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Zwölftes Kapitel

Lynge war ärgerlich auf sich selbst, daß er seine Gefühle Charlotten gegenüber hatte mit sich durchgehen lassen. Nicht so zu verstehen, daß er um eines Haares Breite weiter gegangen wäre, als er hätte verantworten können, wenn es gegolten hätte, aber es war doch immerhin unangenehm, abgewiesen, verschmäht worden zu sein, sich unverrichteter Sache zurückziehen zu müssen. Immer wurde er verschmäht, immer abgewiesen; nur bei den nicht mehr unberührten Frauen, bei den bereits »gewöhnten«, fand er Zugang – mit allen anderen. Wenn er an die Reihe kam, wurde er zugelassen.

Der Vorfall mit Charlotte ärgerte ihn um so mehr, als er sich von einer gewissen Angst nicht ganz losmachen konnte. Bei jungen Damen ihres Standes hatte er sich bis jetzt nie zu versuchen gewagt; niemand konnte wissen, was ihr einfallen würde; sie hatte Verwandte, große Familie, man konnte ihm deshalb zu Leibe gehen, ihn aus dem Sattel heben.

Na, jedenfalls war kein Dritter zugegen gewesen; sie hatte keine Beweise.

Aber die ganze Geschichte ärgerte ihn. Nun mußte er die Untauglichkeit ihres Bruders noch eine Zeitlang passieren lassen; Fredrik Ihlens Referat vom Ting war in Wirklichkeit so unmöglich, daß er zum Gelächter wurde, wenn er es druckte. Aber er mußte es drucken, es sogar noch mit einem übertrieben hohen Preise bezahlen, um Ruhe im Herzen zu haben.

Und Lynge schwor sich, daß keine junge Dame ihn je mehr zur Torheit verführen solle.

Eine andere Sache war es, daß er im ganzen genommen doch seine Bewunderung für Frauen nicht aufgab, wenn es selbst auch nur die nicht mehr unberührten waren. Da hatte nun Frau Dagny ihn heute morgen auf der Straße angesprochen und nur durch einen Händedruck, durch ihr rosiges Lächeln hatte sie seine alte Neigung zu ihr wieder hoch aufflammen machen. Kälter konnte er nicht werden, mit dem besten Willen konnte er sich nicht kälter machen. Frau Dagny war mehr als liebenswürdig gewesen, sie hatte es beklagt, daß sie ihn in der letzten Zeit so selten sah, hatte gesagt, daß sie ihn entbehre, daß sie etwas mit ihm zu besprechen habe, was sie sich kürzlich ausgedacht.

Sie verabredeten, am Abend zusammen ins Theater zu gehen, später solle er sie dann nach Hause begleiten.

Mit Sehnsucht erwartete Lynge den Abend. Ihm war übrigens eine kleine Unannehmlichkeit passiert; er schleuderte die Zeitung fort und runzelte die Stirn. Die elendige, lästige Waschfrau von Hammersborg hatte wirklich immer noch nicht aufgehört, ihn zu belästigen; nun hatte sie endlich erreicht, daß ihr Aufruf in »berdens Cang« abgedruckt wurde, und sie hatte auch nicht verschwiegen, daß diesem Notruf die Aufnahme in die Nachrichten verweigert worden.

Lynge zuckte die Achseln. Zum Teufel, nun war er dies Bettelweib doch wohl endlich los, das sich ihm obendrein noch mit einem Gesicht präsentiert hatte, das alles andere war als rein! Aber da konnte man's wieder sehen – gab es wohl noch Dankbarkeit auf dieser Welt? Hatte das Weib denn auch ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß er – Redakteur Lynge – ihr von Anfang an schon einen bedeutenden Betrag vorgestreckt hatte? Keineswegs, das hatte das Weib nicht getan. Die Aufnahme in die Nachrichten verweigert! Weiter nichts!

Sobald Lynge mit dem Notwendigsten für die Morgennummer fertig war, verließ er das Bureau. Er wollte noch zum Barbier und dann gleich zu Dagny hinaus gehen. Vorher hatte er jedoch noch eine Besorgung zu machen; Lynge nahm den Weg nach dem Bureau des Norwegers.

Nach dem Bureau des Norwegers.

Er hatte leider noch eine kleine kitzliche Angelegenheit zu ordnen; diese Angelegenheit berührte ihn aber nicht weiter peinlich. Die Sache war nämlich die, daß sein kleiner Geschäftsführer aus lauter Besorgnis für das gute Gedeihen der Nachrichten einen dummen Streich gemacht hatte. Der Geschäftsführer hatte einfach Zirkulare an die Annoncierenden herumgehen lassen, an die Dampfschiffsgesellschaften, an Kaufleute, an das Kanalwesen zu Fredrikshald, hatte die Abonnentenzahl der Nachrichten und des Norwegers zusammengestellt und das Publikum aufgefordert, in dem meist verbreiteten Blatte zu annoncieren. Er hatte diesen Plan in seinem eigenen verschlagenen Hirn ausgeheckt, ihn aber so grob und offenbar, so undelikat ausgeführt, ohne auch nur einmal eine Prinzipienfrage anzudeuten, daß der Redakteur selbst sich hineinmischen mußte. Wenn der Norweger dieses Mal nun wirklich Mut faßte und Unannehmlichkeiten machte! Wenn er ihn der Gemeinheit gegen einen Gesinnungsgenossen, gegen ein ehrlich konkurrierendes Blatt zieh! Lynge sollte um keinen Preis der Welt, daß sein Blatt einer Nichtswürdigkeit dieser Art überführt werden könne.

