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Im Bureau der Nachrichten fing es an still zu werden; Lynges verschiedene Standpunkte in der Politik hatten die Freunde scheu gemacht; nur einer oder der andere von den allergetreuesten, Leute, die sich zusammengerottet hatten, um eine Mittelpartei zu stiften, ein Advokat, ein paar Professoren, drei, vier politisierende Damen besuchten ihn noch oft und sprachen durch sein Blatt gemäßigt zum Publikum. Niemand wußte mehr, wohin Lynge selbst eigentlich gehörte.
Er selbst wußte es kaum. In seinem Bureau, in Zeitungen und Papiere begraben, düstern Sinnes, enttäuscht und geschlagen, sitzt Lynge in seinem Lehnstuhl und denkt nach. Sein Stuhl war einst mit einem Thron zu vergleichen gewesen; jetzt konnte man ihn kaum für einen soliden Schemel rechnen, und er selbst war herabgesunken zu einem einfachen Redakteur unter anderen Redakteuren, der auf Fehlern ertappt wurde, auf Schwankungen, ja, auf Unzuverlässigkeiten. Was doch alles auf der Welt passieren kann.
Die letzten Tage waren hart für Lynge gewesen. Nun war er sogar wider alles Erwarten an ihrem gemeinsamen Theaterabend von Frau Dagny derb zurückgewiesen worden; ja, die schöne Frau hatte ihn beinahe vor die Tür gesetzt. So weit hatte er sich bis jetzt niemals vorgewagt, wenn er seines Sieges nicht ganz sicher gewesen, und hier war nun sein heißes Herz mit ihm durchgegangen und hatte ihn in Ungelegenheiten gebracht dieser kalten, höchst berechnenden Künstlerdame gegenüber! Er konnte es beinahe nicht fassen. Allerdings hatte er Frau Dagny die Freude nicht machen können, ihr den Orden zu bringen; die Umstände waren gegen ihn gewesen, das Ministerium fiel, und das Lied war aus; aber er hatte gehofft, daß Frau Dagny an ihm selbst etwas gefunden, an seiner Person, das ihr wert gewesen. Nun hatte es sich gezeigt, daß dies bißchen Orden wirklich von Bedeutung für diese Frau gewesen; daß alles zwischen ihm und ihr vorüber, wenn der Orden nicht beschafft werden konnte. War das nicht lächerlich? Er hatte sie so gut wie gar nicht berührt; er hatte den Arm nur um ihre Taille gelegt und innerlich gekichert, wie er es zu tun pflegte: Tihihihihi, du bist mein, du! aber da war sie plötzlich in ihr Schlafzimmer gegangen und hatte einfach den Schlüssel im Schloß umgedreht. Sie hatte es dem alten Fräulein Gude überlassen, ihn an die Tür zu begleiten; das war das trübselige Ende des Besuches.
Mehrere Nächte hindurch hatte Lynge wieder mit geballten Fäusten geschlafen, gleich wie in jenen ersten Studententagen, da er sich zu allem und jedem meldete und überall abschlägig beschieden wurde. Die Widerwärtigkeiten fingen an, überhand zu nehmen; Höjbros Broschüre hatte ihm ebenfalls eine Menge Ärger und Nachdenken verursacht, die er früher nicht gehabt. Was sollte er gegen diese Schmähschrift tun? Sie niederhöhnen, mit der ganzen Sache Spaß treiben? Jetzt gab es keine Frau Dagny mehr, die für den Narren mit dem bahnlosen Kometen bat, man mußte ihn auf der Stelle durch Spott vernichten und ihn im Gelächter der Leute begraben. Andererseits aber, war es ratsam, mit diesem Manne anzubinden, ihn so frech herauszufordern? Weiß Gott, wozu der imstande war; von einem Lumpen konnte man alles erwarten. Lynge beschloß, mausestill zu sein, sowohl über die Schrift, wie über den Verfasser; das war das Edelmütigste. Und er wußte bestimmt, daß, wenn er schwieg, auch die übrigen Blätter schweigen würden, der Norweger einbegriffen, der drei Wochen warten würde, bis er das Wort sagte, das gesagt werden mußte, und die Sache kollegial für immer begrub.
