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Es hatte seine Richtigkeit, Charlotte und Bondesen duzten sich, wenn sie allein waren, in Bondesens Zimmer am Parkweg, wenn ihnen niemand nahe war. Sie war schon so oft dort gewesen; als sie an jenem Abend vom Arbeiterverein nach Hause gingen, da Bondesen ihr ganzes Herz erobert hatte, war es das erstemal gewesen. Seitdem war sie während des Herbstes und Winters recht oft oben gewesen; in der Regel huschten sie eine Stunde oder zwei hinauf, wenn sie von ihren Ausflügen auf dem Rad nach Hause kamen; und als der Winter mit Schnee gekommen, gingen sie ins Theater oder in den Zirkus, nur um die kurze Weile nachher auf Bondesens Zimmer zusammen sein zu können. Ihr war so warm nach dem Gang, nach der frischen Luft, sie legte immer Mantel und Hut ab, wenn sie hineinkam, und Bondesen half ihr dabei. Dann krachten die Holzscheite im Ofen, und damit es recht gemütlich sei, schraubten sie die Lampe herab.
Dies hatte sich nun so oft wiederholt, daß Bondesens erste heftige Verliebtheit sich schon zu verlieren begann. Das schlimmste war, daß Charlotte angefangen hatte, allein zu ihm hinaufzukommen, ohne weiteres, wenn sie in der Stadt zu tun gehabt. Diese ungenierten Besuche waren ihm nicht angenehm. Er zog es vor, sie in Hast und Eile selbst hinaufzuführen, damit ihnen niemand auf dem Wege in die dritte Etage begegne. Wenn sie an seine Tür kamen, war ihm drum zu tun, daß er zur Vorsicht gezwungen war, daß er die Nase die Treppe hinauf stecken und horchen müßte, ob oben in den Etagen auch alles ruhig sei. Dadurch wurde es jedesmal ein kleines Erlebnis, ein pikantes Abenteuer. Und wenn sie dann glücklich in sein Zimmer gelangt waren und er die Tür geschlossen hatte, war es ihm ein Genuß, nach dieser kleinen Spannung aufzuatmen und ihr den Mantel mit fieberhaften Händen zu lösen. Alles dies schwand, wenn sie so mitten am Tage mit Paketen in den Händen kam, nach den Einkäufen duftend, die sie im Konsumverein für die Mutter gemacht hatte. Es war genau wie eine Gattin, die mit dem Mittagsfleisch in Papier nach Hause kommt. Und wie wenig anmutend war es, so im hellen Tageslicht, das durch zwei Fenster hereinfiel, ja, im Sonnenschein sogar, ihr den Mantel usw. abzunehmen, wenn man jeden Augenblick den Postboten oder einen Kameraden oder sogar die Wirtin erwarten durfte, die am Morgen das Staubtuch vergessen haben konnte. Nein, Bondesen mochte es durchaus nicht.
Wenn er nicht so gut wie verlobt mit Charlotte gewesen wäre, würde er sich diesen Besuchen entzogen haben. Und dann merkte sie auch gar nichts, begriff nicht, daß das erste heiße Aufflammen vorüber war; sie kam und kam und kam. Und sie war ebenso zärtlich und reizend, wenn sie ging, als wenn sie eintrat; etwas Ähnliches von Kraft hatte er niemals gesehen. Aber er konnte nichts dafür, daß er nicht mehr jubelte, wenn sie in die Tür trat.
Über dies alles denkt Endre Bondesen nach, und er ist seiner selbst und aller Menschen überdrüssig.
