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Viertes Kapitel

Der große Saal des Arbeitervereins war gepfropft voll, und die Diskussion in vollem Gange. Ein Konservativer, wirklich einer von der Rechten, hatte sich aufs Katheder verirrt und wagte sein Wort mitzusprechen; aber er wurde häufig von Zurufen unterbrochen.

Als Lynge eintrat, blieb er einen Augenblick unten an der Tür stehen und ließ die Blicke suchend über die Versammlung schweifen. Schnell fand er, wen er suchte, und begann nun, sich den Weg durch den Saal zu bahnen. Er nickte nach rechts und links, alle kannten ihn und traten zur Seite, um ihm Platz zu machen. An der entgegengesetzten Seite blieb er stehen und begrüßte eine junge Dame mit hellem Haar und dunklen Augen aufs herzlichste. Sie rückte auf der Bank, und er setzte sich neben sie; es war klar, daß er erwartet worden. Die Dame war Frau Dagny Hansen, geborene Kielland, eine Dame, die aus einer der Küstenstädte gekommen war und sich seit einem Jahr in Kristiania aufhielt, während der Mann, Marineleutnant Hansen, auf der Fahrt war. Sie hatte außerordentlich dickes, helles Haar, das sie in einem Knoten trug; ihre Toilette war prächtig.

»Guten Abend,« sagte sie, »Sie kommen spät.«

»Ja, man muß für so vieles aufkommen,« antwortete er. Jetzt aber war er nicht mehr imstande, über das große Geheimnis zu schweigen, er fuhr fort: »Aber zuweilen bekommt man doch auch seinen Lohn dafür; gerade jetzt bin ich im Begriff, einen der bekanntesten Prediger Lars Oftedal. im ganzen Lande zu stürzen; morgen knallt der Schuß.«

»Stürzen? Wen?«

»Beruhigen Sie sich,« sagte Lynge lachend, »Ihr Vater ist es nicht.«

Da lachte sie und zeigte die ein wenig schadhaften Zähne hinter den roten Lippen.

»Was hat der Prediger denn getan?«

»H– ja,« entgegnete er, »das sind schwere Sünden, Bosheitssünden, hahaha!«

»Du lieber Gott, es passiert doch auch immer zuviel Schlimmes!«

Dann schlug sie die Augen nieder und schwieg. Dieser Skandal bereitete ihr durchaus keine Freude; den ganzen Tag war sie ein wenig verstimmt gewesen, und nun wurde sie es noch mehr. Wenn sie nicht inmitten einer großen Volksversammlung gesessen und unablässig die summende Stimme des Redners vom Katheder gehört hätte, so würde sie am liebsten die Hände vors Gesicht geschlagen und bitterlich geweint haben. Während des letzten Jahres konnte Frau Dagny niemals von einem Skandal irgendwelcher Art hören, ohne selbst dabei zu erbeben; denn auch sie hatte ihre Geschichte, ihre kleine Unregelmäßigkeit im Leben gehabt. Keine schweren Sünden, nein, kein Flecken, das wußte sie, aber trotzdem war sie sündig genug, ach, so sündig. Seit ihrem unglücklichen Verhältnis zu einem jungen Fremden, einem reinen Abenteurer namens Johan Nagel, einem unansehnlichen Zwerge, der im vorigen Jahre auf ihrem Wege aufgetaucht war und sie ganz verwirrt gemacht hatte, quälte Frau Dagny sich mit heimlichen Sorgen ab. Das Verhältnis hatte nicht damit geendet, daß ein Hut tief gezogen und ein zartes Lebewohl gesprochen worden, nein, der wilde Mensch war kopfüber ins Meer gesprungen und hatte ohne ein weiteres Wort ein Ende gemacht. So hatte er sie ganz einfach mit der ganzen Verantwortung zurückgelassen, und die Folge war, daß sie die Stadt so bald wie möglich verlassen und sich in Kristiania niedergelassen hatte. Auch eine frühere Geschichte hatte sie noch gehabt; ein armer Theologe hatte sich so heftig in sie verliebt, daß … aber das war zu jämmerlich, wirklich zu lächerlich, sie mochte nicht einmal einen Gedanken daran verschwenden. Eine andere Sache war es mit Nagel, der sie beinahe dahin gebracht, sich selbst aufzugeben; als sie ihn das letztemal sah, hing es nur an einem Haar; ein einziges Wort noch, noch eine halbe Bitte von seiner Seite, und sie würde der ganzen Welt getrotzt und sich ihm an die Brust geworfen haben. Aber er hatte diese halbe Bitte nicht ausgesprochen, er hatte es nicht einmal gewagt, und das war ihre eigene Schuld, sie hatte ihn ein paarmal so grausam zurückgewiesen. Natürlich war es ihre eigene Schuld.