Als aber zwei Wochen vergangen waren, wurde es Lynge unmöglich, diesen Beschluß festzuhalten; so schläfrig konnte er nicht länger sein; das lag ihm nicht. Auf alle Fälle mußte er den Ruf der Nachrichten als bestunterrichtetes Blatt heben und der Welt sagen, daß der anonyme Verleumder bekannt sei. Der Mann sei in der und der Bank angestellt, gegen seinen Wandel sei vielleicht nichts zu sagen, darüber wisse Lynge nichts, er wolle eine kleine Andeutung in Bezug auf schlechte Zeugnisse wagen; an einem Manne, der von seinen eigenen Freunden angegeben wurde, müßte etwas haften, und Endre Bondesen hatte ihn ausdrücklich einen Flegel, einen Wegelagerer genannt. Zur größeren Sicherheit schickte Lynge den erfahrenen Leporello hinunter zu Höjbros Chef, um sich zu erkundigen; aber dort wurde ihm die Tür gezeigt. Nun findet Lynge, daß es anfängt, alle Grenzen zu überschreiten; dem Manne, der von den Nachrichten kam, von ihm kam, wurde die Tür gezeigt? Seine Freimütigkeit flammt hoch auf, und er begibt sich selbst hinunter zum Bankdirektor, im Namen des Gesetzes und der Ordnung. Noch fühlt er seine alte Kraft in sich, und mit hoch erhobenem Haupte tritt er ein in die Bank, wie ein Mann, der sich niemals beugt, nie um einen Zoll weicht. Er sagt dem Chef unter vier Augen, weshalb er kommt – die Bücher her!
Aber die Tür wurde ebenso höflich, ebenso hübsch vor ihm geöffnet, und als er draußen war, wieder hinter ihm geschlossen!
Da war es aus mit Lynges Geduld; er ging in sein Bureau und schrieb die erste vorläufige Notiz mit funkelnden Augen. Der Wandel des Pamphletisten war nicht fleckenlos und sein Leumund so schlecht wie er nur sein konnte.
Und Höjbros Broschüre war wirklich so ungerecht, so einseitig, daß Lynges Zorn erklärlich war. Ach, wie war sie einseitig! Ein Mann mit seinen großen Verdiensten und seinem guten Herzen durfte dem Hohngelächter des Landes nicht preisgegeben werden, selbst wenn er in neuigkeitsarmen Zeiten Revolte in der Politik machte und sein Blatt in die Höhe brachte. Inmitten aller Widerwärtigkeiten hatte Lynge auch Auge und Ohr für andere als sich selbst; hatte er vielleicht den armen Dichter in der Bodenkammer der Tordenskjöld-Gasse vergessen? Lynge nahm seine Hand nicht von ihm. Bis jetzt hatte Fredrik Ihlen einen Stuhl im Bureau der Nachrichten innegehabt, jetzt aber sollte Fredrik Ihlen fort; Lynge hatte einen anderen Menschen an seiner Stelle gefunden, – gerade dies neue, vielversprechende Genie in der Tordenskjöld-Gasse. Lynge hatte seinen angefangenen Roman gelesen und gefunden, daß er etwas wert sei; man durfte das Talent nicht verkommen lassen, man mußte das Talent unterstützen. Und beim Gedanken hieran wurde Lynge wieder das offene Herz, zeigte er wiederum seine schöne Eigenschaft, Talenten zu ihrem Recht zu verhelfen.
Er öffnet die Tür und ruft hinaus:
»Ach, Ihlen, kann ich einen Augenblick mit Ihnen sprechen.«
Und Ihlen kommt.