Und nun hatte Fredrik ihn gewissermaßen ebenfalls betrogen, sein Vertrauen getäuscht. Er hatte sich's niemals träumen lassen, ihn zu einem ebenso festen Radikalen zu machen, wie er selbst einer war, dazu hatte Fredrik zu wenig Kraft. Aber trotz allen Redens und Predigens und auf den Tisch Trumpfens vor seinem Freunde erwies dieser sich als ein unveränderter Ihlen, ein Konservativer, ein Bureaukrat. Deshalb wäre Bondesen gern ganz und gar von Ihlens fortgeblieben, würde andere Bekanntschaften gemacht, sich ein wenig gerührt haben; es wurde auf die Dauer ermüdend, der feste Hausfreund einer einzelnen Familie zu sein. Aber die Umstände waren gegen ihn; er mußte dabei bleiben, übrigens war Fredrik jetzt fest angestellt bei den Nachrichten, und deshalb schon mußte Bondesen die Freundschaft aufrechterhalten; es war gar kein Zweifel mehr, er hatte etwas im Kopf, das er schreiben wollte, einige Verse, einige Stimmungen von mehr als gewöhnlicher Bedeutung; und er hatte sich längst vorgenommen, in den Nachrichten zu debütieren, diesem Blatte, das mehr und mehr von aller Welt gelesen wurde.
Ob nicht auch alles verkehrt ging! Er hatte gerade beabsichtigt, direkt von Ihlens nach Hause zu gehen und zu versuchen, ob er nicht sofort mit den Versen beginnen könne; er war gerade so gut aufgelegt gewesen, als er am Morgen aufgestanden; nun war alles wie fortgeblasen. Vielleicht war es dumm, sich zu ärgern, aber Bondesen ärgerte sich dennoch. Höjbro hatte ihn erregt durch seine langen, ungeheuer wichtigen Antworten auf alle seine Bemerkungen, und Charlotte hatte ihn dazu getrieben, ihr heimliches Verhältnis vor allen zu verraten. Wenn er sich nur nicht verplappert und sie du genannt hätte! Nun band das Band ihn noch fester, machte ihn unfrei, hinderte seine Bewegungen. Er war nicht dazu geschaffen, zu irgend jemand in einem unlösbaren Verhältnis zu stehen, und seine Verlobung, die er allerdings einmal in einer heißen Stunde und unter vier Augen geschlossen, quälte ihn, anstatt ihn glücklich zu machen.
Als Frau Ihlen daher aus der Küche ins Zimmer kam und vom Eckzimmer sprach, konnte er die brave Frau nicht damit erfreuen, daß er stehenden Fußes dieses Eckzimmer mietete. Es könne sein – sagte die Frau –, daß Höjbro sie eines Tages verlassen werde; sie würde ihn ungern verlieren, er sei der ausgezeichnetste Mieter gewesen, aber er sei so wunderlich geworden. Und wenn er auszog, blieb das Zimmer leer.
Bondesen bedurfte nur eines Augenblicks, um sich klar zu werden. Er wußte, daß wenn er obendrein noch ins Haus zöge, er ganz gefangen sei; man würde das Verhältnis sofort entdecken, es sei genau so, als ob er sich verheiratete. Er hatte auch nicht im Sinn, Charlotte zu betrügen; niemand sollte ihn auf so elender Handlungsweise ertappen; sie waren seit lange einig, sie hatte sein Wort. Aber gerade in letzter Zeit hatte er das Bedürfnis gefühlt, ein wenig zu überlegen, die Sache zu bedenken. Wenn es zum Schlimmsten kam, mußte er wohl wieder mit dem Studium beginnen und seine Examina machen.
Mit bestem Willen konnte er Frau Ihlen nichts anderes erwidern, als daß er leider im Parkweg schon vor längerer Zeit aufs ganze Jahr gemietet habe. Er beklage dies sehr.
Als er dann im selben Augenblick hörte, daß Fredrik im anstoßenden Zimmer aufgestanden war, erhob er sich und ging. Wie unzufrieden war Bondesen in dieser Stunde mit allem. Es half nichts, wenn Frau Ihlen es auch ein wenig sonderbar fand, daß er gerade jetzt fürs ganze Jahr im Parkweg gemietet habe.
Charlotte sah ihm mit den alten frohen, gläubigen Augen nach. Von allen war sie mit einem Male die glücklichste geworden, so sehr hatte es sie gefreut, daß Bondesen das Geheimnis mit dem »Du« unter vier Augen verraten hatte.
Sie erhob sich und holte Bondesen im Entree ein.