Aber seitdem hatte Frau Dagny an dieser Schuld gegen sich selbst, gegen ihn getragen. Niemand wußte, was sie bedrückte, aber oft lärmte und schwatzte und kokettierte sie schlimmer als die schlimmsten, und dann war sie mit einemmal ernst und still. Das war nun mal so ihre Art.

Und nun kam diese Geschichte mit dem Prediger. Sie ahnte, was es galt, fühlte es, und das stimmte sie nicht munter. Immer ging es schlimm, immer war da irgendeiner, der nicht auf seiner Hut war. Weshalb konnte es denn nicht gut mit den Menschen gehen, so daß sie glücklich waren im Leben? Lynge sah sofort, daß er sie verstimmt hatte, er kannte sie genug, um sich nicht zu irren; daher sagte er leise:

»Wollen Sie, daß ich in die Druckerei gehe und den Artikel zurücknehme?«

Sie sah ihn erstaunt an. Es war ihr gar nicht eingefallen, Mitleid mit dem Prediger zu haben; nicht seine Geschichte war es, die sie vor allen Dingen quälte. Sie sagte:

»Meinen Sie, was Sie sagen?«

»Selbstverständlich!«

»Nein, wie können Sie mir eine solche Frage stellen? Ist der Prediger nicht schuldig?«

»Ja; aber Ihnen zuliebe, wissen Sie …«

»Ach,« sagte sie und lachte, »wie Sie mich foppen!«

Trotzdem hatte sein Anerbieten sie in bessere Laune versetzt; er wäre imstande zu tun, was er sagte, und sie dankte ihm wirklich aufrichtig.

»Ich begreife nur nicht, wie Sie alles erfahren; wie Sie all diese Menschen ausspionieren. Sie sind unvergleichlich, Lynge!«

Dies: Sie sind unvergleichlich, Lynge! durchschauerte sein Herz und machte ihn glücklich. Im Grunde war es nur selten, daß man so unmittelbar anerkannt wurde, trotz aller Verdienste, und er antwortete dankbar mit einer Phrase, einem Scherz: »Man hat ja seine Angeln angelegt; man faulenzt ja nicht. Man ist Presse, man ist Staatsmacht.«

Und er lächelte selbst über seine Worte …

Der veritable Konservative war mit seiner Rede zu Ende gekommen, und der Vorsitzende ruft:

»Herr Bondesen hat das Wort.«

Und der Radikale Endre Bondesen erhebt sich unten in der Mitte des Saals und arbeitet sich hastig nach dem Katheder durch. Er hatte neben den Schwestern Ihlen gesessen und Notizen gemacht; es war seine Absicht, dem Vorredner nach Kräften überlegen zu begegnen. So wahr wie er selbst Radikaler und moderner Mensch war, wollte er den Mann auf seinen Platz zurückweisen, in seine Höhle, in die dunkle, reaktionäre Partei, von der er kam; hierher gehörte er nicht. Bondesen hatte früher schon auf diesem Katheder gestanden und mehreremal seine Wahrheiten in den Saal hineingeschleudert.

Ja, meine Damen und Herren, Wahrheiten mehr als einmal, nach Kraft und Vermögen! Deshalb wage er auch jetzt für eine kurze Weile auf das Interesse der Zuhörer zu rechnen; es handle sich nur um ein paar Dinge, die er sich notiert habe. Soeben stand hier noch ein Mann – ja, jetzt hat er sich gesetzt, auf seine Lorbeeren (Gelächter) – und wollte den Menschen, modernen Menschen, einreden, daß die Linke das Land auf Abwege führen wolle. Nicht wahr, es gehörte der Mut der Verzweiflung dazu, derartige Reden vor Norwegens größter politischer Partei zu führen. Man war von der Linken, man war Radikaler, aber man war kein Schafskopf, kein Anarchist, kein Ungeheuer. Wenn das Land auf Abwege geraten war, so war es geschehen, seitdem die Regierung so skandalös zur Rechten übergegangen war, und die Regierung war es, die das getan. (Beifall). Was war das Programm der Linken? Jury, allgemeine Demokratisierung, allgemeines Stimmrecht für erwachsene Männer und Frauen, Sparsamkeit im Staatshaushalt, Vereinfachung des Beamtenetats, Errichtung von Schiedsgerichten usw., lauter humane Einrichtungen, lauter zeitgemäße Ideen. Und dann kommt einer und erzählt, das Land sei auf Abwegen! Man könne das Programm ja radikal nennen, das dürfe man allenfalls, jede derbere Beschuldigung wolle er jedoch zurückweisen.

