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Elftes Kapitel

Am nächsten Morgen begleitete Charlotte ihren Bruder in die Redaktion. Schon um halb zehn sollte er im Ting sein und er war nicht wenig verzagt. Was half nun alles, was er gelernt und geschrieben hatte, wenn er dazu gebraucht wurde, kleine Notizen vom Ting zu schreiben?

Der Redakteur war noch nicht da. Der Sekretär gab Charlotte die illustrierten Blätter und Zeitschriften der Post vom Morgen, damit sie darin blättern könne. Gleich darauf trat der Redakteur in die Tür.

Er pfiff, der Hut saß ihm schief auf dem Kopfe; im ganzen schien er guter Laune zu sein. Er grüßte lächelnd, sagte einige scherzende, freundschaftliche Worte zu Ihlen und ersuchte ihn, vor allen Dingen den Bleistift nicht zu vergessen, wenn er jetzt ins Ting wolle.

»Es ist nicht meine Absicht, daß Sie bei dieser langweiligen Arbeit verbleiben sollen,« sagte er dann, »aber heute müssen Sie uns den Dienst erweisen. Ich habe nämlich wegen Björnsons Versammlung jemanden nach Jaevnaker hinaufschicken müssen.«

Dann ging er in sein Bureau.

Gleich darauf öffnete er die Tür wieder und sagte:

»Wollen Sie nicht hereinkommen, Fräulein Ihlen?«

Charlotte kam. Sie mochte Lynge wirklich gern, der ihr stets die größte Liebenswürdigkeit erwiesen hatte. Noch nachdem der Bruder zur Tür hineingesehen und gesagt hatte, nun ginge er also ins Ting, saß sie ruhig auf ihrem Platz und sprach mit dem Redakteur, der zwischendurch Briefe las und Telegramme durchflog.

Plötzlich hält er inne. Er steht auf und tritt an ihre Seite; dort bleibt er stehen und sieht sie an. Sie blättert in ihrer illustrierten Zeitung, schlägt den Blick zu ihm auf und wird flammend rot. Er steht neben ihr, legt den Kopf auf die Seite, die Hände auf den Rücken und blinzelt sie mit den kleinen Augen an.

»Welch prachtvolles Haar!« sagte er gedämpft und lachte bebend.

Sie konnte nicht sitzen bleiben, es sauste ihr in den Ohren, das Zimmer begann mit ihr im Kreise zu gehen, sie stand auf und im selben Augenblick fühlte sie sich von zwei Armen umschlungen, ein heißer Atemzug streifte ihr Gesicht.

Sie stieß einen erstickten Schrei aus, sie hörte, daß er »Nein, seht!« sagte, und dann sank sie wieder auf den Stuhl nieder. Sie hatte eine leise Empfindung, als ob er sie geküßt habe.

Er beugte sich noch einmal zu ihr nieder, sie hörte wieder, daß er sprach; es waren leise, eindringliche Worte, die er an sie richtete, und als er sie wieder umarmen, sie berühren wollte unter dem Vorwande, ihr beim Aufstehen behilflich zu sein, nahm sie ihre ganze Kraft zusammen und stieß ihn zurück. Dann erhob sie sich, ohne ein Wort zu sagen; ihr ganzer Körper bebte.

»So – so –« sagte er beruhigend und lachte wieder mit unterdrücktem, zitterndem Kichern.

Schnell öffnete sie die Tür und ging. Sie war so verwirrt, wußte so wenig, was sie tat, daß sie ihm zum Abschied noch zunickte.

Als sie in den Hausflur kam, begannen ihre Augen sich mit Tränen zu füllen; sie zitterte noch, und sie war bereits hoch oben auf dem Schloßhügel, ehe sie ihre Ruhe wiedererlangt hatte.

Nein, nun war es am besten, ein Ende zu machen. Es war, als wüßten alle und jeder, was für eine sie sei, als dürfe ihr jeder auf die schlimmste Weise begegnen. Sie wollte Bondesen nun das Ganze erzählen und ihn bitten, ihre Verlobung sofort zu veröffentlichen. Später konnten sie sich dann verheiraten, wenn sie die Möglichkeit dazu sahen.

