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Sechstes Kapitel

Bei Ihlens war man förmlich gelähmt vor Glück durch die alarmierende Veröffentlichung von Fredriks Arbeit. Man hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, Fredrik selbst hatte mit trostlosem Kopfschütteln gesagt, die Arbeit sei natürlich in den Papierkorb geworfen, und die Mutter verstand sich nicht auf dergleichen; wenn aber der Artikel nicht gedruckt wurde, so mußte er doch wohl nichts taugen. Und ihre Hände arbeiteten fleißiger denn je. Jetzt erschien alles in einem dunkleren Licht, als die gute Frau es je bisher zu sehen pflegte. Sie wußte auch nicht, was im letzten Monat über Charlotte gekommen war; die Tochter hatte so jegliche Lust zum Arbeiten verloren, daß sie an weiter nichts dachte, als in das blaue Kleid zu schlüpfen und aufs Rad zu kommen. Und dieser junge Mensch, Bondesen, war auch immer um sie herum, und das mochte ja angehen, denn Charlotte schien ihn gern zu haben; aber du lieber Gott, wenn der junge Mensch nicht mehr studieren und was werden wollte, so war die Sache auch wohl nicht, wie sie sein sollte; wohl hatte er einen ganz hervorragenden Gutsbesitzer zum Vater, aber darauf konnte sich ein Sohn doch nicht verheiraten.

Dann gab es noch etwas, was die gute Frau Ihlen nicht wenig bekümmerte, nämlich, daß ihr Zimmerherr, Herr Höjbro, eines Tages zu ihr gekommen war und das Eckzimmer gekündigt hatte. Das war am Tage nach einer Versammlung im Arbeiterverein gewesen, der das ganze Haus beigewohnt hatte. Sie hatte die Hände zusammengeschlagen und gefragt, weshalb er sie verlassen wolle; ob ihm irgend etwas besonders mißfallen habe? Sie würde Abhilfe schaffen, es wieder gutmachen. Als aber Höjbro sah, wie ungern sie ihn missen wollte, hatte er seine Kündigung zurückgenommen, und zwar mit trauriger Miene, mit Resignation. Trotzdem hatte er gesagt, daß er nichts Besseres wünsche, als bleiben zu können, wo er war, daß er es aber vorziehen würde, ein wenig näher der Bank zu wohnen, wo er arbeitete. Na, er blieb also; aber es war durchaus nicht sicher, daß er seine Kündigung nicht eines Tages in bitterem Ernst wiederholte, denn er kam nur noch äußerst selten zu ihnen in die Wohnung, hielt sich meist in seinem Zimmer auf und war sehr schweigsam.

Dies alles machte, daß Frau Ihlen sehr bekümmert in die Zukunft blickte.

Sie hatte ja so viel von Fredrik erhofft, wenn er mit seinem Studium fertig sein würde. Wohl ahnte sie, daß er kein Genie sei; er war ein ganz gewöhnlicher junger Mann mit mäßiger Begabung, darüber hatte Sofie sie belehrt, die im Grunde genommen auf ihre Weise viel klüger war; aber ein Mann, der seine Examina gemacht, konnte doch auch wieder nicht so ganz auf dem Trockenen sitzen, er mußte doch etwas mit seiner Gelehrsamkeit anfangen können, irgendein Lebebrot erringen können und sein Auskommen in aller Bescheidenheit finden. Da sowohl Bondesen wie die Töchter so große Hoffnung auf Fredriks Artikel gesetzt hatten, war Frau Ihlen ganz verzweifelt, da er nicht erschien. Sie hatte sogar den Gedanken gefaßt, Fredrik nach Amerika zu schaffen, wenn hier nichts aus ihm wurde; es gab ja so viele ausgezeichnete Menschen, die hinübergingen; sie kannte deren mehrere.

