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Einige Tage später ging Höjbro vom Hause fort, um sich nach der Bank zu begeben. Es war erst acht Uhr morgens. Es war ein milder, klarer Tag, die ersten Frühlingsanzeichen, und Höjbro hatte den Einfall gehabt, dem einen oder anderen seiner Kameraden seine Verlegenheit mit der Bank anzuvertrauen; man würde ihm ganz gewiß helfen, wenn er sich an irgendeinen wandte, und die Hoffnung hierauf versetzte ihn in fröhliche Stimmung. Wie hell und klar war aber auch der Morgen; der Schnee schmolz, und in den Bäumen lärmten die Vögel, hüpften von Zweig zu Zweig und zwitscherten.
Er war ein Stück Wegs die Straße hinuntergekommen, als er die beiden Schwestern Ihlen vor sich sah; Charlotte trug schon eine helle Jacke.
Er blieb beinahe stehen, mit einemmal durchzitterte ihn die Unruhe, die in Charlottens Nähe immer über ihn kam; ein paar Augenblicke war es ihm, als ob er in einer Schaukel säße, halb erstickt von dem sausenden Wohlbehagen, das ihm durchs Herz zog, wenn er abwärts flog. Er wollte langsamer gehen, hielt sich den ganzen Weg hinter ihnen, aber die Damen hatten ihn schon gesehen, und er hatte keinen vernünftigen Vorwand, um in eine Seitengasse einzubiegen. Was hatten die beiden Schwestern aber auch schon des Morgens nach acht Uhr auf der Straße zu tun!
Sie grüßten einander, und Sofie sagte sofort, daß das leuchtende Wetter sie hinaus gelockt habe. Charlotte war auffallend munter, sie ließ den Kopf nicht mehr hängen, wenn ein Spaziergänger, der ihnen entgegenkam, sie ein wenig anstarrte; weil sie heute so gut aussah, lachte sie laut auf und machte witzige Bemerkungen über ihn. An Höjbro richtete sie nicht ein einzigesmal das Wort.
Die Damen sollten doch die Gelegenheit benutzen, und um neun Uhr die Ausstellung besuchen, sagte er.
Sofie war willig, aber was meinte Charlotte?
Charlotte sagte kurzweg Nein.
Also nein, sagte Höjbro, dann könnten sie ja ins Storting gehen; dort sei es ebenfalls zur Zeit höchst interessant.
Aber Charlotte wollte auch nicht ins Storting gehen. Charlotte wollte auf der Straße bleiben und Menschen sehen.
Nun, dabei war also nichts zu machen; wenn alles, was er vorschlug, verworfen wurde, so würde er nichts mehr sagen. Er schwieg.
»Freuen Sie sich sehr auf den Frühling?« fragte Sofie.
»Ja. Ich weiß nicht, ob ich mich je nach ihm so gesehnt habe wie in diesem Jahr,« erwiderte er.
»Das ist ganz natürlich«, bemerkte Charlotte und lachte kurz auf, »es hat Sie auch wohl noch in keinem Winter so sehr gefroren wie in diesem.«
Sofie warf der Schwester einen erstaunten Blick zu.
Sie waren in den Park gekommen. Plötzlich bleibt Sofie stehen und sagt ärgerlich:
»Ich habe das Buch vergessen. Nein, nun muß ich wieder zurückgehen.«
»Das kann doch Herr Höjbro tun«, sagte Charlotte und deutete mit dem Kopf nach Höjbro hin.
Sofie warf ihr abermals einen Blick zu.
»Ich habe das Buch noch auf den Tisch gelegt, aber natürlich mußte ich es vergessen«, sagte sie.
»Ja, aber Höjbro kann es doch holen«, sagte Charlotte wieder. Sie sagte es fast mit gerunzelter Stirn.
»Zuerst müßte man doch Herrn Höjbro fragen, ob er so freundlich sein will«, sagte Sofie.