»Dank!« sagte sie, »Dank!«
Er legte den Arm um sie. Und von ihr hatte er sich noch vor einem Augenblick zurückziehen wollen! Er wußte nicht, wo er mit seinen Gedanken gewesen; niemals würde er ihr Kummer bereiten, niemals. Er bat sie, zu entschuldigen, daß er heftig gewesen, und bevor er ging, beugte er sich zu ihrem Ohr, und sie wurden sich einig darüber, daß sie am Abend zusammen sein wollten …
Fredrik kam ins Zimmer, ein wenig bleicher als sonst, ein wenig angestrengt von der letzten Zeiten schweren Arbeit mit den politischen Artikeln. Diese Arbeit hatte ihn weit mehr Mühe gekostet, als all seine wissenschaftlichen Arbeiten; er war kein Politiker, er hatte sich niemals sehr für Politik interessiert; wenn die Rechte eines behauptete und die Linke ein anderes, so konnte das wohl nicht anders sein, aber immer war es doch die Rechte, die recht hatte; das fühlte er zu innerst, obgleich er zu sagen pflegte, daß er in der Opposition der Linken vieles berechtigt finde. Jetzt aber war Ihlen auf einen verkehrten Weg geraten, es gab immer weniger Platz für seine Wissenschaft; tagaus, tagein waren die Nachrichten voll Politik. Die Unionsartikel hatten im ganzen Lande Lärm gemacht, sogar die schwedische Schwesterpresse hatte sie ausgenommen, und Lynge rückte jeden Tag mit einer Erklärung oder Verteidigung dieser Artikel ins Feld. Und inmitten all dieses stand Ihlen beinahe müßig und konnte nicht viel anderes tun, als Ausschnitte machen oder kleine Notizen umschreiben. Aber diese Arbeit stand nicht auf gleicher Höhe mit seinen Interessen, und indem er hinunter ins Redaktionsbureau ging, wünschte er recht innig, daß der politische Zank bald ein Ende haben möge.
Aber das war noch in weitem Felde. Lynge hatte vorläufig alle andern Dinge beiseite gelegt, um seinen Standpunkt in der Unionspolitik zu verteidigen. Und er zeigte seine Geschicklichkeit wieder auf die erstaunlichste Weise. Was hatte er getan? Worin bestand das ganze Verbrechen, gegen das sich jetzt die Dummheit des ganzen Landes aufbäumte? Er hatte einzig und allein behauptet, daß die Union so, wie sie jetzt war, am besten sei, und daß kein Mensch hervortreten und die Verantwortung für die radikale Veränderung, die gewisse Leute vorgeschlagen hatten, übernehmen könnte. Was weiter? Wollte die Linke etwas anderes als die Union, so war es nicht mehr die Linke; sie solle nicht kommen und hinterlistig versuchen, republikanische Propaganda unter der Maske der Linken zu treiben. Das würden die Nachrichten als einer ehrlichen Politik unwürdig zurückweisen; die Nachrichten seien die Linke, wie sie gewesen und zu bleiben gedenke; deshalb hielt sie auf die Union.
Kurz gesagt: die Nachrichten waren so ehrlich und gewissenhaft, daß Leo Höjbro mit seinen unfreundlichen Anklagen ganz und gar unrecht bekam. Keiner, der die Nachrichten mit Verstand las, konnte über sie klagen.
Klang es nicht zugleich hübsch und human, wenn das Blatt auf das Entschiedenste gegen die gehässige und zornerfüllte Sprache gegen das Brudervolk protestierte? Ja, die Nachrichten wollten nicht mehr teilhaben an diesem Haß; wie Lynge in andern Dingen bereits den Ton der Presse bedeutend verbessert hatte, so wollte er auch nach dieser Richtung hin das Niveau der norwegischen Journalistik heben; am weitesten kam man doch immer, wenn man als gebildeter Mensch auftrat. Und so flink lief Lynges Feder, so sonnenklar war das Recht in seinen Beweisen, daß die Angriffe auf ihn nach und nach aufhörten; es gab wenige, auf welche das aufrichtige Streben, das Niveau der Journalistik zu heben, keinen Eindruck machte.