Da bekamen die Dinge mit einem Male eine andere Wendung. Die Nachrichten brachten eines Tages eine förmliche Ihlen-Nummer, zuerst Fredriks Abhandlung, darauf eine Notiz über Fredrik selbst. Das ganze Haus kam in Bewegung, selbst Höjbro hatte Frau Ihlens Hand mit einem wunderlichen Gesichtsausdruck gepreßt, als sie ihm erzählte, was geschehen. Und Bondesen schrie, so laut er konnte, glühend vor Begeisterung, stolz, daß er die Ursache von allem gewesen. Allerdings hatten sie lange warten müssen, und sogar Bondesens Vertrauen auf das Glück hatte heimlich angefangen zu schwinden; aber kaum hatte er die Ihlen-Nummer bekommen, so schwang er sich auch schon aufs Rad und raste unter ununterbrochenem Hallo zu Ihlens hinauf. Da sah man's nun wieder! Was hatte er die ganze Zeit gesagt? Nicht einen einzigen Tag hatte er das Vertrauen zu Lynge verloren. Hatte man denn je gesehen, daß er seine Pflicht versäumte? War er es nicht auch, der den Studenten Öjen, den Schriftsteller Öjen, entdeckt und sein Talent festgestellt hatte? Nichts entging Lynges Aufmerksamkeit; wer etwas anderes behauptete, las nicht die Nachrichten.

Besonders war Bondesen stolz darauf, daß es akkurat so gekommen war, wie er's in bezug auf die Überschrift zu Ihlens Artikel gesagt hatte. Er hieß nicht mehr: Einiges über unsere Beerensorten. Damit war den Leuten doch nichts geboten! Es waren drei Überschriften mit gewaltigen Typen, eine über der anderen: Beeren. Zwei Millionen erspart. Eine Nationalfrage. Seht, das sind Titel, die in die Augen fallen, mit denen ein großer Redakteur den Artikel lesenswert gemacht, ihn geadelt hat. Jetzt sollten die Leute ihn nur überschlagen, wenn sie konnten; aber sie konnten's nicht, wenn es eine Nationalfrage von zwei Millionen war; es war sozusagen das Leben.

Und neben diesem fetten Artikel tauchte auf der ersten Seite eine feine, doppelt durchschossene Redaktionsnotiz über Ihlen selbst auf: Herr Ihlen, von dem unser Blatt heute den sensationellen Artikel über unsere Beerensorten brachte, hatte im letzten Heft der Letterstedtschen Zeitschrift eine Abhandlung über Pilze veröffentlicht, die sowohl wissenschaftlich wie sprachlich absolut außerordentlich sei und manche Diskussion veranlassen würde. Es sei die glänzendste Analyse von eßbaren Pilzen und giftigen Pilzen, Pilzen mit Geruch und Pilzen mit den herrlichsten Farben. Wenn Herr Ihlen noch mehr solche Dinge zutage fördern könne, habe Norwegen einen Mann der Wissenschaft mehr.

Ehrlich wie er war und klein wie er sich fühlte, hatte Ihlen selbst diese Notiz unter großen Zweifeln und vieler Anfechtung gelesen. Bondesen fegte all seine Bedenken beiseite. Wie – war er denn noch nicht zufrieden? Es hatte ja in den Nachrichten gestanden! Und Bondesen telegraphiert ganz einfach an seinen Vater, den Gutsbesitzer, um einige Extra-Kronen, um diese Begebenheit zu feiern.

Inzwischen kamen die Freunde dahin überein, daß Ihlen zu Lynge hinuntergehen und für die Auszeichnung danken solle. Und Ihlen ging. Unten in der Stadt stieß er aber zufällig auf Höjbro, der ihm davon abriet. Tun Sie's nicht, hatte Höjbro gesagt, – ich weiß nicht recht, ob Sie es tun sollen. Aber es zeigte sich, daß es trotz Höjbro richtig gewesen, es zu tun; Lynge empfing ihn überaus liebenswürdig, erkundigte sich, woran er jetzt arbeite, und bat um weitere Beiträge. Und schließlich hatte Ihlen eine sehr freigebige Anweisung auf die Kasse für seinen Artikel bekommen. Ja, Ihlen war sehr zufrieden, daß er zu Lynge gegangen war und ihm gedankt hatte.

Höjbro mußte ja immer seine eigenen Ansichten über Dinge haben; er schien sich nicht bewußt zu sein, daß er dadurch sonderbar, ja, fast komisch wurde. Seit dem Abend, wo er viel Aufsehen durch sein Pech im Arbeiterverein gemacht hatte, war Höjbro sich nicht mehr ähnlich gewesen, er war bleich, still, beinahe scheu geworden. Alle im Hause taten ihr Bestes, damit er sein Fiasko überwinde, aber Höjbro lächelte über diese kindlichen Versuche.