Einen Augenblick dachte sie auch an Höjbro. Ja, er wußte natürlich auch alles von ihr; war er gestern abend nicht geradezu hervorgetreten, um sie zu decken? So weit war es gekommen. Später am Abend war Höjbro übrigens förmlich unhöflich gegen sie gewesen; hatte ihr kalt, abweisend geantwortet; einer Dirne hätte er nicht verächtlicher antworten können, und vorher war er doch so innig gut gegen sie gewesen. Und dann war er mit Mimi nach Hause gegangen, hatte diese wildfremde Person durch Schnee und Sturm begleitet. Na, warum hätte er das nicht tun sollen? Sie – Charlotte – konnte ihrerseits nichts anderes erwarten – so eine, wie sie war. Aber Mimi hatte doch kurzgeschnittenes Haar, und Höjbro hatte einmal ausdrücklich gesagt, daß er Damen mit kurzgeschnittenem Haar nicht möge; weshalb ging er dann mit Mimi nach Hause?

Nun fällt ihr wieder ein, was sich heute in der letzten Stunde zugetragen hat. Es war ihr schon wie ein Traum, und mitten im Schloßpark blieb sie stehen und dachte, ob die Szene im Bureau wirklich passiert sei. Was war das doch, wovon Lynge gesprochen? Von einem Rendezvous am Abend? War er nicht tastend über ihren Busen gefahren, als er ihr vom Stuhl aufhelfen wollte? Aber – wenn alles nur Einbildung gewesen wäre?! Sie war ihrer Sache nicht mehr sicher, sie war müde und gequält nach einer in Tränen und Verzweiflung durchwachten Nacht; sie hatte wirklich nicht eine Stunde geschlafen. Vielleicht, wenn man's recht überlegte, hatte Lynge gar nichts zu ihr gesagt, sie um gar nichts gebeten. Er hatte sie vielleicht nur beruhigen wollen, als sie glaubte, daß seine Arme sie umschlungen hielten? Wollte Gott, daß das Ganze Täuschung war! Jedenfalls wußte sie nicht mehr, wie sie aus dem Bureau herausgekommen und auf die Straße hinunter gelangt sei.

Sie fand Bondesen nicht zu Hause.

Mit schwerem Herzen geht sie weiter. Sie würde Bondesen wohl am Abend finden; sie wollte nun nicht länger warten, ihr Verhältnis mußte sofort regelrecht geordnet werden. Ihre Gedanken beschäftigten sich fortwährend mit Lynge. Er hatte ihr vielleicht absolut nichts gesagt, sie hatte sich geirrt; aber geküßt hatte er sie, das fühlte sie noch; bei Gott, das hatte er getan! Und indem sie nach Hause ging, spie sie mehreremal auf die Gasse.

Als sie ins Entree trat, sah sie zu ihrem Erstaunen Bondesen, der im selben Augenblick aus Höjbros Zimmer geschlichen kam. Sie sehen einander einen Augenblick an, einen kurzen Moment verliert er die Fassung, dann sagt er hastig:

»Ja, du warst nicht zu Hause; ich habe dich in der ganzen Wohnung gesucht; eben habe ich auch in Höjbros Zimmer nachgesehen.«

»Wolltest du mit mir sprechen?«

»Das nicht gerade. Ich wollte nur guten Morgen sagen. Gestern habe ich dich nicht gesehen.«

Sie hörte die Mutter kommen; da zog sie Bondesen mit sich auf den Gang hinaus und machte die Entreetür hinter sich zu.

Fast ohne zu reden, gingen sie die Straße hinunter; es hatte jeder seine eigenen Gedanken.

Als sie auf Bondesens Zimmer ankamen, setzte Charlotte sich aufs Sofa, Bondesen nahm daneben auf einem Stuhl Platz. Sie behielt den Mantel um, zum erstenmal an diesem Ort. Dann begann sie von dem zu sprechen, was sie auf dem Herzen hatte; es sei durchaus notwendig, daß hier eine Veränderung eintrete; die Leute sähen es und verachteten sie.

Sahen es? Wer sah es?

Alle, Höjbro, Lynge; wer weiß, ob nicht auch Mimi Arentzen etwas gemerkt hatte; gestern maß sie sie von oben bis unten mit den Blicken.

Bondesen lachte und sagte, das sei Unsinn.

Unsinn? Nein, leider nicht; er möge ihr doch glauben. Plötzlich sagte sie mit von Tränen erstickter Stimme, daß sogar Lynge heute zudringlich gewesen sei.

Bondesen zuckte zusammen. Lynge? Habe sie Lynge gesagt?

Ja, Lynge.

Was hatte er getan?

Ach Gott im Himmel, warum sie so quälen? Lynge war zudringlich gewesen, hatte sie geküßt.

»Lynge?« Bondesen sperrt den Mund vor Verwunderung weit auf. »Tod und Teufel, nimm mal einer an, Lynge sogar!« sagte er.