Übrig blieb allerdings der Norweger. Zäh und treu beharrte er auf dem Seinen, pochte auf seinen uralten liberalen Standpunkt, der keine Meinungsänderung aufzuweisen hatte und nach besten Kräften vor dieser Umkehr der letzten Tage warnte. Aber die Stärke des Norwegers bestand nicht im Angreifen; seine eigentliche Stärke bestand darin, daß er seine früheren Ansprüche erklärte – etwas, wofür er nur allzuoft Verwendung fand, wenn alles, was er gesagt und gemeint hatte, ihm vor der Nase so jämmerlich verdreht und verkehrt wurde. Dem Norweger sagte Lynge ein paar zurechtweisende Worte und ließ ihn damit laufen. Es sah seltsam aus, aber nach diesen ernsten, zurechtweisenden Worten sagte der Norweger nichts mehr. Hatte er Angst vor Lynge? Erdreistete er sich nicht einmal, ihm einen seiner bekannten Schläge zu versetzen, die niemanden taumeln machten? Für so überwältigend gescheit galt Lynge, daß wenige oder keiner sich zu rühren wagte, bevor er nicht einen Wink gegeben; selten wurde irgendein Schlendrian angegriffen, ein Bestreben unterstützt, ein Buch von etwas zweifelhaftem Inhalt besprochen, ein Mann für eine Stelle empfohlen, bevor Lynge es nicht getan hatte. Man sah es ja auch klar, als die Artikel des Norwegers über die Verhältnisse der Seeleute von Lynge gestützt wurden, – der arme Redakteur des Norwegers habe kein böses Wort gesagt, nicht auf seinem Recht bestanden, und niemals ward es aufgeklärt, wo die Artikel eigentlich zuerst gestanden, denn niemand machte sich die Mühe, alte Zeitungen wieder durchzulesen.
In diesen Tagen aber hatte der Norweger die unerwartete Freude, seine Standhaftigkeit belohnt zu sehen. Schockweise meldeten sich neue Abonnenten, alte, treue Liberale, die jetzt von den Nachrichten abfielen, graue Veteranen, der Kern der Partei. Zum erstenmal hatte Lynge eine Überraschung in Szene gesetzt, die das Publikum nicht begreifen wollte; so lächerlich verkehrt hatte er bis jetzt nie gerechnet. Aber er ließ nicht nach, niemals, man sollte schon sehen, daß er als Letzter am besten lachte. Er hatte den Kopf in den Nacken geworfen, – durfte man das denn der Abwechslung wegen nicht einmal tun? Sollte ihm das sofort vergolten werden? War sein Blatt nicht das einzig lesenswerte Blatt? Der Norweger, der sozusagen in den letzten Zügen lag, flackerte noch einmal auf und wollte leben; er bekam Abonnenten, er richtete sich ein, neben den Nachrichten auszuhalten. Gut, möge er leben; trotz seiner Unvollkommenheit war er doch ein alter Gesinnungsgenosse; möge er nur leben! Lynge würde ihm seine armselige Brotrinde gewiß nicht mißgönnen.
Er wußte, daß er seine große Gemeinde in der Stadt habe, Christiania konnte ihn nicht entbehren, hier war er in seinem Element; was bedeutete es denn, daß ein paar Drontheimer oder eine Handvoll Bauern sein Blatt aufsagten. An ihre Stelle kamen andere Leser, Leute, deren innerste politische Meinung er gerade durch seine veränderte Haltung getroffen hatte. Ja, ja, er hatte schon größere Stürme ausgehalten.
Und täglich fragte er bei Leporello an über das Verhalten der Stadt zu diesen Dingen: Aber was meint die Stadt dazu? Was sagt man im »Grand«?
Die Stadt sprach nicht mehr ausschließlich von den Unionsartikeln; Leporello argwöhnte, daß der Norweger wieder die allgemeine Aufmerksamkeit durch seine Nachricht über den Selbstmord des Malers Dalbye auf sich gezogen habe.