Er war Charlotte eines Morgens auf der Treppe begegnet; unwillkürlich waren beide stehen geblieben, und sie war rot geworden. Höjbro konnte sich nicht überwinden und fragte lächelnd:

»Nun, Fräulein, noch nicht in dem blauen Kleide?« Und zugleich sah er auf die Uhr und fügte ironisch hinzu: »Schon halb neun.«

Das aber war zu viel für Charlotte. Vielleicht hatte sie am Ende doch nicht mehr die große Freude an dem blauen Kleide, wie alle glaubten. Aber was sollte sie machen? Bondesen zog sie mit, das Rad stand geputzt und wartete, und das Kleid mußte angezogen werden. Sie schwieg, um ihre Mundwinkel zuckte es.

Er sah, daß er sie beleidigt hatte, und wollte es wieder gutmachen. Sie war doch die Schönste und Beste auf der Welt, und obgleich er boshaft gewesen, verzieh sie ihm und stand am Geländer, ohne zu gehen. Das war mehr, als er verdiente.

»Verzeihen Sie mir?« sagte er. »Ich will nicht sagen, daß ich nicht die Absicht gehabt, Sie zu verletzen, denn die hatte ich. Aber ich bereue es.«

»Mich dünkt, Ihnen kann es gleichgültig sein, ob ich ein blaues oder ein graues Kleid anhabe«, entgegnete sie.

»Ja, ja.«

Das waren ja bloße Worte. Er lüftete den Hut und wollte gehen.

»Ich meinte nur,« sagte sie wieder, »daß es Ihnen gleichgültig sei. Sie kommen jetzt ja gar nicht mehr zu mir herein.«

Nun, er verstand die Höflichkeit, mit welcher sie die vorhergehenden Worte verdecken wollte. Er antwortete ebenso vorsichtig, ebenso kühl:

»Nein, ich habe eine Menge Kleinigkeiten zu ordnen, ich arbeite augenblicklich sehr fleißig.«

Dabei lächelte er und grüßte sehr tief.

Am selben Abend ging die ganze Familie auf Fredriks Kosten ins Theater, und Höjbro blieb allein zu Hause. Er starrte in ein Buch, las aber nicht. Charlotte war blaß geworden. Es mißkleidete sie nicht, nein, das feine Gesicht mit den vollen Lippen war noch zarter, noch schöner dadurch geworden; es gab überhaupt nichts, was sie nicht gekleidet hätte. Aber vielleicht quälte, beunruhigte sie etwas. Höjbro glaubte auch, eine gewisse Veränderung in ihrem Benehmen Bondesen gegenüber wahrgenommen zu haben; sie waren einander näher gekommen; einmal hatte er sie sogar flüsternd im Entree getroffen. Nun, für ihn war jedenfalls nichts mehr zu tun; nicht seinetwegen war sie am Morgen auf der Treppe errötet; das ging auch aus dem hervor, was sie später zu ihm gesagt hatte. Was nun? Die Zähne zusammengebissen, Leo Höjbro, und die Fäuste geballt! Jetzt galt es für ihn einzig und allein, die traurige Angelegenheit in der Bank zu ordnen, und dann durch Arbeit und Lektüre zu versuchen, zur Ruhe zu kommen, übrigens wäre er jetzt auch bald mit der Bank fertig gewesen, wenn nicht die brave Frau Ihlen eines Tages zu ihm ins Zimmer gekommen wäre und ihn gebeten hätte, ihr etwas Geld zu leihen, bis sie ihre halbjährliche Pension bekommen würde. Diesen Dienst hatte Höjbro ihr nicht versagen können; er sah es als einen Vertrauensbeweis ihrerseits an und hatte sich sehr darüber gefreut. Er würde mit der Bank vielleicht auch auf andere Weise fertig werden; vielleicht konnte er seine Ausgaben beschränken, dann und wann eine Mahlzeit ausfallen lassen; außerdem hatte er auch eine Uhr und einen Überrock, für die er keine große Verwendung hatte. Die Bank sollte das Ihre jedenfalls pünktlich bekommen.

 

Nun hatte Bondesens Vater, der Gutsbesitzer in der Gegend von Bergen, allerdings nicht so viel geschickt, wie der Sohn diesmal erbeten hatte, aber er hatte sein Herz doch nicht ganz und gar verschlossen; es reichte doch für dieses und jenes, und Bondesen legte nicht einen Heller beiseite, sondern ließ das Ganze springen!