»In einer Versammlung haben wir beschlossen, das Budget unseres Blattes ein wenig zu entlasten,« sagt er; »ich habe mir gedacht, daß ich möglicherweise mit etwas weniger Hilfe in der Redaktion fertig werden könnte, und da gibt es dann wohl keinen anderen Ausweg, als daß wir beiden uns trennen.«
Ihlen starrt ihn an. Sein Gesicht war in der letzten Zeit lang und bleich geworden, seit Wochen hatte er gearbeitet wie ein Sklave, nur um die Bäckerrechnung seiner Mutter zu bezahlen; die elende Bezahlung, auf die Lynge ihn herabgesetzt, hatte ihn dazu getrieben, Notizen zu schreiben, unzählige Notizen, die Lynge im Zwischenraum von einigen Tagen immer durchsah und verwarf; wenn er guter Laune war, pflegte er ein paar dieser armseligen Papiere herauszusuchen und sie dem Faktor mit herablassendem Lächeln hinzuwerfen. Ihlen konnte nicht begreifen, daß seine Arbeit mit einem Male so schlecht geworden war, und er schrieb und strich und quälte sich aufs äußerste, um es das nächste Mal besser zu machen. Und das alles half nichts; seine Notizen wurden ihm zurückgegeben, bündelweise, bogenweise, vorgestern sogar ohne auch nur gelesen zu sein.
»Wir werden natürlich mit Freuden Beiträge von Ihnen entgegennehmen,« fährt der Redakteur fort, als Ihlen schweigt, »aber Ihren Platz bei der Zeitung müssen wir leider eingehen lassen.«
»Aber weshalb das?« fragt Ihlen endlich und starrt den Redakteur ganz verwundert an.
»Ja, weshalb! Das ist nun einmal ein Beschluß, und außerdem … Aber Sie brauchen heute ja noch nicht zu gehen, es kann ja morgen oder irgendein anderer Tag sein.«
Aber Ihlen kann es doch nicht begreifen.
»Ich finde dies nicht sehr rücksichtsvoll«, sagt er.
So großer Naivität gegenüber muß Lynge schonungsvoll sein; er zuckt nur die Achseln und antwortet:
»Rücksichtsvoll? Ja, so verschieden sind nun die Ansichten! Haben wir nicht schon eine ganze Menge von Ihren Arbeiten gedruckt und gut bezahlt? Gerade über Rücksichtslosigkeit können Sie wohl am wenigsten klagen, nicht wahr? Wenn ich mich recht erinnere, haben wir sogar einmal eine Notiz über die Handarbeiten Ihrer Mutter gebracht und versucht, ihr Kundschaft zu verschaffen.«
»Ja, das hat aber doch nichts mit dieser Sache zu tun«, erwidert Ihlen.
Lynge wird ungeduldig, er setzt sich an seinen Platz und nimmt einige Papiere, in denen er blättert.
Jetzt erwacht Ihlens ehrlicher Zorn. War er denn nicht ein erwachsener Mensch, und hatten nicht die Nachrichten selbst ihm einen Namen in der heimischen Wissenschaft gegeben? Er sagt:
»Ich habe wirklich nicht so viel in der letzten Zeit verdient, daß mir nun auch noch diese Kleinigkeit genommen werden soll.«
»Aber du lieber Gott, Mensch,« erwidert Lynge hitzig, »begreifen Sie denn immer noch nicht, daß wir nicht brauchen können, was Sie schreiben? Sie müßten doch selbst einsehen, daß es unbrauchbar ist; es ist ohne Interesse, niemand liest es.«
»Aber Sie haben doch selbst einmal gesagt, es sei gut.«
»Ach ja, mit dem Ausstellen von solchen Attesten kann man niemals vorsichtig genug sein.«
Nun, es blieb also für Ihlen nichts mehr zu tun übrig, er schweigt und zieht sich rückwärts bis an die Tür zurück. Und das Stipendium? Hatte ihm Lynge nicht auch bei Zeit und Gelegenheit ein Stipendium in Aussicht gestellt?
Ihlen geht ins Bureau. Der Sekretär fragt:
»Was ist los?«
»Verabschiedet«, sagt Ihlen mit müdem Lächeln.