Dieser Selbstmord interessierte die Leute wirklich. Dalbye war ein junger Mann, sehr bekannt von der Karl-Johann-Straße. Schon als Abiturient hatte er eine Sammlung Gedichte herausgegeben; so vielversprechend und aufgeweckt war er gewesen. Als er nach Christiania kam, machte er sich ziemlich bald bemerkbar durch ein paar Skandälchen; bald darauf stellte er auch einige Bilder bei Blomquist aus. Und nun hatte dieser Mann sich erschossen; ein Mitarbeiter des Norwegers hatte zufällig den Schuß gehört und war der erste gewesen, der die traurige Botschaft mitteilte, trocken und ruhig, ohne Aufsehen und Hallo, – wie es der Brauch des Norwegers war; das Blatt hatte sogar seine Sympathie für den unglücklichen Mann an den Tag gelegt, den irgendein heimliches Leiden in den Tod getrieben hatte. Keine andere Zeitung wußte von der Begebenheit, bevor sie sie im Norweger lasen – wo waren die Nachrichten, wo in aller Welt waren sie? Nun war ihr ein Leitartikel von mächtiger Wirkung für die erste Seite entgangen. Und Lynge ärgerte sich auch mehr, als er eingestehen wollte, darüber, daß ihm diese Beute durch die Finger gegangen war.
Aber was sagte die Stadt? Stand die Stadt auf des Malers Seite?
Soweit Leporello erfahren konnte, hatte die Stadt den Tod des jungen Mannes nicht besonders beklagt. Sein Talent wurde sogar bestritten, außerdem hatte er eine junge Dame mit bekanntem Namen halb und halb kompromittiert.
Da griff Lynge zur Feder. Der Norweger sollte von dieser Geschichte nicht fett werden, die ihm so ganz ohne Anstrengung in den Schoß gefallen war. Er schlug wieder eine Schlacht für den öffentlichen Ton, sagte, daß dieser Selbstmord beinahe als lächerlich zu betrachten sei, so überspannt und aufgebauscht sei er; und er möchte der Polizei raten, darüber ins reine zu kommen, ob nicht Schulknaben unter den Kameraden des Verstorbenen diesem Kinde hätten abraten können, sich das Leben zu nehmen. Solche Dinge dürften in einer Gesellschaft mit Zivilisation und Moral nicht vorkommen; man müsse sich dagegen wehren, daß Buben zum Revolver griffen, weil die Mittagssuppe kalt geworden.
Und in diesem Augenblick war Lynge wieder vom wärmsten Mitleid mit dem öffentlichen Ton und der Gesellschaft ergriffen, die so viel dulden mußten; er legte eine Menge guter Überzeugung in diese Zeilen und fand sie selbst vortrefflich. Die Leute würden wieder seine beispiellose Fähigkeit, so schnell und richtig die innerste Meinung seiner Mitmenschen in einer Sache zu treffen, bewundern. Aufgebauscht! ganz richtig! Aufgebauscht und lächerlich! Wozu hatte solch ein Junge sich das Leben zu nehmen?
Als Ihlen in das Lokal der Nachrichten trat, hörte er lautes Sprechen aus dem Zimmer des Redakteurs. Lachend sagte der Sekretär:
»Er rechnet mit einer seiner Freundinnen ab.«
Bald darauf kam auch eine Dame mit allen Anzeichen starker seelischer Erregung aus Lynges Bureau. Sie war stark und fett, mit ungewöhnlich heller Haut und blauen Augen. Es war Frau L., die Bergenerin, die man die Heilbutte nannte, weil sie so fett war und so weiße Haut hatte.
Lynge folgt ihr bis an die Tür und verbeugt sich; er bewahrt den Anstand, bittet sie sogar, einmal wieder vorzusprechen – er weiß nur zu wohl, daß sie nach dieser Abrechnung nie wiederkommt. Sie konnten sich nicht mehr vertragen; Lynges flüchtiger Sinn bereitete ihr allzu viele Sorgen, und er seinerseits sah dem Tage der Trennung voll Sehnsucht entgegen. Nun war es Gott sei Dank vorüber! Diese halbalten Damen, die immer sein Los waren – sie wußten absolut nicht, wieviel Qualen sie einem Manne bereiteten, wenn sie ihn nicht loslassen wollten. Die Heilbutte hatte ihm sogar gewisse gebrochene Versprechen, gewisse unfeine Streiche, Lügen vorgeworfen. Na, seine lange Journalistenlaufbahn hatte ihm Übung gegeben, Stürme abzuhalten; seine innere Kraft war sogar so groß gewesen, daß er nicht einmal den Blick zu Boden geschlagen hatte, als sie ihm seinen Bruch an Treu und Glauben vorgehalten. So groß war seine innere Kraft!