»Nein, laß mich, laß mich die Flaschen aufmachen,« sagte er und nahm Ihlen den Pfropfenzieher fort, »in körperlichen Fertigkeiten bin ich ebenso bewandert, wie du in geistigen, hahaha!«

Sie kamen sofort in Stimmung. Frau Ihlen machte den Vorschlag, daß man Höjbro überreden solle, herein zu kommen; aber Höjbro hatte vielleicht schon das Knallen der Pfropfen gehört, er stand zum Ausgehen bereit mit dem Hut auf dem Kopfe, als Frau Ihlen zu ihm ins Zimmer kam. Besten Dank, er könne nicht, er sei zu einer Spielpartie in der Stadt geladen und käme bereits zu spät.

Bondesen rief durch zwei geöffnete Türen:

»Kommen Sie herein, Mensch! Kommen Sie herein! Ich bin nicht die Spur beleidigt, weil Sie im Arbeiterverein gegen mich gesprochen haben, ich halte es damit, jede ehrliche Überzeugung zu respektieren.«

Da lachte Höjbro leise und kurz auf und ging die Treppen hinunter.

»Was für ein Bär!« sagte Bondesen ruhig, »auf eine Freundlichkeit antwortet er mit Gelächter.«

Gleich darauf klingelte es an der Entreetür. Ihlen ging selbst, um aufzumachen; er ließ die Stubentür so lange aufstehen; natürlich war es der Postbote. Bitte! Danke!

Aber es war nicht der Postbote, es war der Redakteur Lynge.

Ihlen trat erstaunt zurück; aber Lynge lächelte und sagte, er habe nur eine ganz kurze Angelegenheit, ein Ansuchen, er wollte nur hereinschauen, da er doch gerade vorüberging.

Verwirrt über die große Ehre, ruft Ihlen in die offene Tür hinein:

»Mutter, Herr Redakteur Lynge ist hier, willst du nicht …«

Frau Ihlen kommt sofort und bittet den Redakteur herzlich, einzutreten. Es sei eine Freude, eine Ehre …

Und Lynge läßt sich endlich bewegen.

Die Sache war nämlich die, daß die Spekulation mit Ihlens Namen sich als eine sehr glückliche erwiesen hatte. Abgesehen davon, daß die Leute geradezu stutzten über das unentdeckte Genie und über die Nachricht, daß eine radikale Ausnützung unserer Beerenarten ihren Mann zum Kapitalisten machen und das Vaterland um zwei fette Millionen bereichern könne, machte Lynge wiederum Aufsehen durch die Unparteilichkeit und Bereitwilligkeit, womit er sogar einen Mann aus dem Lager der Gegenpartei anerkannt hatte. Das war Lynge, und wieder Lynge; wer sonst hätte das wohl getan? Er war und blieb unvergleichlich. Man hatte übrigens von der Unparteilichkeit dieses Mannes schon aus früheren Jahren Beweise; z. B. als er damals den Schriftsteller Öjen entdeckte, von dem er faktisch nichts anderes wußte, als daß er ein Genie sei; dessenungeachtet konnte er aber der schlimmste Reaktionär der Welt sein; und dann damals, als er seinen eigenen Leporello verleugnete, als dieser auf nächtliche Abenteuer ausgegangen war. Ja, Lynge war sich wahrlich des hohen Berufs der Presse bewußt! Und durch dieses Manöver erarbeitete er sich wieder verschiedene Abonnenten!

Jetzt hatte seine Entschlossenheit ihm wieder eine Idee eingegeben, eine ausgezeichnete Idee, und deshalb war er ohne weitere Umstände zu Ihlens hinaufgegangen. Er hatte allerdings aus diesem Grunde der politischen Versammlung im P. L. K. Politischer Klub. fernbleiben müssen, wo der Odelstingspräsident sprechen würde; aber man konnte ja nicht überall sein. Außerdem hatte er sich getreulich bei der großen Versammlung des Arbeitervereins eingefunden; es gab doch auch eine Grenze für das, was man von einem einzelnen Manne verlangen konnte.

Er wendet sich an Ihlen und kommt gleich zu dem Zweck seines Besuches: er hatte etwas vergessen, als Herr Ihlen ihn das letztemal in seinem Bureau besuchte; er wollte hören, ob man Ihlens nächste Abhandlung über die Reinkultur von Hefe in den Nachrichten veröffentlichen könne, ehe sie als Broschüre erschien. Oder, wenn er ihm nicht die ganze Abhandlung überlassen könne, dann doch Teile davon, den Hauptinhalt. Er komme mit diesem Ersuchen mit Rücksicht auf die Bäckereien und das Brotbacken; es läge ihm am Herzen, auch auf diesem Gebiete, soweit es in seiner Macht stände, Verbesserungen einzuführen.