Mit dem Redakteur des Norwegers war er bald fertig. Wie vornehmster Hahn vom Hof kam er in die fremde Redaktion hineingesaust, sagte so und so; es sei eine Unwürdigkeit, eine Schande, er hätte bis jetzt nichts davon gewußt, bat um Entschuldigung und versprach, Wiederholungen ähnlicher Dinge vorzubeugen. Damit war alles geordnet. Der Redakteur des Norwegers sagte die paar Worte, die gesagt werden mußten, nickte die paarmal, wo genickt werden mußte, und ließ die Sache fallen. Im innersten Innern war er sogar froh darüber, daß er das Glück hatte, seinem großen Kollegen einen Dienst zu erweisen.

Dann sagte Lynge adieu und ging. Aber der Redakteur des Norwegers begab sich augenblicklich zu seinem Sekretär und berichtete ihm das Geschehene; er hatte das Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen, und es war kein anderer als der Sekretär zur Stelle.

Lynge hatte die Klippen glücklich umsegelt. Er ging leichten Schrittes, den Hut auf einem Ohr, die Straße hinunter und trat bei seinem Barbier ein. Bald darauf kam er wieder heraus, rasiert, gekämmt, im höchsten Grade verjüngt und froh. Nun hatte er doch einen freien Abend, hatte keine Arbeit, nichts, was ihm Sorgen machte. Als er die Straße halbwegs hinunter war, entdeckt er, daß er keine Manschetten hat; er hat sie beim Barbier vergessen.

Ärgerlich, ein wenig heftig, kehrt er um und geht denselben Weg zurück; ein paar Minuten später stößt er auf seine Frau. Sie kam ihm gerade entgegen.

Soo – naja, natürlich! Weshalb zum Teufel hatte er denn auch die Manschetten vergessen! Er konnte ihr nicht mehr entwischen, sah keinen Nebenweg, auf den er hätte schlüpfen können; seine Frau blickte ihm gerade ins Gesicht, als sie auf ihn zuging.

Er nickte und sagte:

»Wie, du in der Stadt!«

»Ja«, entgegnete sie. Hör' mal, geh heute abend mit mir ins Theater. Ich möchte so gern.«

Er stutzte.

Ins Theater? Nein, er könne nicht.

Ach doch! Sie habe so große Lust dazu.

Sie könne ja allein gehen.

Sie bedachte sich, sagte aber nachdenklich Ja. Weshalb er denn aber dies eine Mal nicht mitkommen könne? Sie bäte ihn doch so selten um etwas.

Nein, er habe heute abend eine Zusammenkunft.

Aber ein paar Akte wenigstens? Er könne sie doch wohl wenigstens hinbegleiten?

Er schüttelte den Kopf und sagte ein wenig ungeduldig, er müsse ja allen Vergnügungen entsagen, wenn es andere wichtigere Dinge galt. Die Zeiten seien nicht danach, daß er auf Amüsement ausgehen könne; das Ministerium solle jetzt gestürzt werden, der Tag sei schon bestimmt.

Sie blieb stehen.

»Na ja, dann muß ich wohl allein gehen«, sagte sie.

»Ja, tu du das. Hör' mal, könntest du denn nicht eins der Kinder mitnehmen. Ach nein, es ist ja wahr, heute abend ist es nichts für Kinder. Ja, ja. Ich habe meine Manschetten beim Barbier vergessen; muß nun hinauf und sie holen.«

Dann trennten sie sich.

War es aber nicht wirklich ein Mordsglück, daß er seine Frau noch getroffen hatte, bevor er ins Theater ging! Nun, sie war ihm ja schon öfter im Theater und in Konzerten begegnet, ohne etwas zu sagen, selbst wenn er mit dieser oder jener Dame dort war; aber auf alle Fälle war dies ein Dämpfer, ein Band, er fühlte sich nicht als Hampelmann.

 

Als Lynge in Frau Dagny Hansens Wohnzimmer trat, empfing sie ihn mit einem leisen Freudenruf. Es sei hübsch von ihm, daß er sich die Zeit nehme, sich einmal wieder nach ihr umzusehen, in so unruhigen Zeiten noch dazu.

Es war noch eine Person zugegen, ein Fräulein Gude, eine Dame mit schneeweißem Haar. Lynge begrüßte sie herzlich, er hatte sie schon öfter hier draußen getroffen; sie wohnte mit Frau Dagny zusammen, wie eine Schwester, ein Kamerad. Fräulein Gude verließ übrigens sofort das Zimmer. Das tat sie stets, wenn Besuch kam.

Die Lampen brannten; ein rotglühender Ballon hing in der Sophaecke, und drüben an der anderen Wand stand auf einem Tisch eine Lampe, die ein weißes Licht durch ihren weißen Seidenschirm verbreitete. Im Ofen brannte ein lustiges Feuer.

Frau Dagny setzte sich aufs Sofa unter den roten Ballon und Lynge nahm ihr gegenüber auf einem Stuhl Platz. Sie sprachen von den neuesten Stadtbegebenheiten, von einem Überfall in Sandviken, über den die Nachrichten heute morgen imstande gewesen, einen großen Leitartikel zu bringen. Daß die Menschen so greulich gegen einander sein konnten! Frau Dagny durchschauerte es, wenn sie daran dachte. Sie bewohnte die ganze Etage mutterseelenallein mit Fräulein Gude und dem Dienstmädchen; wie bald konnte nicht ein Unglück auch sie betreffen!