»Mit Vergnügen! Was ist es für ein Buch? Wo liegt es?«
Es läge da und da. Ein Buch, das in der Leihbibliothek umgetauscht werden sollte. Aber es sei unrecht, ihn damit zu behelligen …
»Laß ihn nur gehen«, unterbrach Charlotte.
Und Höjbro ging.
Als er zurückkam, waren die Schwestern noch auf derselben Stelle.
»Wie schnell Sie zurückkommen! Tausend Dank!« sagte Sofie. Sie war wirklich dankbar für diesen Dienst.
Und sie gingen wieder weiter.
»Jetzt kann man bald wieder Rad fahren«, sagte Sofie zur Schwester.
»Ich fahre nie wieder«, antwortete Charlotte. »Jetzt kannst du das Rad ein Jahr bekommen, wenn du willst.«
»Das ist der Dank, den man davon hat«, sagte Sofie scherzend zu Höjbro. »Kaum hat sie das Rad bekommen, wirft sie es auch schon wieder fort.«
»Ich schenke es dir!« fügte Charlotte hart und bestimmt hinzu.
»Soo – ja; immer besser und besser!« Sofie versuchte, es ins Scherzhafte zu ziehen, aber die gereizte Stimmung der Schwester setzte sie in Verlegenheit. »Du solltest dich schämen!« sagte sie leise.
Aber plötzlich wurde Charlotte bleich und rief:
»Du bist wirklich unausstehlich mit deiner Wichtigtuerei, Sofie. Als ich sagte, Herr Höjbro würde das Buch gewiß holen, so war das nicht recht; sage ich, daß du das Rad ein Jahr benutzen darfst, statt meiner, so weiß ich, daß auch Herr Höjbro nichts dagegen hat; aber gleich ist das auch wieder nicht recht. Ich tue nichts, was nicht verkehrt wäre. Das ist nun doch aber auch ein wenig zu viel des Guten.«
Pause. Sofie suchte nach Worten.
»Es fehlte nur noch, daß auch Herr Höjbro anfinge, mich zurechtzuweisen«, fuhr Charlotte fort.
»Ich?« fragte Höjbro. »Weshalb sollte ich Sie wohl zurechtweisen?«
»Ich sagte auch bloß, das fehle nur noch.«
Sie waren bis an die Universitätsuhr gekommen, und Höjbro fragte:
»Wollen wir nicht ins Grand hineingehen und eine Kleinigkeit nehmen? Ich sehe, ich habe gerade noch Zeit.«
»Danke,« erwiderte nun Charlotte, »wir müssen ja diesen Weg nach der Bibliothek gehen.« Und sie deutete hinunter nach Tivoli. »Übrigens allerbesten Dank.«
Sie hatte liebenswürdiger geantwortet, als während des ganzen Spazierganges. Der Verdacht stieg in ihm auf, daß sie seines Anzuges wegen nicht mit ihm nach Grand gehen wolle; er hatte noch immer keinen Überrock, und selbst sein Jakett fing an den Ärmeln an sich durchzustoßen. Mit bitterem Lächeln sagte er:
»Ja, ja; ich will einen Augenblick nach Grand hinein und irgend etwas Warmes zu mir nehmen; Fräulein Charlotte hat ganz recht, mich friert.«
Er wollte grüßen und verschwinden; aber mit einemmal reichte Charlotte ihm die Hand. Er war ganz verwundert. Sie drückte ihm die Hand, drückte sie, und indem er die Straße hinunterging, begann er zu sinnen, weshalb sie ihm plötzlich die Hand gedrückt habe. Wollte sie sich wirklich herablassen, jetzt liebenswürdig zu sein, nur um den Eindruck ihrer früheren Bosheit zu verlöschen? Er hatte nur ein paarmal zuvor ihre Hand in der seinen gehalten, er fühlte noch die ihn glücklich durchrieselnde Bewegung in der Brust und hörte ihre Stimme, als sie sagte: »Aber Sie sind ja ganz warm? Ich fühle Ihre Wärme durch den Handschuh; es friert Sie ja gar nicht?«
Aber was sollte das alles bedeuten? Weshalb war sie denn geradezu unhöflich gewesen, während er ihr doch gar nichts getan hatte? Und sogar das Zweirad wollte sie verschenken. Nun – es war ja nur ein Band mehr, das zerriß; weshalb in aller Welt dachte er denn an sie?