Hier erhebt der Konservative sich wieder und sagt:

»Aber gerade durch ihren Radikalismus, meinte ich, daß die Linke das Land auf Abwege führe!«

Der Vorsitzende unterbricht:

»Herr Bondesen hat das Wort.«

Aber ein vorsichtiger Liberaler mischt sich hinein:

»Wir billigen Herrn Bondesens Erklärung der Linken als radikale Partei nicht. Herr Bondesen ist radikal und spricht von seinem Standpunkt aus, nicht von dem der Linken.«

Nun brüllt der Vorsitzende mit Donnerstimme:

»Herr Bondesen hat jetzt das Wort!«

Und Bondesen hatte nichts dagegen, allein im Saal als der große Radikale zu stehen; er war früher schon allein gestanden, und in diesem Augenblick fühlte er sich stark genug dazu. Und indem er wieder zu seinem Vortrag überging, verstärkte er seine Stimme noch, um zu zeigen, wie wenig er sich fürchte:

Die Rechte sähe stets Irreführung und Abwege in jeder Bewegung, Niedergang und Abfall in jedem Fortschritt. Es müsse hart sein, so das Verständnis für seine eigene Zeit zu verlieren. Denn diese Menschen, die bremsten und bremsten und abtrieben und nun im stillen Wasser lagen, auch sie hatten einmal ihrer Zeit angehört, auch sie waren einmal in der Mode gewesen – vor fünfzig Jahren (Gelächter). Aber heute hatten sie die Fühlung mit der Zeit verloren, der demokratischen Freiheitszeit. Deshalb sollte man sie nicht allzu stark steinigen, man müsse Mitleid haben mit diesen wenigen, die so zurückgeblieben, wenn die ganze übrige Welt vorwärtskämpfte. Denn diese wenigen taten vielleicht indirekt ihren Nutzen, sie bewirkten durch ihren Widerstand, daß wir andern unsere Anstrengungen im Dienst des Fortschritts verdoppelten. (Beifall). Aber kommen dürften sie nicht und Leute vom Wege der Freiheit abwendig machen; auf jedem Punkt würde man ihnen entgegentreten, in jeder Frage sie aus dem Felde schlagen. Allen, allen solle es klar werden, daß die Rechte eine Schar Menschen, die verurteilt sei, von der Linken mit in den Sieg gezogen zu werden. Die Linke aber, die sei die Macht der Entwicklung, die Arbeiter der Entwicklung.

Bondesen hatte in kurzen Zwischenräumen häufigen Beifall; denn trotz seines starken Radikalismus machte er seine Sache ausgezeichnet. Die Schwestern Ihlen waren wirklich hingerissen, sie saßen da, bleich vor Erregung, und konnten nicht begreifen, daß so viel in diesem Freunde stecke, von dem sie wußten, daß er niemals las und niemals arbeitete. Aber welch ein Kopf, welch ein Talent! Alles, was er sprach, seine Gedanken, seine Worte waren leichte, verständliche Sachen, die jeden rührten und niemanden bloßstellten, haltbare liberale Wahrheiten, die aus dem Storting, aus Diskussionsversammlungen und Zeitungen geschöpft waren. Er sprach mit heftigen Gesten, mit einer Stimme, die vor Glauben und Begeisterung bebte, und es war eine Freude, dieser Jugend zuzuhören; eine wahre Befreiung, dieser radikalen Seele zu lauschen, die so mutig sprach. So sollte die Jugend des alten Norwegens sein!