Aber Ihlen hatte seinen Artikel schon an eine Zeitschrift eingeschickt, eine unbedeutende populäre Zeitschrift für alle möglichen Dinge; dort hoffte er, daß man sie annehmen werde. Er sagte also der Wahrheit gemäß, sie sei bereits abgeschickt.

Da entgegnete Lynge:.

»So nehmen Sie sie telegraphisch zurück. Wir bezahlen natürlich alles.«

Und Ihlen verspricht aus dankbarem Herzen, zu telegraphieren.

Jetzt konnte die gute Frau Ihlen sich nicht mehr halten; sie dankte Lynge mit strahlenden Augen für alles, was er für Fredrik getan habe. Er hätte alle so dadurch glücklich gemacht, und sie seien ihm alle so verpflichtet dafür; es sei so unerwartet und unverdient.

»Liebste Frau, wir haben einfach unsere Pflicht getan«, antwortete Lynge.

»Außer Ihnen scheint aber niemand es für seine Pflicht gehalten zu haben.«

»Ja,« meinte er, »die verschiedenen Redakteure mögen ja ein mehr oder minder klares Bewußtsein von der Aufgabe der Presse haben.«

»Ja, das mag wohl sein. Aber wir sind Ihnen so innig dankbar; wir vergessen nicht, daß die erste Ermunterung von Ihnen gekommen ist.«

Und scherzend, mit einem Lächeln, entgegnete Lynge:

»Es freut mich, Frau Ihlen, daß dieses Mal mir die Aufgabe geworden ist, dem Talent zu erweisen, was ihm gebührte. Wir Liberalen sind ja auch keine Menschenfresser.«

Hier lachte Endre Bondesen laut auf und schlug sich aufs Knie. Bis jetzt hatte er ohne sich zu rühren, von stummer Bewunderung erfüllt, dagesessen; das merkwürdige war, daß er wirklich schon einen kleinen Schwips hatte, als Lynge kam, aber das war hurtig vorübergegangen. Es traf sich so glücklich, daß sie nicht alles ausgetrunken, nicht alle Flaschen geleert hatten, und als sie Lynge nun ebenfalls ein Glas anboten, nahm er es sofort an, ohne weiteres und mit Dank. Er war heute abend guter Laune.

An Charlotte richtete er ein Kompliment über ihr elegantes Radfahren, über das sie errötete. Zweimal beugte er sich zu ihr hinüber und bewunderte ihre Handarbeit; sonst war er sehr zurückhaltend und sprach meist mit den Herren, als sei er durchaus zu keinem anderen Zweck, als wegen Ihlens Abhandlung gekommen. All seine Seitenblicke auf Charlotte sollten nichts bedeuten. Wie prächtig sah sie aus, so jung und blühend! Dies rötliche Haar schimmerte wie Gold im Lampenlicht, er hatte nie etwas Ähnliches gesehen, und die Augenbrauen liefen über der Nase zusammen. Selbst die kleinen rosenroten Fleckchen in ihrem Gesicht versetzten ihn in Entzücken, die Jugend bäumte sich auf in dem alten Herrn, seine Bubenaugen leuchteten, und vor lauter Verliebtheit lächelte er fortwährend. Wie wohl fühlte er sich aber auch in diesem Familienkreise, wo das ganze Zimmer voll war von jungen Mädchen und Bewunderern! Der gute, alte Name der Familie schlug ihm überall entgegen, aus den Schnitzereien der alten Möbel, aus den zwei, drei Familienbildern an den Wänden, aus jedem Wort, das diese Menschen sprachen; sie waren geboren mit Noblesse, die Bildung lag ihnen im Blute. Und Lynge sah nicht, wie armselig und abgenützt alles bei Frau Ihlen geworden war, er hatte kein Auge mehr für die Mängel, sondern fühlte sich wie ein Mann, der vor der Schüssel saß und sich's wohl sein ließ. Die Felder an den Wänden waren natürlich alte, stolze Kunstarbeit, und die Gläser, aus denen er den billigen Champagner trank, waren feine geschliffene Gläser. Und wie gut es aus geschliffenen Gläsern schmeckte!