Lynge lachte und sagte:

»Mutterseelenallein, alles in allem drei erwachsene Menschen!«

Übrigens gab er ihr recht, – wenn ein Unglück sein sollte, so –. Na, aber es gab doch wohl keinen Menschen, der das Herz hätte, ihr etwas zu Leide zu tun, wenn man sie erst gesehen hatte. Das könne er nicht glauben. Nein, sie sollte nur an seiner Stelle sein! Anonyme Briefe, Drohungen, Herausforderungen, fast jeden Tag!

Und Frau Dagny durchschauerte es wieder.

Aber! Was machte er denn mit solchen Briefen?

Lynge zuckte verächtlich die Achseln, zuckte zweimal verächtlich die Achseln und antwortete gleichgültig:

»Lese sie kaum!«

»Nein, aber! Daß Sie so viel Courage haben!«

Und er antwortete mit einem überlegenen Scherz, einem Psalmvers:

»Hja! Befiehl du deine Wege –«

Da fällt es Frau Dagny plötzlich ein, daß sie ins Theater wollten. Sie springt auf. Nein, beinahe hätte sie's vergessen!

Lynge. sieht auf die Uhr. Er zögerte ein bißchen mit der Antwort: Es sei eigentlich reichlich spät geworden; den ersten Akt würden sie jedenfalls versäumen; bevor sie hinkämen, würde die Uhr soundso viel sein, übrigens sei die Zeit ihm heute abend auch recht knapp, wenn er ehrlich sein solle … Und er schwindelte Frau Dagny dasselbe vor, was er seiner Frau gesagt hatte: er müsse heute nacht noch einer Versammlung beiwohnen, von der er nicht fortbleiben könne. Aber Frau Dagny dürfe ihm nicht böse sein; er wolle herzlich gern ein andermal gehen; das müsse sie doch begreifen, vielleicht morgen abend. Sie möge entschuldigen, daß er leider so lange im Bureau habe bleiben müssen. Er habe jetzt so viel um die Ohren.

Und Frau Dagny setzte sich wieder. Sie resignierte. Wenn er also Abhaltung habe. – Aber dann einen anderen Abend! Keine Umstände mehr!

Die nächtliche Versammlung machte sie jedoch neugierig; sie wollte gern noch etwas mehr davon wissen. Ob er wirklich direkt von ihr in eine nächtliche Versammlung gehen wollte? Wie groß und undurchdringlich dieser Mann doch war! Auf welche Gebiete erstreckte sich seine Tätigkeit! Sie sagte:

»Sie kommen also eigentlich nur, um zu sagen, daß Sie heute abend nicht mit ins Theater können?«

»Nein,« antwortete er, »eigentlich nicht. Ich komme vor allen Dingen, weil Sie so lieb gewesen sind, es mir zu gestatten, und dann um zu hören, was Sie eigentlich mit mir zu besprechen haben.«

»Ja,« sagte sie, »wenn ich das nur so gerade heraussagen könnte!«

Dann erzählte sie ihm, was sie sich in letzter Zeit ausgedacht hatte. Ja, der Mann sei nun fort, sei auf der Fahrt, in einigen Monaten käme er wieder. Und sie habe so große Lust, ihm eine Freude zu machen, wenn er heimkehrte, vielleicht sei sie nicht ganz so gewesen, wie sie während seiner Abwesenheit hätte sein sollen. Na, das bleibe am besten unerörtert. Nun hätte sie sich gedacht, daß Lynge mit seinem ungeheuren Einfluß beim Ministerium ihr ein wenig behilflich sein könne. – –

Lynge schüttelt den Kopf.

Ob sie eine Beförderung für den Gatten wünsche?

Nein, das gehe wohl nicht? Oder doch? Darauf verstehe sie sich nicht. Aber sie möchte ihm so gern eine Freude bereiten? Aufrichtig gesagt – eigentlich schäme sie sich, es zu sagen – habe sie an einen Orden für ihn gedacht, ein Kreuz?

Dies alles sprach Dagny wie eine einzige Frage, und dabei beobachtete sie Lynges Gesicht. Er sah nicht abwehrend aus, im Gegenteil, er sah beinahe aus, als mache er ihr Hoffnung.

Er brach in ein Gelächter aus und sagte:

»Einen Orden? Ihr Mann einen Orden? Legen Sie Wert auf dergleichen?«

Sie schüttelte heftig den Kopf.

»Nein, nein!« rief sie. »Nicht ich, das wissen Sie wohl! Aber du lieber Gott, wenn er doch etwas drauf gibt? Er gehört ja zu denen.«

»Hja!«

Lynge schwieg eine Weile. Beide schwiegen.

»Das Schlimme ist nur,« fuhr er fort, »daß das Ministerium bald fallen wird; ein konservatives Ministerium kommt an seine Stelle, und bei dem vermag ich nichts oder so gut wie nichts.«

Sie schweigt. Beide schweigen.

»Wie ärgerlich!« sagte sie endlich. »Sonst hätten Sie es gewiß getan, wie? Sagen Sie, würden Sie es sonst tun?«

»Jedenfalls würde ich alles tun, was ich könnte,« meinte er.