Und wieder blättert der Redner in seinen Notizen, er hat noch ein paar Worte zu sagen. Er dreht seinen hübschen Schnurrbart gedankenvoll und überlegt lange. Wie anstrengend mußte es nicht sein, so stehenden Fußes eine längere Rede zu halten! Sein geehrter Gegner hatte die Gelegenheit benutzt, über die Erbärmlichkeit der Regierung zu spotten; hierfür wolle er dem geehrten Gegner seinen Dank abstatten, in diesem Punkt würden sie sich in gutem Verständnis treffen; denn es läge ihm ja so fern, die Regierung zu verteidigen, er wolle sie gerade aus allen Kräften stürzen. Er wolle jedoch den geehrten Gegner fragen: was hatte die Erbärmlichkeit der Regierung mit der Linken zu tun? In klaren Worten sei es gesagt, daß die Linke die gegenwärtige Regierung nicht mehr als Linke anerkenne, besonders nicht ihren Chef, diesen Mann Minister Johan Sverdrup, auf dessen einst so großem Talent nun schon die Schatten des Abends lagerten; die Regierung war abtrünnig geworden, hatte sich verkauft, oder sie schlief! (Beifall). Ob denn dieser Unsinn von der Verantwortlichkeit der Linken für die Erbärmlichkeit der Regierung nicht einmal ein Ende haben würde? Gerade die Linke war es, die mit aller Macht an dem Sturz der Regierung arbeitete, und niemals würde der Tag kommen, wo die Linke damit aufhören würde; dazu hatte diese sogenannte liberale Regierung nun schon zu lange die Prinzipien des Fortschritts und der Demokratie zu blutig gekränkt. Und dies sollten die Schlußworte des Redners an die Versammlung sein, daß sie sich erheben solle, sich erheben gegen diese Handvoll Verräterseelen im norwegischen Volk und sie mit allen gesetzlichen Mitteln von ihren Sitzen stoßen.

Bondesen stieg unter starkem, langanhaltendem Beifall nieder vom Katheder. Nein, nie und nimmer hätten Charlotte und Sofie geglaubt, daß er so viel Macht in seinen Worten habe. Diese »Verräterseelen«, wie seltsam klang das doch! Charlottens Nasenflügel bebten, und sie atmete heftig, während sie ihn mit den Blicken verfolgte. Als er wieder zu ihr kam, nickte sie hingerissen und sah lächelnd zu ihm auf, und Bondesen lächelte wieder. Er hatte wohl eine Viertelstunde gesprochen und war noch warm; er fuhr mehreremal mit dem Taschentuch über die Stirn.

Und wieder tönt die Stimme des Vorsitzenden:

»Herr Carlsen hat das Wort.«

Herr Carlsen aber erhebt sich und spricht nur ein paar Worte. Er habe sich etwas reservieren wollen mit Bezug auf die Linke als Radikaler; da dies nun aber von einem anderen geschehen sei, und da Herr Bondesen am Schlusse seines ausgezeichneten Vortrages nichts anderes ausgesprochen habe, als das, was die Linke im allgemeinen billige, so habe er nichts weiter hinzuzufügen als seinen Dank an Herrn Bondesen.

Und Herr Carlsen setzt sich.

»Nun hat also Herr Höj– … Herr Höj…«

»Ich habe vermutlich das Wort?« sagte ein Mann und erhob sich dicht unter dem Katheder. »Höjbro«, fügte er hinzu.

Bondesen wußte allzu gut, weshalb der Bär, Leo Höjbro, reden wollte. Er hatte dicht vor dem Katheder gesessen und während Bondesens Vortrag fortwährend gelacht; er wollte sich an ihm rächen, weil er Glück gehabt hatte, wollte glänzen, ihn in Charlottens Gegenwart übertrumpfen. Ja, das wußte er. Das bißchen Beifall, das Bondesen gehabt, hatte Höjbro nicht Ruhe gelassen.

Höjbro war von niemand gekannt; der Vorsitzende konnte nicht einmal seinen Namen lesen, und als dieser neue Mann sich erhob, fing man im Saal an, ungeduldig zu werden. Der Vorsitzende zog seine Uhr heraus und gab von jetzt an jedem der Redner nur zehn Minuten zu seinem Vortrag; dies wurde von der Versammlung beklatscht.

Dagny, die lange geschwiegen, flüsterte Lynge zu:

»Gott wie schwarz der Mensch ist, sehen Sie nur, wie sein Haar glänzt!«

»Ich kenne ihn nicht,« antwortete Lynge gleichgültig.