Aber würde es ihm denn niemals glücken, ein Herz zu erobern, das kein anderer erobern konnte – das ersehnte junge, blühende Mädchen, das ihn jedem andern vorziehen würde –, sollte es ihm niemals glücken? Weshalb nicht? Er war vierzig, aber er war ein Jüngling; sogar Charlotte Ihlen war vor ihm errötet, so wahr er Lynge hieß.
Dann fällt ihm Fredrik, ihr Bruder ein, den er in die Nachrichten hineingezogen hatte und nun gern wieder los sein möchte. Und nun ward Lynge wieder der Redakteur, der große Journalist, der das gelesenste Blatt des Landes schrieb. Er öffnete die Tür und sah hinaus, – richtig, Ihlen saß an seinem Platz. Lynge wußte nicht mehr, wozu er diesen Mann brauchen sollte; das Budget des Blattes war stark belastet und Ihlens Nachrichten hatten kein Interesse mehr; die Leute hatten aufgehört, sich zu verwundern, wenn sie seinen vornehmen Namen in Lynges Blatt sahen. Was nun? Natürlich war der Mann nicht nur um seiner selbst willen zum Mitarbeiter der Nachrichten gemacht worden, und deshalb durfte man nicht allzuviel auf ihn setzen. Die Abonnenten aus den Kerntruppen der Linken, die schockweise die Nachrichten verlassen und zum Norweger übergegangen waren – waren das etwa Kleinigkeiten?
Lynge konnte übrigens die Leute nicht begreifen, die den Norweger lasen, dieser steife Fettklumpen, der keine Striemen schlagen oder einen Agenten stürzen konnte, und wenn es sein Leben gegolten hätte! Er wünschte seinem Gesinnungsgenossen alles Gute, aber er war ihm im Wege, er konnte sich daher nicht tummeln, wie er es wünschte; sein Prinzip war, ein Blatt trotz allem gelesen zu machen, und der Norweger durchkreuzte dieses Prinzip durch seine unerträgliche politische Stetigkeit.
Plötzlich läßt Lynge den Geschäftsführer rufen. Ein kleiner, magerer Mann mit schwarzem Bart tritt ein. Er hat ein paar Aktien im Blatte und ist diesem mit Leib und Seele ergeben.
Lynge habe gehört, daß sie Abonnenten verlören?
Ja, und diese sollten zum Norweger übergegangen sein.
Lynge überlegt. Der kleine Geschäftsführer überlegt ebenfalls.
Der Norweger habe die Inserate der Dampfschiffsgesellschaften, sagt er.
Hatte er die? entgegnet Lynge fragend.
Ja, und der Norweger habe auch die Inserate vom Kanalwesen in Fredrikshald.
Ja, sagt Lynge mit einemmal, die dürfe er, offen gesagt, nicht haben. Das richtigste sei, daß man in den verbreitetsten Blättern annonciere, und das verbreitetste Blatt seien die Nachrichten. Nein, fern sei es ihm, einem Gesinnungsgenossen zu Leibe zu wollen; aber dieser Gesinnungsgenosse unterstütze ihn nicht mehr in der alten Politik der Linken, im Gegenteil, er hemme die Tätigkeit der Nachrichten. Deshalb müsse er ihn bekämpfen; das sei Prinzipienfrage. –
Sie sprachen ein wenig von den abgefallenen Abonnenten, Lynge erfuhr ihre Anzahl, es wurden viele bekannte Namen der Linken genannt; mehrere hatten ausdrücklich die Unionsartikel als Grund ihrer Kündigung angegeben.
Ehe der Geschäftsführer ihn verließ, war ein kühner Plan hinter seiner kleinen, verschlagenen Stirn gereift.