»Danke!«

Und dieser Dank ging ihm zu Herzen. Er fragte:

»Macht es Sie sehr betrübt, daß Sie Ihren Mann nun nicht mit dieser Freude überraschen können?«

»Ja, eigentlich sehr,« antwortete sie, und fast traten ihr Tränen in die Augen. »Ich hätte ihn so gern froh gesehen. Denn ehrlich gesagt, ich bin so manches, manches Mal fröhlich gewesen, während er fort war … Nun, sprechen wir nicht mehr davon!« sagte sie und ging in einen munteren Ton über. »Darf ich noch eine andere Frage an Sie stellen?«

»Lieber Gott, fragen Sie frisch weg!«

»Was ist das für eine nächtliche Versammlung, zu der Sie müssen? Wollen Sie mir das sagen?«

»Eine politische Versammlung,« erwiderte er ohne Bedenken.

»Eine politische Versammlung? So spät? Ist etwas Besonderes los?«

Und wieder antwortet er ohne Bedenken:

»Es gilt den Fall des Ministeriums. Wir wollen über den Tag beraten, über die Veranlassung.«

Lynge mochte nicht eingestehen, daß seine politische Herrschaft einen kleinen Stoß erlitten hatte. Innerhalb der führenden Linken hatten einige angefangen, Argwohn gegen den großen Redakteur zu hegen; seit seinen berühmten Unionsartikeln wußte man nicht mehr recht, was man von ihm glauben sollte. Es wurden Konferenzen ohne ihn abgehalten, der Präsident des Stortings hatte ihn seit Eröffnung des Tings nicht ein einziges Mal besucht, und Lynge war nicht mehr unentbehrlich. Er ahnte, daß hier und da bei den Führern heimliche Versammlungen abgehalten wurden; im Geiste war er mit dabei, er nahm Teil wie früher, sagte sein treffendes Wort und wich wie gewöhnlich nicht einen Zollbreit von seinen Prinzipien. Heute abend war sicher eine Konferenz, Leporello hatte das ausgekundschaftet, und der Fall des Ministeriums wurde sicher beschlossen. Bei einer solchen Begebenheit war er dabei, selbstverständlich dabei.

»Nein, denken Sie! Der Fall des Ministeriums!« sagte Frau Dagny.

Sie versank in Sinnen. Sie erinnerte sich so deutlich, wie diesem Ministerium vor einigen Jahren gehuldigt worden; das erste liberale Ministerium in der Geschichte des Landes! Ihr Vater, Propst Kielland, kannte den Chef des Ministeriums persönlich; wie oft hatte er mit seinen Kindern von jenem gewaltigen Streiter Minister Johan Sverdrup. gesprochen, desgleichen hierzulande noch nie geboren wurde! Ein Menschenalter hindurch hatte man den Widerhall seiner Stimme gehört, die Herzen hatten ihm in Begeisterung entgegen geschlagen, wenn er seine Kampfesworte hinausschleuderte. Und nun sollte er fallen! Gott im Himmel, wie traurig war doch alles, wenn nicht einmal ein solcher Mann sich halten konnte! Ihn so einfach beiseite zu stoßen, nachdem er all seine Kräfte in der Arbeit fürs Vaterland abgenützt hatte!

Frau Dagny bedauerte ihn innig. Sie sagte:

»Aber muß das Ministerium denn durchaus fallen? Und der Chef mit?«

Lynge antwortete kurz und bündig, ohne eine Spur von Sentimentalität.

»Natürlich.«

Langes Schweigen!

Er würde also fallen! Vergessen werden, nie mehr genannt werden; niemand würde ihn mehr auf der Straße grüßen; – er würde sein wie ein toter Mann. Bei dem bloßen Gedanken erbebte Frau Dagny. Sie hatte eine solche Herzensangst vor allen Katastrophen; seit der traurigen Begebenheit mit dem Abenteurer Nagel im vorigen Jahr konnte sie keine Aufregung mehr vertragen. Und hier fiel nun Norwegens feurigstes Genie; als verbraucht wurde es fortgeschleudert, als unbrauchbar; jeder Lappen von einer Zeitung im ganzen Lande würde das Geschehnis mitteilen und dann schweigen von ihm, für ewig.

»O Gott, wie finde ich das traurig!« sagte sie endlich.

Die echte Betrübnis, die aus diesen Worten klang, machte ihn aufmerksam; sein Künstlerherz erzitterte mit; mit fast feuchten Augen blickte auch er sie an und sagte:

»Ja, das finde ich auch, aber –!«

Plötzlich erhob sie sich vom Sofa, trat zu ihm, faltete die Hände auf seiner Schulter und sagte:

»Können Sie ihn nicht retten? Sie können es!«

Er wurde verwirrt, ihre Nähe, ihre Worte, der Duft ihres Atems brachten ihn wirklich für einen Augenblick in Verwirrung.

»Ich?«

»Ja … ach, wenn Sie es täten!«

»Das kann ich wahrlich nicht,« sagte er nur.

Als er zugleich nach ihren Händen griff, zog sie sich langsam von ihm zurück, begann mit gesenktem Kopf im Zimmer auf und ab zu gehen und ließ ihn allein sitzen.