Er blickte ihr nach. Da ging sie nun durch den Studentenhain; die helle Jacke kleidete sie so wunderbar; wie ein Schmetterling zwischen Bäumen nahm sie sich aus. Aber in Gottes Namen, – laß sie gehen, laß sie fortflattern, verschwinden! Jetzt war er ihr ferner denn je, – sie hatte ihn den ganzen Morgen geradezu verhöhnt.
Er blieb stehen. Da – da verschwand sie! Und einen Augenblick noch starrte Höjbro nach dem Gebüsch hin, das sie verdeckte; er rang die Hände – nein, sie kam nicht wieder zum Vorschein. Dann ging er weiter.
Als er beim Grand ankam, wollte er erst vorübergehen; eigentlich hatte er nicht das Geld, um im Grand Kaffee zu trinken; als ihm aber einfiel, daß er gesagt habe, er würde trotzdem ins Grand gehen, wollte er bei seinem Wort bleiben; es kostete ja eigentlich auch gar nicht so viel.
Er bekam seinen Kaffee und fing dann an zu überlegen, an welchen von seinen Kollegen er sich wegen des Zahlungstermins wenden könne; er suchte einen Mann mit vierzig, fünfzig Kronen; es müßte doch sonderbar zugehen, wenn er einen solchen nicht finden könnte. Plötzlich steht jemand neben ihm, der guten Morgen sagt.
Endre Bondesen. In einem neuen, feinen Anzug, mit freudestrahlendem Gesicht.
Bondesen hatte eine funkelnagelneue Art erfunden, sich Geld zu verschaffen. Nach der unglücklichen Geschichte mit Charlotte Ihlen hatte er beschlossen, seine Wohnung zu verändern, damit seine Adresse unbekannt blieb; wer konnte denn wissen, was dem Mädchen einfiel, ob sie nicht gar eines Tages wiederkam. Im Parkweg hatte er auch nicht für längere Zeit gemietet, und als der Monat um war, nahm er sich eine Wohnung von zwei Zimmern in der Bernt-Ankers-Straße. Er wohnte dort schon einige Tage, als in der unteren Etage ein kleiner, unschuldiger Küchenbrand ausbrach; das Feuer wurde sofort gelöscht; nichts Wertvolles war ruiniert, und die Hausbewohner gingen zu Bett und schliefen ruhig bis zum Morgen, als ob kein Brand stattgefunden hätte. Nur Bondesen schlief nicht, er war in Verlegenheit, es fehlte ihm an Geld, und er schmiedete die sinnreichsten Pläne, um sich welches zu verschaffen. Wie, wenn er den Brand ausnützte? Mußte er diese kleine Begebenheit nicht wie einen glücklichen Zufall betrachten, der ihm zu Hilfe kam? Er brachte selbst eine kleine, lebhaft schildernde Notiz in die Nachrichten, die sogar auf die Details einging. Beim Brande hatte nur ein Student Schaden erlitten, dessen Anfangsbuchstaben genannt wurden; er rettete nur sein Leben, sein ganzes Eigentum, seine Bücher, seine Garderobe gingen in Flammen auf. Aber der Student hatte das Bild seiner Eltern in den Händen gehalten, als er sich zum Fenster hinausstürzte.
Auf diese Nummer der Nachrichten hatte Bondesen dann seinen Vater aufmerksam gemacht; der Student war sein Endre, und so standen die Sachen jetzt. Es sei übrigens seine feste Hoffnung, daß eine Summe von der und der Höhe ihm wieder auf die Füße helfen werde; bis auf weiteres hatte man ihm einige Kleidungsstücke auf Kredit gegeben, so daß er wenigstens nicht ganz nackt war.