Höjbro begann von seinem Platz aus zu reden, ohne das Katheder zu besteigen. Seine Stimme war tief, grabestief, und seine Worte kamen langsam; oft war es schwer zu verstehen, was er meinte, so unvollkommen drückte er sich aus, und er entschuldigte sich auch selbst damit, daß er nicht gewöhnt sei, Reden zu halten.

Es sei nicht nötig gewesen, seinetwegen die Zeit zu beschränken, er würde vielleicht nicht einmal zehn Minuten brauchen. Er habe nur an alle gestrengen Menschen die Bitte auf dem Herzen, Gnade an den unglücklichen Individuen zu üben, die keiner Partei angehörten, an den heimatlosen Seelen, den Radikalen, die weder die Linke noch die Rechte bekommen könnte. Soviel Köpfe, soviel Sinne; einige gingen schnell, andere langsam; es gab deren, die an liberale Politik und Republik glaubten und dies für das radikalste auf der Welt hielten, während andere diese Frage durchdacht haben konnten und schon seit undenklichen Jahren darüber hinweg waren. Die menschliche Seele ließ sich so schwer in einer ganzen Zahlengröße ausdenken, sie bestand aus Nuancen, aus Widersprüchen, aus Hunderten von Bruchteilen, und je moderner eine Seele war, desto mehr war sie aus Nuancen zusammengesetzt. Aber eine derartig zusammengesetzte Seele konnte schwerlich eine bleibende Stätte innerhalb der Parteien finden. Was die Parteien lehrten und glaubten, daran hatten diese Seelen längst vorbeigelebt; sie waren Radikale, die während ihrer Entwicklung das Quantum festen Parteibewußtseins, das sie einst gehabt, zugesetzt hatten; bahnlose Kometen waren sie, die ihre eigenen Wege gingen, nachdem sie die aller anderen verlassen hatten. Und für diese wolle er bitten. Es waren in der Regel Menschen mit Willen, starke Menschen; sie hatten ein Ziel: das Glück, das größtmögliche Glück, und sie hatten ein Mittel: die Ehrlichkeit, die absolute Unbestechlichkeit, Verachtung für den persönlichen Vorteil. Sie kämpften auf Leben und Tod für ihren Glauben; sie brachen sich das Genick für ihn, und nicht an feste politische Formen glaubten sie, deshalb konnten sie auch nicht Parteimänner sein; aber sie glaubten an den Adel des Herzens, den Adel der Bildung. Ihre Worte mochten hart und schwer sein, ihre Waffen grausam gefährlich, weshalb nicht? aber sie waren reinen Herzens, und darauf kam es an. Er glaube, schlimme Anzeichen für die Unbildung des Herzens innerhalb der politischen Parteien gesehen zu haben, und deshalb wolle er nach armseligen Kräften der Linken, die natürlich die Partei sei, die ihm am nächsten stehe, ein kleines »Vorsicht« zurufen, daß sie sich nicht zu sehr auf Leute ohne Herzensbildung verlasse; man müsse sich in acht nehmen, sich vorsehen, wählen …

Dies war der ganze Inhalt eines Stammelns. Die Versammlung war mehr als geduldig, daß sie ihn nicht niederzischte. Niemals war ein schlechterer Vortrag in diesem Saal gehalten worden, wo doch so mancher arme Kerl aufstand und sich aussprach. Er hatte absolut kein Glück, stand steif und unbeweglich da, wie ein Berg, machte lange Pausen, in denen er vor sich hin murmelte und die Lippen bewegte, stotterte, blieb stecken und gab eine Rede von sich, die der reine Wirrwarr war, voller Konfusion und Wiederholungen. Niemand verstand ihn. Und trotzdem schien es ihm ein Bedürfnis zu sein, diese Worte zu sprechen, dieses armselige »Vorsicht«, das er auf dem Herzen hatte, zu flüstern. Man konnte sehen, daß er seine Persönlichkeit in jeden wirren Satz, ja sogar in die Pausen legte.