»Er hätte uns gehorchen und seiner Vergangenheit treu bleiben sollen,« sagte Lynge, »dann hätte er bis an sein Lebensende regieren können.«

»Ja, mag sein.«

Frau Dagny setzte sich wieder aufs Sofa. Dann sagte sie: »Aber wird es denn um so viel besser, wenn wir ein rein konservatives Ministerium bekommen?«

»Das wenigstens nicht Treu und Glauben und Gesetz gebrochen hat, – ja,« erwiderte er.

Aber Lynge mußte trotzdem wieder an diese Worte denken. War es vom Standpunkt der Linken so viel besserem rein konservatives Ministerium zu bekommen?

Nach langem Schweigen sagte er:

»Darin haben Sie übrigens recht. Was Sie sagten, leuchtete mir ein.«

Sie sah so reizend aus, wie sie da im Sofa lehnte; ihre Augen ruhten auf ihm wie zwei blaue Sterne. Lynge zitterte; Frauen gegenüber standhaft zu bleiben, ward ihm schwer. Dieser Mann, der so streng und unerbittlich war; dessen Prinzipienfestigkeit lange Zeit ein Sprichwort gewesen; der die Gesellschaft so schonungslos von allem Humbug gereinigt hatte, – dieser Mann ward durch den Klang einer Frauenstimme bis in die Tiefe der Seele erschüttert. Sie hatte recht, es ward vielleicht nicht besser, wenn eine rein konservative Regierung ans Ruder kam. Und nun beginnt sein flinker Kopf augenblicklich zu arbeiten, alle Möglichkeiten der Welt fuhren ihm durchs Hirn, er sammelte die zersprengten Parteien, blies sinnenreiche und mühsam aufgestellte Kombinationen um wie Kartenhäuser, setzte Minister ein, zeigte, befahl, regierte das Land …

Außerstande, noch länger ruhig zu bleiben, erhob er sich und sagte mit einer Stimme, die vor Unruhe und Bewegung bebte:

»Sie haben mich auf etwas gebracht, gnädige Frau, ich bewundere Sie grenzenlos. Ich werde etwas tun …«

Sie erhob sich ebenfalls. Sie fragte ihn nicht aus; er hätte vielleicht auch nichts mehr gesagt, unerforschlich, wie dieser Mann war: jetzt aber reichte sie ihm die Hand und ließ sie ihm. Und hingerissen von seinem Feuer, seiner Entschlossenheit, rief sie aus:

»Gott, welch ein großartiger Mensch sind Sie!«

Vor einer Viertelstunde, ja, sogar noch vor fünf Minuten würden diese Worte ihn angefeuert haben, sich dieser jungen Frau wieder mit Torheiten zu nahen, jetzt hingegen war er wieder der Redakteur, die öffentliche Persönlichkeit, nur mit seinen Plänen beschäftigt, wie besessen von dem verzweifelten Coup, über den er brütete. Sogar seine Augen waren abwesend; diese Jungenaugen weilten starr und dunkel auf der Lampe mit dem weißen Seidenschirm; dann und wann zuckte es über seine Stirn. Sie hätte gern noch einmal des Ordens erwähnt, des Kreuzes; hätte gern gesagt, daß es ein kindischer Einfall von ihr gewesen, und ihn gebeten, es zu vergessen; aber sie wollte ihn nicht stören, und außerdem hatte er es sicherlich schon vergessen. Nur, als sie in der Tür stand und Lynge bereits draußen war, konnte sie sich nicht halten und sagte:

»Und das mit dem Orden war allzu dumm; das vergessen wir, hören Sie? Das vergessen wir!«

Da wurde ihm wieder heiß; seine alte Zärtlichkeit erwachte und schnell legte er den Arm um die Taille der jungen Frau. Als sie zurücktrat und ihn abwehrte, sagte er:

»Das vergessen wir? Vergessen ist nicht meine Art!«

Dann sagte er Gutenacht und ging. Sie blieb oben an der Treppe stehen und rief hinunter:

»Wir sehen uns doch wieder?«

Und tief unten antwortete er:

»In einigen Tagen.«

 

Instinktmäßig ging Lynge nach dem Bureau der Nachrichten zu.

Immer arbeitete und wühlte es in seinem Kopf, Pläne gärten, ganze Beschlüsse wurden gefaßt; fortwährend war er nahe daran, Menschen auf der Straße umzurennen. Es war erst elf Uhr; die Stadt war noch wach, alle Laternen brannten.

Lynge würde das Land noch überraschen. Trotz allem, im strikten Gegensatz zu dem, woran er Monat auf Monat gearbeitet hatte, wollte er das Ministerium retten. Er wollte einer radikalen Rekonstruktion das Wort reden; er wollte den Chef behalten und einen oder zwei Staatsräte; die übrigen sollten durch neue Männer ersetzt werden, alles, um einem konservativen Ministerium vorzubeugen. Durfte ein echter Liberaler anders handeln? Konnte er es verantworten, dem Lande zu einer Regierung von Konservativen zu verhelfen, jetzt, wo die großen Reformen durchgeführt werden sollten? Lynge hatte die hervorragenden Männer der Linken bereits gefunden, die in den neuen Rat eintreten sollten, eine Ministerliste war fertig; er selbst wollte die Anweisung auf die Persönlichkeiten geben, wenn der Zeitpunkt gekommen war.