Und dieser Appell an den Vater hatte seine Wirkung; besonders hatte die Sache mit der Photographie, die aus den Flammen gerettet wurde, den alten Bauersmann tief gerührt; er hatte mehr gegeben, als er eigentlich konnte, hatte sogar etwas vom Inventar verkauft, von einem Nachbarn eine Kleinigkeit geborgt und auf diese Weise eine Menge Geld, eine ganze Menge Geld zusammengebracht. Von diesem Tage an konnte Endre nicht nur seine Läpperschulden hier und dort bezahlen, sondern er führte auch den ganzen Frühling hindurch Damen ins Tivoli; außerdem hatte er sich eine elegante Garderobe angeschafft. Jetzt war Endre Bondesen wieder obenauf und freudig und strahlend.
»Ja,« sagte er zu Höjbro, »da können Sie's sehen! Jetzt habe ich schon drei Nächte lang nicht geschlafen; aber merkt man mir's an, was? Werde ich dadurch etwa zu Haut und Knochen? Aber das habe ich meinem Zweirad zu danken; Sie glauben gar nicht, wie das Rad einen Menschen stärkt. Wenn auch Sie ein Rad hätten, würden Sie nicht so blaßnasig aussehen! Ja, entschuldigen Sie nur!«
Und Höjbro, dieser Bär, der Bondesen mit einer Hand hätte zu Boden drücken können, wandte nichts dagegen ein.
»Na, natürlich klappt man auch mal zusammen,« fuhr Bondesen fort, »man macht was mit, man schläft drei Nächte hintereinander nicht. Aber dann stirbt man und hat sich glücklich tot gelebt … Apropos, haben Sie die Nachrichten heute gesehen? Lynge bespricht das Pamphlet, ich meine die Broschüre. Hier steht es, hier, gleich auf der ersten Seite.«
Höjbro nahm das Blatt und las die kleine Notiz. Sie war so vernünftig, wie sie sein konnte, nur am Schlusse der gewohnte Hieb, der Striemen hinterließ: der Verfasser habe den Versuch gemacht, bekannte Leute zu verleumden, die der Gesellschaft seit einer langen Reihe von Jahren gedient hätten; die Nachrichten und ihr Redakteur seien über so verächtliche anonyme Angriffe erhaben. Den Nachrichten bliebe übrigens auch nichts verborgen, sie kannten den Verleumder, ein Mann, an dessen Wandel ebenfalls dies und jenes klebe und dessen Leumund nicht der allerbeste sei.
Höjbro biß sich in die Lippen. An dessen Wandel ebenfalls dies und jenes klebe! Den Nachrichten bleibe übrigens auch nichts verborgen! Hm!
»Nun,« sagte Bondesen, »hiermit ist die Sache noch nicht abgetan; sie wird wieder aufgenommen.«
»Ja,« sagte Höjbro auch, »wenn ich Lynge recht kenne, so nimmt er diese Sache wieder auf.«
»Was übrigens ganz begreiflich ist. Ich erinnere mich Ihrer Meinung von Lynge; sie ist nicht die beste.«
»Lynge ist in Wirklichkeit nicht schlechter, als daß er, wenn der Verfasser der Broschüre zu ihm ginge und sagte: Hier bin ich nun, ich bin es, der Sie angegriffen hat, und ich komme, um Ihnen dies zu sagen, – wenn der Mann dies täte, würde Lynge sich von dieser Aufmerksamkeit angemutet fühlen und sie anerkennen. Haha! Er würde kaum ausholen, um wieder zu schlagen. So wenig schlecht ist Lynge im Grunde genommen, das heißt: so wenig anhaltend, so wenig echt ist sein Zorn.«
»Ich höre daraus, daß Sie mit dem Verfasser der Broschüre durchaus einer Meinung sind.«
»Ja, ich bin vollständig seiner Meinung.«
Pause.