Widerstrebend erhob er sich, um zu gehen, dankte aus aufrichtigem Herzen für die Gemütlichkeit, die er genossen, und ging zur Tür.

»Ich hoffe also, daß Sie mir so bald wie möglich die Abhandlung bringen,« sagte er zu Ihlen; »leben Sie wohl!«

 

Lynge schlug den Weg weiter über Haegdehangen ein; über seine eigene Wohnung weit hinaus bis nach dem entlegenen Stadtteil, wo die Straßen die reinen Felder waren, und die Häuser einzeln und zerstreut lagen. Er suchte einen Herrn Kongsvold, einen Kameraden vom Gymnasium her, der im Justizdepartement angestellt war. Lynge wollte, wenn die Zeit dazu gekommen, ein Geheimnis aus ihm heraushaben; dieser glückliche Einfall war ihm gerade gekommen, als er bei Ihlens saß. Selbst dort, inmitten der Umgebungen, die ihm imponierten, von Angesicht zu Angesicht der jungen Dame gegenüber, die so tiefen Eindruck auf ihn gemacht, selbst hier bewahrt Lynge seine Fassung und läßt seinen klugen Kopf arbeiten. Er war nicht umsonst der große Redakteur.

Endlich findet er Kongsvolds bescheidene Wohnung und tritt ein.

»Hab' keine Angst,« sagte er sofort und lächelte; denn er ist noch in guter Laune; deshalb scherzt er noch. »Ich komme nicht, um dich zu interviewen.«

Kongsvold aber, der sich durch diesen Besuch geehrt fühlt, zugleich aber auch sehr verlegen ist, steht stumm da; er konnte sich nicht einmal entsinnen, sich jemals mit dem Redakteur geduzt zu haben. Lynge schüttelt ihm kameradschaftlich die Hand und ist gewinnend wie immer. Gleich darauf saßen die beiden Freunde aus der Studentenzeit am Tische und sprachen miteinander.

Ihre Schicksale waren ziemlich verschieden gewesen. Lynge war das Glück hold gewesen; er war eine der bekanntesten Persönlichkeiten des Landes geworden, ein mächtiger Mann, der mit einem Worte Nacken beugen und seinen Willen erzwingen konnte. Kongsvold saß seit zwölf, vierzehn Jahren im Ministerium und schrieb sich die Finger krumm und lahm, sein Gehalt war und blieb elend, und seine Rockärmel waren blank und abgenützt. Nein, es ging unglaublich langsam mit dem Avancement in den Ministerien.

Lynge fragte:

»Und wie lebst du? Geht es dir gut?«

»O nein,« antwortete Kongsvold, »es geht immer nur ein Tag zur Zeit hin.«

»Ach ja.«

Und Lynge sah sich im Zimmer um. Für einen königlichen Regierungsbeamten war es nicht allzu elegant. Dies ziemlich große Zimmer war das einzige, das der Bewohner hatte. Zwischen diesen Stühlen, diesem Schreibtisch, diesem Schrank, diesem Bett mußte er sich stets aufhalten, wenn er zu Hause war. An der einen Wand hing sein Paletot und verstaubte.

»Es will mir scheinen, als avanciertest du sehr langsam, Kongsvold,« sagt Lynge.

»Ja, leider«, entgegnet dieser, »es könnte allerdings schneller gehen.«

»Na, von jetzt an wird es wohl besser gehen, die Regierung fällt eines Tages, und du hast unter einem konservativen Ministerium natürlich bessere Aussichten. Denn du bist doch wohl konservativ?«

»Ja.«

»Das Ministerium geht; es soll gehen. Wir zeigen keine Schonung mehr.«

»Ihr habt ja bis jetzt auch keine Schonung gezeigt.«

»Nein, so einig sind wir doch noch, glücklicherweise. Wir können einem liberalen Ministerium verzeihen, wenn es strauchelt, wenn es sich aus Schwäche verleiten läßt, eine einzelne Tat für die Gegenpartei zu tun; wir vergeben eine ehrliche Schwachheitssünde. Hier aber ist von persönlicher Unehre die Rede, von Treu- und Gesetzesbruch, von direkten Charakterschäden, – die vergeben wir nie.«

Übrigens sei Lynge gekommen, um einen Dienst zu erbitten, eine kleine Gefälligkeit; ob er nun nicht vergebens gekommen sei?