Und wieder würden der Norweger und die dogmatischen Führer der Linken vor Erbitterung mit den Zähnen knirschen, weil ihre Beschlüsse umgeworfen worden. Hoho! Wie sie aufmucken würden! Was weiter? War er nicht gewöhnt, Stürme auszuhalten? Er wollte den guten Leuten doch zeigen, daß sie ihn nicht ungestraft ausschließen konnten – ihn, Redakteur Lynge – von ihren nächtlichen Versammlungen. Es war seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, daß der Verein der Linken ohne ihn im »Royal« vesperte; man wollte ihn übergehen, ihn zurücksetzen; es gelüstete ihn zu sehen, wer durch diese Art von Eigensinn gewinnen würde. Hatte er nicht beinahe die Hälfte seines Lebens dem Lande und der Partei wie ein Sklave gedient?

In diesem Augenblick verhehlte Lynge sich nicht, daß im Vertrauen des Publikums zu seiner Politik ein Umschlag eingetreten war. Es war verändert, das sah er sehr wohl, er hatte es nicht mehr ganz und gar in der Tasche, es hatte sich zersplittert, es war für und wider ihn; man debattierte über ihn. Und alles kam von diesen unglückseligen Artikeln über die Union. Nun, er wollte die Leute lehren zu überlegen; er hatte abermals ein Eisen im Feuer, und der Hammer sollte darauf herumtanzen, so daß alle Welt darüber in Erstaunen geraten würde. Draußen im Lande hielt man den Namen des Ministerpräsidenten noch hoch; Leute, die ihr Leben lang sein Lob hatten singen hören, konnten ihn nicht aus ihrem Herzen reißen. Jetzt kam Lynge wie ein Donnerwetter daher, brannte Raketen ab, schwenkte den Hut und hob den alten großen Herrn unter voller Musik wieder auf seinen Thron. Das Volk würde diesen Tönen sofort lauschen, es waren bekannte Töne, es lag Macht in ihnen und es würde mitjubeln wie früher, wie in aller Zeit. Ja, Lynge wußte, was er tat.

Wir sehen uns doch wohl wieder? Ja, sie würden sich wiedersehen. Eines schönen Tages in allernächster Zeit würde er Frau Dagny einen Dienst erweisen, den niemand im ganzen Lande die Macht hatte, ihr zu leisten; sie sollte verstummen, sich beugen vor seiner Gewalt. Auch sich selbst würde er einen kleinen Dienst leisten, überwältigend würde er sich in Erinnerung bringen, so daß er nicht so leicht wieder vergessen würde. Das Aufsehen, das er jetzt wecken würde, sollte ihn für lange Zeit schadlos hatten, und er dachte schon an eine kleine Erweiterung der Nachrichten, eine spaltenbreite Vergrößerung, mit der die Tausende von Abonnenten, die nun hinzukommen würden, beim Quartalswechsel überrascht werden sollten.

Was würden die Leute, was würde alle Welt sagen? Die Blätter, seine Kollegen, seine Konkurrenten, die liberale Presse würden ärgerlich tun; weshalb nicht? Streit um seinen Namen und sein Blatt, das war's, was er wünschte, übrigens kannte er die liberale Presse; sie nickte, wie sie nicken sollte, wenn er gesprochen hatte; sie besaß den ehrenwertesten Stab von Redakteuren, deren Stärke nicht gerade in ihrem Kopfe saß. Er hatte sie so oft geblendet, sie nickten dazu, sie sagten, was er sagte; wenn er ihnen seine Strümpfe zu stopfen gäbe, würden sie sie stopfen. Der einzige, der vielleicht stutzen und um Bedenkzeit bitten würde, war der Norweger. Wenn Lynge mit seiner Rekonstruktion des Ministeriums kam, würde der Redakteur des Norwegers einen Augenblick in Träumereien versinken, dann würde er die Werte sprechen, die gesprochen werden mußten, seine Bedenken mit der größten Rücksichtnahme flüstern und auf dem Seinen bestehen. Ja, Lynge kannte ihn. Und sollte der Norweger es wagen, seinen großen, feinen diplomatischen Kniff auf eine Schwenkung zurückzuführen, dann sollte er die gebührende Antwort bekommen. Nein, es war keine Schwenkung; gerade in seiner Eigenschaft eines festen Liberalen tat er diesen Schritt; es war keine Schwenkung, es war Politik in der Politik, derselbe Marsch, nur der Takt verändert.

Lynge war bis an die Tür seines Bureaus gekommen, da blieb er stehen und überlegte. Im Grunde war es nutzlos, heute abend noch etwas zu tun; die Morgennummer der »Nachrichten« war bereits voll und vielleicht bedurfte er auch noch dieser Nacht, um die Einzelheiten zu überlegen. Er war gerade im Begriff, umzukehren, als er aus alter Gewohnheit den Briefkasten öffnete und die eingegangene Post in die Tasche steckte; die Zeitungen ließ er liegen.

Er ging in die Einfahrt hinunter und durchflog die Briefschaften beim Schein einer Laterne; ein großes gelbes Kuvert mit Siegel fiel ihm besonders auf, er erbrach es mit einiger Neugierde.

Lynge fuhr zusammen, hielt sogar einen Augenblick den Atem an. Der Staatsminister! Der Chef des Ministeriums wünschte eine Besprechung mit ihm, wünschte diese Besprechung so bald wie möglich, bei Nacht oder bei Tag.