»Kennen Sie den Verfasser?«
»Ja.«
»Darf man fragen, wer er ist?«
»Ja, ich bin es.«
Bondesen hatte diese Antwort nicht erwartet; er starrte Höjbro einen Augenblick an und schwieg. Es entstand wieder eine Pause.
»Lesen Sie auch gleich die Verse auf der anderen Seite«, sagt Bondesen.
Endlich hatte Bondesen debütiert. Es war eine Hymne an den Frühling, drei Verse, große, gewaltige Tyraden, ein frisches Hurra an das Sprießende, Aufblühende im Volke und im Vaterlande, wo neuer Anfang zum guten führte. Bondesen hatte sich mit diesen Zeilen große Mühe gegeben und viel hübschen Sinn hineingelegt.
»Wie finden Sie es?« fragte er.
»Darf ich gratulieren?« erwiderte Höjbro. »Ausgezeichnet gemacht, glaube ich. Ich verstehe mich nicht besser darauf.«
»Wirklich? Darauf müssen wir ein Glas trinken«, rief Bondesen und schellte.
Jetzt aber stand Höjbro auf; er mußte nach der Bank, wenn er nicht zu spät kommen wollte; es fehlten nur noch fünf Minuten.
Er ging.
An dessen Wandel dies und jenes klebte! So – also Lynge hatte ihn in seiner Hand. Nun wußte er, was er zu erwarten hatte. Lynge würde ihn nicht schonen; das war seine Art nicht. Wenn der Mann im Dunkeln gegen eine Wand stieß, würde er in der Wut mit der Faust gegen die Wand schlagen und dann würde er die Zähne zusammenbeißen und noch einmal mit der Faust gegen die Wand schlagen, um seinem kindischen Zorn Luft zu machen. Aber verzeihen konnte er, wenn man ihn darum bat. Schlechter als so war er nicht.
Aber wußte er denn wirklich etwas? Woher sollte er etwas erfahren haben? Vom Bankchef? Aber dann wäre Höjbro ja augenblicklich verhaftet worden. War es wirklich nur reine Frechheit, daß Lynge etwas über seinen Wandel hinausschleuderte? Sobald er in die Bank kam, würde er darüber wohl aufgeklärt werden.
Und Höjbro trat wie gewöhnlich durch die doppelte Glastür ein, er grüßte, und das Personal dankte. Er sah nichts Ungewöhnliches in ihren Mienen. Als der Chef kam, beantwortete auch er seinen Gruß, ohne Befremdung zu zeigen; es müßte denn sein, daß er ihn noch milder als sonst angesehen hätte. Höjbro begriff es nicht.
Stunde auf Stunde verging, und nichts geschah. Als der Chef im Begriff war, die Bank zu verlassen, rief er Höjbro höflich in sein Bureau. Jetzt – jetzt also! Ruhig legte Höjbro die Feder aus der Hand und trat bei dem Chef ein. Natürlich, – jetzt kam der Todesstoß!
»Ich wollte nur eine Frage an Sie richten, wenn Sie gestatten«, sagte der Chef. »Man hat mir gesagt, daß Sie der Verfasser einer Broschüre sind, die vor ein paar Wochen erschienen ist …«
»Ja, das bin ich«, antwortete Höjbro.
Pause.
»Haben Sie die heutigen Nachrichten gelesen?« fragt der Chef weiter.
»Ja.«
Wieder eine Pause.
»Ich hoffe, daß Sie genug Selbstachtung haben, um vollständig zu übersehen, was das Blatt von Ihrem Wandel sagt, und in dieser Beziehung keine Schritte tun. Ihr Leumund ist gut.«
Höjbros Lippen bebten. Er hätte es begriffen, wenn man ihn seiner Stelle entsetzt hätte, ihn fortgejagt, ihn vor den Blicken des Chefs arretiert hätte. Dieser durch und durch ehrliche Mann war ihm zehn Jahre lang ein Vater gewesen, – er ahnte nichts. Höjbro brachte weiter nichts hervor als:
»Ich danke Ihnen, Herr Direktor; Dank! Dank!«
Der Bär weinte.