Er beginnt seine Papiere zu sammeln und seinen Tisch aufzuräumen, er holt sein Bündel mit kassierten Notizen aus Schiebladen und von Regalen; er wollte sie alle mitnehmen, sogar das Manuskript zu seinem berühmten ersten Artikel über die große Nationalfrage von zwei Millionen, das noch als liebe Erinnerung an die Zeit seiner Größe zwischen seinen Papieren liegt. Und als er fertig ist, will er zum Redakteur hineingehen und Adieu sagen, aber er muß einen Augenblick warten; ein Mann ist gerade gekommen, der Ministerialbeamte Kongsvold, der direkt in das Bureau des Redakteurs geht, als ob seine Sache keinen Aufschub erleide.
Lynge empfängt seinen alten Freund aus den Studententagen mit einem fragenden Blick. »Bitte, nimm Platz!«
Kongsvold sieht sich geheimnisvoll um, dankt mit leiser Stimme und zieht ein Papier aus der Tasche.
»Das ist die Liste«, sagt er. »Die Vorschläge für die Jurymitglieder. Sie geht heute abend nach Stockholm.«
Über diese unerwartete Freude geht Lynges Dankbarkeit in hohen Wogen, er durchfliegt die Liste, verschlingt sie mit neugierigen Augen und drückt Kongsvolds Hand.
»Du hast mir einen großen Dienst geleistet, alter Freund, du kannst sicher sein, daß ich es nicht vergesse.«
Aber Kongsvold will die Liste nicht aus den Händen lassen, aus Furcht, daß seine Handschrift ihn verraten könnte; man konnte nicht wissen, was geschehen würde; die Frage nach der Quelle, nach dem Gewährsmann konnte aufgeworfen werden. Und Lynge selbst muß die Liste abschreiben.
»So hoffe ich denn, daß du mich um Gottes willen nicht verrätst!« sagt Kongsvold. »Das wäre gleichbedeutend mit meinem sofortigen Abschied.«
»Wo denkst du hin! Etwas so Schlechtes glaubst du doch wohl keinen Augenblick von mir?«
»Nein, nein, ich habe nur so große Angst. Natürlich verrätst du mich nicht freiwillig, aber ich meinte unfreiwillig, aus Versehen. Und wie würde es gehen, wenn man eine Pression auf dich ausübte?«
»Man preßt mich nicht länger, als ich selbst will, Kongsvold. Ich verrate deinen Namen natürlich nie, ich bin kein Verräter.«
Dann erhebt Kongsvold sich und will gehen.
»Nun,« sagt Lynge, »jetzt hast du ja wieder einen konservativen Chef?«
»Ja, es ist wirklich so gekommen.«
Und Lynge nickt:
»Was habe ich gesagt! Eine Regierung ohne Treu und Glauben kann in Norwegen keinen Bestand haben. So weit sind wir denn doch endlich.«
Die beiden Männer sehen sich an; Lynge zuckt mit keiner Wimper.
»Adieu«, sagt Kongsvold.
Aber Lynge will ihn zurückhalten.
»Wart' einen Augenblick, ich komme mit; wir gehen ins Grand.«
»Nein, das wage ich nicht; gerade jetzt dürfen die Leute uns nicht zusammen sehen.«
Kongsvold ging.
Und als Ihlen zu Lynge hineinkam, um sich zu verabschieden, traf er den Redakteur als einen ganz anderen Mann, er war ordentlich munter vor Freude. Hätte er Ihlen jetzt in irgendeiner Weise helfen können, hätte er es bereitwillig getan.
Er sagte:
»Ich will Ihnen eine Anweisung auf Ihr Guthaben geben. Der Kassierer ist jetzt wohl schon fort, aber Sie treffen ihn morgen.«
»Ich habe kein Guthaben mehr,« entgegnet Ihlen, »das letzte habe ich bekommen.«
»Ja, ja. Schicken Sie uns dann und wann einen Artikel, wenn es Ihnen recht ist.«
Dann sagte Ihlen Adieu und ging.
Jetzt sah ihm auf der Straße niemand mehr nach. Die Leute kannten ihn und ließen ihn ruhig des Weges gehen mit seinem Bündel kassierter Notizen unterm Arm. Ihlen hatte seine Zeit ausgedient, er hatte die Neugierde befriedigt und war fertig. Jetzt kam der nächste an die Reihe.
Ihlen gelangte nach Hause, ohne daß irgend jemand den Hut vor ihm gelüftet hatte.