Welch ein Glück, daß er so rein instinktiv in die Redaktion gegangen war! Eine Besprechung bei Nacht oder bei Tag; irgend etwas war los, die große Exzellenz wackelte vielleicht im Ministerfauteuil? Na, um so besser, um so größer würde Lynges Sieg! Hatten die Führer ihn mit ihren geheimen Beratschlagungen übergangen, so würde er trotzdem seine nächtliche Zusammenkunft haben; der Staatsminister in eigener Person rief ihn!

Lynge nahm eine Droschke und fuhr spornstreichs nach der Zollamtsstraße hinunter. Hier stieg er aus und ging sofort nach dem Stiftsgaard Stiftsgaarden – das alte königliche Schloß, welches umgebaut wurde und jetzt der Wohnsitz des Ministerpräsidenten ist.. Ob wohl einer seiner Mitmenschen sah, wohin er zu mitternächtlicher Stunde ging? Er spähte umher, die Gasse war jammervoll öde; keiner, der ihn sah! Er läutete, die Tür wurde geöffnet; er war erwartet worden; er wurde eingelassen ohne Meldung.

Die alte schneeweiße Exzellenz empfing ihn im Privatzimmer.

»Ich war so frei, Sie hierher zu bemühen, weil etwas Wichtiges im Werke ist,« sagte sie. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.«

Diese Stimme, diese Stimme! Lynge hatte sie schon gehört, im Tingsaal, auf der Tribüne, vor großen Menschenmassen. Lynge bebte.

Sie nahmen einander gegenüber Platz; Lynge hielt seinen Hut in der Hand.

»Ich dachte mir wohl, daß Sie heute abend noch in die Redaktion gehen würden, wenn Sie von der Beratung kamen.«

Lynge sagte nichts, er verbeugte sich nur. Bei einer solchen Begebenheit, wie diese Beratung, war er doch zugegen gewesen, war er selbstverständlich zugegen gewesen!

»Ich weiß leider,« fuhr Se. Exzellenz fort, »daß zwischen Ihnen, Herr Redakteur, und mir in letzter Zeit große Meinungsverschiedenheit geherrscht hat. Ich beklage dies und spreche mich keineswegs von Schuld frei. In dem schweren Übergang, da die erste liberale Regierung des Landes das Steuer übernehmen mußte, hatten wir Staatsräte auch mehr zu tun, als irgend jemand ahnt, um nicht zu straucheln, nicht zu fallen; denn der Boden war schlüpfrig, Herr Redakteur. Ich sage dies nicht zu meiner Verteidigung, aber ich glaube, daß eine kleine Entschuldigung darin liegt.«

»Selbstverständlich, Exzellenz.«

Es seien aber keine nicht wieder gut zu machende Fehler begangen, fuhr Se. Exzellenz in demselben, fast vertraulichen Tone fort; mit ein wenig gutem Willen müßte jeder dies sehen und die Geschichte beurteilen können; gar manches könne schon jetzt wieder abgeändert werden; sein langer Arbeitstag habe seinen unermüdlichen Willen bewiesen, seinem Lande zu dienen. Und jetzt! Se. Exzellenz wußte zwar nicht, was der Herr Redakteur wußte, er hatte keine Kenntnis von dem Beschluß, welchen die Opposition heute abend in bezug auf das Ministerium gefaßt habe; sei es aber der Fall des Ministeriums, den sie nun gerade zu diesem Zeitpunkt beschlossen, dann würde die Sonne morgen über einem Volke aufgehen, das nicht wußte, was es getan hatte; die Verantwortung würde schwer zu tragen sein.

Und wieder bat der Minister um Entschuldigung, daß er den Herrn Redakteur nach Stiftsgaarden um diese Tages- oder vielmehr Nachtzeit herunter bemüht habe. Es habe ihm jedoch geahnt, daß man die Regierung zwingen wolle, in den nächsten Tagen zu demissionieren, vielleicht schon morgen.

»Darin irren Exzellenz vielleicht nicht,« sagte Lynge.

Er hatte den Minister übrigens schon ein paarmal unterbrechen wollen, erklären, daß er schon, bevor er hergekommen, den Entschluß gefaßt hatte, den Chef der Regierung auf jeden Fall auf seinem Posten zu lassen; der alte Parlamentarier hatte ihn aber mit eins überwältigt, hatte ihn überzeugen, seinen Widerstand besiegen wollen. Lynge ließ ihn.

Der Minister wurde groß und schön in seinem Lehnstuhl, er sagte witzige Dinge, machte schnelle Gesten, hielt eine Rede. Mit überlegener Kunst und Feurigkeit entwickelte er seine Ansichten über die Situation, fragte, ließ den andern antworten, und fuhr dann wieder in zündenden Worten fort. Er respektierte Lynges talentvollen Widerstand, die große Innerlichkeit seines Angriffs; solche Angriffe konnten nur in hoher, heiliger Überzeugung wurzeln; sie machten ihm Ehre. Jetzt aber wolle er ihn fragen, gerade weil der Herr Redakteur der Meister, das einzig dastehende Talent der Partei sei, – jetzt wolle er fragen, ob er es verantworten könne, einer konservativen Regierung zur Macht zu verhelfen, jetzt, wo all die Sachen, an denen sowohl der Herr Redakteur, wie er selbst und die gesamte Linke während so vieler Jahre gearbeitet hatten, zur Durchführung kommen sollten? Ob er es verantworten könne?