Der Direktor sah ihn an, nickte und sagte kurz, kürzer als er zu tun pflegte:
»Das war alles, Höjbro, nun können Sie gehen.«
Und in seiner Erregung sagte Höjbro noch einmal danke und ging.
Nun stand er um die Schlußzeit an seinem Pult, in wirren Gedanken, ganz wirren. Wußte Lynge etwas? Wenn er das allermindeste wußte, würde er ihn plötzlich zu Boden strecken, ohne weitere Vorbereitung, ebensogut heute wie morgen. Wenn er doch nur vorher der Papiere habhaft werden könnte! Der ganze Tag war so voll Unruhe und Überraschungen gewesen; erst heute früh Charlottens Verhöhnungen, dann ihr Händedruck, der noch sein Innerstes erwärmte, und endlich die Freundlichkeit des Chefs, die größeren Eindruck auf ihn gemacht hatte als alles andere, ja als alles andere! Wenn er doch nur nie gezwungen würde, den alten Ehrenmann aus seinem Wahn zu reißen!
Als er am Abend heimkam, zündete er die Lampe an, drehte den Schlüssel im Schloß um und setzte sich müßig in den Schaukelstuhl. Eine halbe Stunde später klopfte es an seiner Tür, aber er stand nicht auf, um zu öffnen. Es klopfte noch einmal, aber er öffnete doch nicht; er löschte die Lampe aus und blieb unbeweglich im Stuhl sitzen. Gott stehe ihm bei, wenn das Charlotte war! Er war nicht imstande, sie jetzt zu sehen; sie hatte gewiß ebenfalls die Nachrichten gelesen und sich ihre Ansicht gebildet; was sollte er ihr also sagen, auf die erste Frage antworten? Übrigens war es gewiß gar nicht Charlotte; und wenn sie es war, wollte sie ihn gewiß nur wieder ein wenig verhöhnen; unmöglich war es nicht! Was wußte er!
Das Klopfen hörte auf. Er saß im Stuhl, schlief in diesem Schaukelstuhl ein und erwachte erst tief in der Nacht, im Dunkeln, frierend, Füße und Arme erstarrt, mit einem Kopf, in dem noch vielerlei Träume schwirrten. Wieviel mochte wohl die Uhr sein?
An dessen Wandel dies und jenes klebte …
Er ging ans Fenster und schlug die Gardine zurück. Mondschein, mildes Wetter, Ruhe; ein Dienstmann kommt die Straße heraufgegangen, das einzig Lebendige, was er sieht; beim Schein der Gaslaternen sieht er, daß der Dienstmann einen roten Vollbart hat und eine Pelzmütze trägt. Was weiter, ob dieser Mann einen Bart hatte oder nicht? Ob es nicht am besten wäre, sich auszuziehen und schlafen zu gehen?
Plötzlich bleibt er stehen und hält den Atem an; er hört ein leises Geräusch von unten; wie ein Gegenstand, der gerollt, gezogen wird; er geht wieder ans Fenster und sieht, daß der Dienstmann unten, gerade vor der Haustür stehen geblieben ist. Was ging vor? Was wurde dort gerollt? Er öffnet das Fenster ein wenig und blickt hinunter. Das Zweirad, – das Zweirad kommt aus der Tür, langsam, vorsichtig, von Charlotte geführt. Der Dienstmann steht daneben und hilft ihr. Dann läßt Charlotte es los und sagt etwas, nennt mit leiser Stimme einen Namen, eine Adresse und bittet den Dienstmann, ihr morgen früh das Geld zu bringen, das man ihm geben würde.
Aber was für eine Adresse war das? Und weshalb wurde das Rad fortgeschickt? Es sollte zum Pfandleiher, Höjbro kannte diese Adresse gar wohl, dies Haus unten in der Stadt, wo auch seine eigenen Sachen versetzt waren. Und nun kam das Rad auch dorthin.