Charlotte sieht ihn an.

»Es scheint dich nicht sehr zu verletzen«, sagte sie.

Bondesen schweigt einen Augenblick.

»Ich will dir nur sagen, daß Lynge doch nicht derselbe ist wie jeder andere«, antwortete er.

Jetzt riß sie die Augen weit auf.

»Was willst du damit sagen?« fragte sie endlich.

Aber hastig und ungeduldig schüttelte er den Kopf und erwiderte:

»Nichts, nichts! Daß du in allem immer so gründlich sein mußt, Charlotte!«

»Aber was meintest du denn?« rief sie endlich außer sich und warf sich plötzlich vor Weinen bebend der Länge nach aufs Sofa.

Bondesen hatte durchaus nicht verhindern können, daß seine Gefühle für Charlotte Tag für Tag mehr schwanden. Während des letzten Monats hatte er geradezu mit sich einen Kampf gekämpft, ob er nach dem, was zwischen ihnen vorgegangen war, eine Verbindung eingehen solle, die ihm innerlich zuwider war, oder ob er offen und ehrlich der Verlobung ein Ende machen solle. War es denn etwas so Unerhörtes, so ein bißchen Verlobung aufzuheben? Kam es denn nicht in allen Verhältnissen des Lebens zu offenem und ehrlichem Bruch? Wie war es denn mit den Nachrichten? Als sie der Unionspolitik des Hasses und der Bruderuneinigkeit nicht länger dienen konnten, traten sie männlich hervor und sagten sich los. Was konnte er – Bondesen – als ehrlicher Mann Charlotten gegenüber denn anderes tun? War es Recht gegen sie und gegen sich selbst, eine Verbindung einzugehen, deren Grundlage Lüge und versteckte Kälte war?

Er hatte wirklich alles gewissenhaft erwogen, und eine Zeitlang hatte er ja schwere Gewissensbisse gehabt; jetzt war er zu dem Resultat gekommen, daß es für sie beide das beste wäre, wenn sie sich in aller Güte trennten.

Es dünkte ihn sogar, daß sein Wert als Mensch durch diesen Beschluß größer wurde; er fühlte die Macht der Wahrheit in sich, wurde hoch und stark in dem Bewußtsein, daß er recht handle …

Als Charlotte immer noch schluchzte, sagte er so milde und schonend wie möglich:

»Steh auf und hör mich ruhig an; ich möchte dir etwas sagen.«

»Du liebst mich wohl nicht mehr, Endre«, sagte sie ganz leise.

Hierauf antwortete er nicht; er streichelte ihr Haar und sagte:

»Laß mich doch ein wenig erklären …«

Da aber hob sie den Kopf und sah ihn an. Ihre Augen waren trocken, sie schluchzte noch.

»Ist es wirklich wahr? Sag mir's, liebst du mich nicht? So antworte doch, antworte mir!«

Er hatte die innere Kraft, ihr mild und wahrhaftig zu sagen, daß er sie nicht mehr so sehr wie früher, nicht mehr ganz so sehr liebe; nein, er liebte sie leider nicht mehr so. Er könne ihr nicht helfen, sie möge ihm glauben. Aber er schätze sie hoch.

Dann war es einige Minuten still; nur Charlotte schluchzte noch ein paarmal auf, ihr Kopf sank vornüber, sank tief auf ihre Brust herab, und sie rührte keinen Finger.

Es schmerzte ihn wirklich, sie um seinetwillen so betrübt zu sehen. Da kam ihm der Gedanke, sich in ihren Augen herabzusetzen: er sagte, im Grunde genommen, könne sie froh sein, er sei ihrer nicht wert, sie habe nichts, gar nichts verloren. Aber als ehrlicher Mann fände er, daß er ihr die Wahrheit sagen müsse, so lange es noch Zeit sei. Nun möge sie mit ihm machen, was sie wolle.

Wieder eine lange Pause; Charlotte griff sich mit beiden Händen an die Stirn. Die Pause dauerte so verzweifelt lange, daß er seinen Hut vom Tische nahm und ihn zu striegeln begann.

Dann nahm sie mit einem Ruck die Hände vom Gesicht, sah ihn mit starrem, unheimlichem Lächeln an und sagte:

»Du möchtest wohl gern, daß ich jetzt ginge?«

Er stutzte und stellte seinen Hut wieder auf den Tisch. Du großer Gott, konnte sie die Sache denn nicht etwas weniger feierlich nehmen? In allen Verhältnissen des Lebens kam es doch zum Bruch!