Bondesen, der anfangs Nachsicht mit ihm hatte, weil er sich so schlecht aus der Affäre zog, wurde schließlich im höchsten Grade ungeduldig. In Höjbros abgerissenen Worten hatte er auch diesen und jenen feinen Stachel gegen sich gespürt, und es kränkte ihn mit Recht, daß man ihm zu Leibe wollte. Jetzt wollte man ihm wirklich gar noch seinen Radikalismus nehmen? Er war beleidigt und rief:

»Zur Sache! Zur Sache, Mensch!«

Und dem schloß sich die Versammlung an, indem sie ebenfalls rief: »Zur Sache!«

Aber es schien nur dieser Unterbrechung zu bedürfen, dieses kleinen Widerspruches, um Leo Höjbro in Hitze zu bringen. Er spitzte förmlich die Ohren, er kannte diese Bergener Stimme und wußte, woher sie kam, und indem er den Unwillen belächelte, den er geweckt, schleuderte er mit seines tiefen Stimme einige Sätze hinaus, die wie Funken, wie Blitze kamen:

Zuerst habe er eine kleine Bemerkung über Herrn Bondesen als Radikalen zu machen. Herrn Bondesens Radikalismus sei außerordentlich groß, dafür habe man ja sein eigenes Wort, aber er wolle Herrn Bondesen dagegen verteidigen, daß die Versammlung seinen Radikalismus überschätze. Man solle sich nicht vor ihm fürchten; denn wenn es Herrn Bondesen eines Tages einfallen sollte, den Radikalen seinen Radikalismus anzubieten, würden diese ihm antworten: »Mit der Sache da habe ich mich auch mal abgegeben, wenn ich mich recht erinnere; aber das ist sehr lange her, es war in der Zeit, als ich konfirmiert wurde …«

Nun konnte Bondesen sich nicht mehr halten; er springt auf und ruft:

»Der Mann … ich kenne diesen Mann, diesen bahnlosen Kometen; ich weiß nicht, ob er in politischen Fragen überhaupt mitreden kann, in norwegischer Politik aber ist er so unwissend wie ein Kind. Er liest nicht einmal die Nachrichten. (Gelächter). Er sagt, die Nachrichten langweilen ihn, er hat ihnen sein Interesse entzogen!« (Stürmisches Gelächter.)

Höjbro aber lächelt verstockt und fährt fort: »Es möge ihm demnächst gestattet sein, ein wenig an einem anderen Ausspruch Kritik zu üben, der hier heute abend gefallen sei …«

Da schreitet der Vorsitzende ein:

»Die Zeit ist um!«

Höjbro sieht hinter sich nach dem Katheder hinauf und sagt beinahe bittend:

»Nur noch fünf Minuten. Sonst wird meine Einleitung unverständlich. Nur noch fünf Minuten!«

Der Vorsitzende aber verlangt, daß seine Entscheidung mit Bezug auf die beschränkte Zeit respektiert werde, und Höjbro mußte sich setzen.

»Wie schade!« sagte Frau Dagny; »nun fing er gerade an.«

Sie war vielleicht die einzige im Saal, die Höjbro gefolgt war, selbst als er schlecht sprach. Dieser Mann hatte etwas, das Eindruck auf sie machte, der Klang seiner Stimme, diese eigenartigen Ansichten, das Bild mit dem bahnlosen Kometen; es war wie ein schwacher Widerhall von Johan Nagels Stimme; und Bilder zogen an ihr vorüber. Indessen zuckte sie schnell die Achseln und gähnte. Als es gleich darauf anfing, unruhig im Saal zu werden, und man laut zur Abstimmung rief, sagte sie:

»Wollen wir nicht gehen? Seien Sie so freundlich und begleiten Sie mich nach Hause.«

Und Lynge erhebt sich sofort und hilft ihr den Mantel anziehen. Es sei ihm eine Freude, er verlange gar nichts Besseres! Und er scherzte und machte Witze, die sie zum Lachen brachten, als sie die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus gingen:

»Soll ich nicht eine Notiz über ihn bringen, über den Mann mit dem bahnlosen Kometen, mich ein wenig über ihn lustig machen?«

»Ach nein,« sagte sie, »lassen Sie ihn. – Wie war die Geschichte mit dem Prediger nun eigentlich? Erzählen Sie mir's; was hat er getan?«

Aber Lynge weiß immer, was er tut; niemand kann ihn fangen, er sagt nicht zu viel. Nur einige Worte über das Faktum, und alles andere hüllt er in Dunkelheit. Inzwischen waren sie auf den Eisenbahnplatz gekommen, wo sie in eine Droschke stiegen und hinaus nach Drammensvejen fuhren, vor aller Augen, in hellem Gaslicht.


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