Es würde Kongsvold ein Vergnügen sein, dem Redakteur einen Dienst zu erweisen, wenn es ihm möglich sei.

»Es gilt die Vorschläge zu den Jurymitgliedern«, sagte Lynge. »Du wirst wohl mit der Sache zu tun haben, sie zur Expedition bekommen.«

»Das weiß ich nicht.«

»Nun, es eilt ja auch nicht; es ist vielleicht noch lange hin. Aber ich möchte die Sache gern besprechen. Wenn du die Vorschläge zum Expedieren bekommst, könntest du mir diesen Dienst wohl erweisen.«

»Wie das?«

»So daß ich die Liste von dir im selben Augenblick bekäme, wo sie nach Stockholm abgeht.«

Kongsvold schweigt.

»Und wenn du diese Sache nicht zur Expedition bekommst, so kannst du jedenfalls mit Leichtigkeit im Ministerium erfahren, wer vorgeschlagen wird. Ich möchte gern als erster diese Nachricht bringen, begreifst du; etwas anderes verlange ich nicht.«

Kongsvold bedachte sich noch.

»Ich weiß nicht, ob ich dergleichen für dich tun kann«, sagt er. »Aber es kann doch keinesfalls gefährlich sein.«

Lynge begann zu lachen.

»Selbstverständlich, daß du persönlich nicht genannt wirst. Du fürchtest doch wohl nicht, daß ich dich verraten könnte, alter Freund? Nur aus Rücksicht auf mein Blatt kam ich; diese Ernennungen interessieren ja das ganze Land aufs höchste, und ich möchte, daß die Nachrichten die ersten wären, die das Geheimnis verraten. Du leistest mir einfach nur einen Freundschaftsdienst, sonst nichts.«

Und nun kam es Lynge zustatten, daß er Ihlen als Mitarbeiter an seinem Blatte hatte, ein Mann mit einem durch mehrere Generationen befestigten konservativen Namen. Er nannte Ihlen sofort; selbstverständlich sei er Ihlens politischer Gegner, das aber hindere ihn nicht, sein Talent anzuerkennen. In Wirklichkeit sei er nicht, wie gewisse andere Liberale, die blind auf ihrem Standpunkt beharrten; allerdings, im Prinzip sei er unerschütterlich, aber, du lieber Gott, auf der Rechten saßen ebenfalls Leute; er habe viele von ihnen schätzen gelernt.

Und Kongsvold hatte mit Freuden gesehen, daß man einen Ihlen in den Nachrichten anerkannt habe. Sein konservatives Herz sei Lynge tief dankbar für diesen Zug. Dies gibt Kongsvold lächelnd, beinahe verlegen, zu.

Und noch eins, dessen Lynge sich als eine angenehme Pflicht erinnern werde; wenn Kongsvold Förderung suche, werde er der Unterstützung der Nachrichten nicht entbehren; nicht gerade als Vergeltung für diesen Freundschaftsdienst, sondern, im ganzen genommen, aus Gerechtigkeitsrücksichten. Die Nachrichten waren ja nicht so ganz ohne Macht und würden es hoffentlich auch nicht werden.

So einigten die Herren sich denn über das kleine Geschäft.

Kongsvold fand eine Flasche Sherry im Schrank, und Lynge verließ ihn erst ein paar Stunden später. Er rieb sich die Hände. Er war tätig und erfolgreich gewesen; seinen Tag hatte er gut angewandt.

Auf dem Heimwege rief er sich ins Gedächtnis zurück, was am Morgen in den Nachrichten stehen solle. Ja, er war im Zuge gewesen, als er seine kleine Anzüglichkeit über die Versammlung der Konservativen in Drontheim schrieb; eine wohlgelungene, kleine Anzüglichkeit in wenigen überlegenen Motten; all sein altes Feuer war wieder über ihn gekommen, als er sie geschrieben. Im ganzen genommen, war es eine wohl redigierte Nummer, mit der er am Morgen kommen würde; besonders viel erwartete er von einem vier Spalten langen Artikel über einen gewissen Agenten Jensen in Oslo, der einen Ärgernis erregenden Handel mit Tuchwaren trieb und einem Manne der Nachrichten seine Bücher nicht vorlegen wollte. Keiner dürfe die moderne Presse ungestraft in ihrer Tätigkeit kränken.


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