»Nein, es eilt nicht«, antwortete er ein wenig scharf, um nichts von seiner Entschlossenheit einzubüßen.

Da stand sie auf und ging an die Tür. Er rief sie zurück; sie wollten doch als Freunde scheiden, sie müsse ihm vergeben. Aber sie öffnete die Tür, und trat hinaus ohne ein Wort zu sagen, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er hörte ihre Schritte auf den knarrenden Stufen, immer weiter hinunter, in der zweiten Etage, in der ersten Etage; schließlich stellte er sich ans Fenster hinter die Gardine und sah sie auf die Straße hinaus treten. Ihr Hut saß noch schief, seitdem sie sich der Länge nach aufs Sofa geworfen hatte. Dann verschwand sie um die Ecke. Wie schief ihr Hut saß!

 

Bondesen atmete erleichtert auf. Jetzt war es vorbei. Welche Kämpfe hatte er im letzten Monat bestanden und welche Pläne hatte er nicht geschmiedet, um dies unglückselige Verhältnis auf die beste Weise zu ordnen.

Nun war der Kampf zu Ende.

Eine halbe Stunde lang sitzt Bondesen unbeweglich auf seinem Stuhl und denkt über das Geschehene nach. Es tat ihm aufrichtig leid, Charlotte diesen schweren Schlag sozusagen ins Antlitz versetzen zu müssen; es hätte ihm besser gepaßt, wäre mehr nach seinem Wunsch gewesen, den Bruch nur andeuten zu müssen, mit Zartgefühl zu Werk gehen zu können. Aber sie selbst hatte gefragt, und er hatte antworten müssen.

Kein Zweifel, als Mensch mußte man wahr gegen sich selbst sein. Er konnte sich nichts anderes vorwerfen, als daß er seiner Zeit eine übereilte Liebe zu diesem jungen Mädchen gefaßt hatte; da war der Fehler, so hatte das Ganze angefangen. Aber durfte man dem Herzen sein Recht versagen, solchen Übereilungen zum Opfer zu fallen?

Endlich fällt Bondesen ein, daß er noch nicht gefrühstückt hat. Als er hinunter durch den Schloßpark geht, überdenkt er immer noch die traurige Szene in seinem Zimmer. Er erinnert sich so klar an alles, an alles, was sie gesagt, und was er geantwortet hatte. Er erinnert sich auch, daß er Charlotte oben im Vorzimmer ihrer Wohnung getroffen; beinahe hätte sie ihn in Höjbros Zimmer überrascht.

Nein, was dieser Höjbro doch für ein verdächtiger Bursche war! Er arbeitete, er legte Minen. Sein ganzer Tisch lag voller Konzepte und beschriebener Blätter. Ei, seht doch, er wollte auftreten, gegen keinen geringeren ins Zeug gehen als gegen Lynge. Gott stehe ihm ewig bei; er würde ja zerschmettert, zerrieben zwischen Lynges Fingern …

Was? Geküßt hat er sie? Lynge? Hat man solch einen mutigen Satan schon gesehen? Wer hätte das geglaubt!

 

Es war Ihlen im Ting gut gegangen; er hatte mehrere Stunden dort gesessen und nichts zu tun gehabt; als er aber mit seinem Papier in die Redaktion hinunter kam, zeigte es sich trotzdem, daß er mindestens zwei Spalten zusammengebracht hatte. So leicht hatte er noch niemals Geld verdient. Lynge sah den Artikel sofort durch und fand ihn ausgezeichnet …

Da wandte Ihlen sich zu Charlotte und fragte, ob sie heute in den Nachrichten krank geworden sei. Was ihr gefehlt habe?

Charlotte war in einen tiefen Schlaf gesunken, als sie nach Hause kam; sie hatte mehrere Stunden geschlafen. Jetzt war sie bleich und schauderte vor Kälte, sonst aber fehlte ihr nichts.

Sie entgegnete ihrem Bruder, daß sie sich unwohl gefühlt habe, ja. Aber es sei vorüber gegangen, sobald sie auf die Straße hinausgekommen.

»Lynge war ganz besorgt um deinetwillen«, sagte Fredrik.

»Wirklich?«

Pause.

Dann überrascht sie den Bruder plötzlich mit der Erklärung, daß sie ihn nie wieder in die Redaktion begleiten werde. Und als er um eine Erklärung in sie drang, sagte sie, es geniere sie, Lynge wiederzusehen. Es sei doch immerhin unangenehm, sozusagen unter fremden Händen unwohl zu werden.


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