Er nickt Ihlen zu, ohne sich in seiner Arbeit stören zu lassen, und inzwischen spricht er nach rechts und links.
Ihlen sieht sich um. An den Wänden hängen Bilder und Ausschnitte, Zeitungen und Zeitschriften liegen überall, auf Tischen, auf Stühlen, in den Fenstern, auf dem Fußboden; Handbücher und lexikale Werke liegen holterdipolter auf einem Bücherbrett über dem Kopf des Redakteurs, und auf seinem Schreibtisch schwimmen Papiere und Manuskripte herum, so daß er kaum die Arme rühren kann. Jeder Winkel des Zimmers ist von der Tätigkeit des Mannes erfüllt. Diese Menge von Gedrucktem, diese Unordnung überall, dieser tiefe Sumpf von Blättern und Büchern machte den Eindruck von starker und unaufhörlicher Arbeit. Nirgends war Ruhe, das Telephon klingelte unaufhörlich, Leute kamen und gingen, die Maschinen aus der Druckerei tönten herein, und der Postbote brachte neue Haufen von Briefen und Zeitungen. Es war, als sei dieser Chef eines Blattes nahe daran, in einem Meer von Arbeit und Schwierigkeiten begraben zu werden, als ströme ein kleines Weltall auf ihn ein und warte auf seine Entscheidungen in allen Dingen.
Und mitten in dieser Emsigkeit sitzt er selbst mit überlegener Ruhe und hält die Fäden, schreibt Überschriften, nimmt wichtige Mitteilungen entgegen, macht Notizen auf losen Blättern, konversiert mit den Wartenden, öffnet dann und wann die Tür, um eine Frage an seine Untergebenen in dem äußeren Bureau zu tun, oder ihnen Befehle zu erteilen. Dies alles ist wie ein Spiel für ihn, er sagt sogar hin und wieder eine Drolligkeit, die die Damen zum Lachen bringt. Eine arme Frau tritt ein, Lynge kennt sie und weiß ihr Anliegen, sie ist offenbar daran gewöhnt, an gewissen Tagen zu ihm zu kommen; er gibt ihr eine Krone über den Tisch, nickt und schreibt weiter. Er hat sein Garn überall ausgelegt, und über aller Haupt blitzt das Schwert der Nachrichten; ein Redakteur ist eine Staatsmacht, und Lynges Macht ist größer als die eines anderen. Er sieht auf die Uhr, steht auf und ruft dem Sekretär zu:
»Hat das Ministerium uns noch keine Erklärung geschickt?«
»Nein.«
Und Lynge setzt sich ruhig wieder hin. Er weiß, daß das Ministerium sich bequemen muß, ihm die Erklärung zu geben, die er verlangt hat, sonst versetzt er ihm einen Stoß, vielleicht den Gnadenstoß.
»Gott, wie hart Sie gegen die armen Minister sind!« sagt eine der Damen; »Sie morden sie ja.«
Aber Lynge entgegnet ernst und warm:
»So ergeht es jeder Verräterseele in Norwegen!«
Zu seiner Linken, nach dem Fenster zu, sitzt eine für den Redakteur der Nachrichten sehr wichtige Persönlichkeit, ein magerer, grauhaariger Herr mit Brille und Perücke; das ist Herr Ole Brede. Dieser Mann, ein Journalist ohne Anstellung, der nie etwas schreibt, ist Lynges Freund und unzertrennlicher Begleiter; böse Zungen haben ihm den Beinamen Leporello gegeben, weil er stets an Lynges Seite ist. Er hat nichts bei dem Blatte zu tun, er hat keine andere Beschäftigung als die, auf einem Stuhle zu sitzen und einen Platz einzunehmen. Er spricht nicht, ohne gefragt zu werden, und selbst dann sucht er nach den armseligsten Worten. Der Mann ist eine prächtige Mischung von Dummheit und Gutmütigkeit, ein Mann, der kaltblütig aus Faulheit und liebenswürdig aus Not ist. Der Redakteur foppt ihn, indem er ihn Dichter nennt, und Leporello lächelt hierzu, als ob es gar nicht ihn beträfe. Als die beiden Damen aufstehen und gehen, steht der Redakteur ebenfalls auf, Leporello aber bleibt sitzen.
»Leben Sie wohl,« sagt der Redakteur und verneigt sich lächelnd. »Vergessen Sie Ihr Paket nicht, Fräulein. Leben Sie wohl.«
Endlich wendet er sich zu Ihlen.
»Wünschen Sie etwas?«
Und Ihlen tritt vor.
»Ich habe einen Artikel über unsere Beerensorten, über den ich hören wollte, ob Sie ihn brauchen können.«
»Über unsere …?«
»Beerensorten.«
Der Redakteur nimmt das Manuskript in die Hand und sagt, indem er es ansieht:
»Haben Sie früher schon etwas geschrieben?«
»Ich habe eine kleine Abhandlung über Pilze an die Letterstedtsche Zeitschrift geschickt, und verschiedene Arbeiten habe ich noch im Kopf. Aber …«
Ihlen hält inne.
»Pilze und Beeren sind ja wenig aktuelle Fragen,« sagt nun der Redakteur.
»Ja,« entgegnet Ihlen.
»Ihr Name?«
»Ihlen, Kandidat Ihlen.«
Der Redakteur stutzt ein wenig bei diesem alten konservativen Namen. Nun kam gar schon ein Ihlen zu den Nachrichten! Und er hatte die angenehme Empfindung, daß seine Macht anfing, Dimensionen anzunehmen. Er warf einen Blick auf den jungen Mann: er war gut gekleidet, und es schien ihm nicht sehr schlecht zu gehen, aber Gott mag wissen, vielleicht waren die Verhältnisse zu Hause ziemlich knapp, und er hatte dies nur geschrieben, um sich ein paar Schillinge zu verschaffen. Aber weshalb ging er nicht zu den konservativen Blättern? Wann hatte man je zuvor gehört, daß ein Ihlen zu den Nachrichten gekommen sei? Wie dem auch sei – Beeren waren ja ein neutraler Gegenstand, der jedenfalls nichts mit konservativer Politik zu schaffen hatte.
»Sie können den Artikel ja hierlassen, ich werde ihn durchsehen,« sagt er und greift wieder zu anderen Papieren.
Ihlen begreift, daß seine Audienz zu Ende ist, und sagt Adieu.
Als er an die Haustür kam und Bondesen erzählte, wie sein Geschäft abgelaufen, verlangte dieser, das ganze Gespräch wiederzugeben, den Wortlaut; er wollte wissen, wie es da oben aussah, wieviel Leute dort gewesen, was Lynge zu jedem einzelnen gesagt.
»Verräterseelen –, was? Ist das nicht das wahre Wort?« fragte er begeistert. »Verräterseelen, großartig, das notiere ich mir … Na, aber da siehst du nun, er nimmt es also; das bedeutet, daß er es nimmt. Weshalb glaubst du sonst, daß er es dabehalten hätte?«
Und die beiden Freunde gingen in bester Stimmung heimwärts. Unterwegs aber trafen sie ein paar Bekannte, und Bondesen beschloß aus dieser Veranlassung, sie im Grand zu traktieren.