Der Minister wußte während der ganzen Zeit, was er sagte, wie er seine Argumente belegte; er kannte Lynge aus- und inwendig, nichts war der alten, feinen Exzellenz verborgen. Er hatte Lynges unionspolitische Manöver verfolgt und wußte vielleicht zu dieser Stunde, daß Lynge durchaus nicht von einer Beratung kam, daß er im ganzen nicht mehr das unbeschränkte Vertrauen der Linken besaß. Aber Se. Exzellenz war ebensowenig blind für die gefürchtete und bewunderte journalistische Geschicklichkeit dieses Redakteurs; im Volke hatte sein Name denselben großen Klang, sein Blatt wurde gelesen und verfolgt; die Provinzpresse machte noch immer Kreuze vor seinen siebenzeiligen Notizen. Seine Exzellenz wußte, daß dieser Mann ihm von Nutzen sein könne, ja, er war beinahe überzeugt, daß, wenn Lynge sich scharf in die Zügel werfe, sein Ministerium trotz aller heutigen heimlichen Beratungen bleiben werde.

Er erhob sich und bot Lynge eine Zigarre an.

Der Redakteur saß noch da, umbraust von den Nachklängen der Beredsamkeit des Ministers. Ja, so hatte er ihn schon gehört, im Tingsaal, auf Volksversammlungen, vor vielen, vielen Jahren. Du großer Gott! Wie vermochte dieser Mann zu Begeisterung und gewagten Handlungen anzuspornen!

Er sagte offen, daß die Arbeit, einer konservativen Regierung den Weg zu bahnen, ihm wenig angenehm sei. Er habe auch überlegt, ob es nicht vermieden werden könne, ob es sich absolut nicht tun lasse, dies zu vermeiden, und er war stehengeblieben bei der Möglichkeit einer Rekonstruktion. »Ich habe an eine Rekonstruktion von Eurer Exzellenz Ministerium gedacht!«

»Selbstverständlich!« unterbricht der Minister hurtig. »Selbstverständlich müssen wir über die Hälfte unserer Räte ausschließen und sie durch Männer ersetzen, welche ihrem Lande in dieser Krisis dienen können und wollen.«

So waren sie im Grunde einig.

Sie verhandelten noch eine volle Stunde, lösten und banden, besprachen Details miteinander und dankten sich gegenseitig für jeden großen, guten Einfall. Nur mit Rücksicht auf die Zeitungsfehde selbst wollte die Exzellenz alles dem Redakteur überlassen; er selbst konnte nicht schreiben, er schlug mit der Hand auf und sagte scherzend:

»Ihrer Feder, Herr Redakteur, möchte ich mich nicht aussetzen.«

Lynge hatte die Sache mit dem Orden auf der Zunge, den ihm zu verschaffen dem Minister natürlich eine Freude sein würde; aber es war zu kleinlich, zu wenig ernst, eine derartige Spielereifrage an diesem ernsten Abend zur Sprache zu bringen. Lynge wollte warten; der Tag würde wohl noch kommen. Als er vom Minister Abschied nahm, hatte er des Ordens nicht erwähnt.

Noch in der Tür sagte Se. Exzellenz, als er Lynges Hand zum letztenmal drückte:

»Ich danke Ihnen noch einmal, daß Sie gekommen sind. Wir beide haben Norwegen heute nacht einen Dienst geleistet.«

Und Lynge ging.

 

Die Gasse war öde; alle Gassen waren öde; die Stadt war schlafen gegangen. Lynge begab sich ins Redaktionsbureau.

Noch heute abend wollte er seinen ersten Artikel fertigmachen, während sein Geist noch Flammen schlug. Was er jetzt schreiben wollte, würde jeden in Erstaunen setzen; man würde es laut und leise lesen, es diskutieren, wiederholen bis ins Unendliche, es auswendiglernen; nun galt es, seine Sache gut machen.

Lynge ahnte, daß er im Begriffe sei, seinem politischen Ansehen noch einen Knacks zu versetzen. Was weiter? Das würde vielfältig gut gemacht durch den großen Sieg, den er erkämpfen würde. Im Geiste sah er sein Blatt als das größte im Lande, mit Zehntausenden von Abonnenten, eigenem Telegraphen, eigener Eisenbahn, einer Expedition zum Zweck von Entdeckungen am Nordpol, Filialen in allen Weltteilen, Ballonen, Brieftauben, eigenem Theater und eigener Kirche nur für das Personal der Druckerei. Wie klein war doch alles solchen gigantischen Visionen gegenüber! Und was, wenn er nun wirklich noch ein bißchen von dem Vertrauen der guten Leute einbüßte! Plunder! Schund! Das Vertrauen sollte nur zusammen brechen; er lenkte auf einen anderen Weg ein. Welche Entschädigung hatte er denn für seine endlose Mühe mit diesen ländlichen Katechismus-Helden gehabt? Hatte es ihm die Anerkennung eingebracht, die er eigentlich wertschätzte? Nahmen die feinen Leute den Hut vor ihm ab? Nickten der Bischof und der General ihm zu? Funkelten die Blicke ihrer Töchter vor Bewunderung, wenn er an ihnen auf der Straße vorüberging? Ach, Alexander Lynge mit all seinen Verdiensten war ausgeschlossen; selbst hochnäsige Liberale begannen Zusammenkünfte ohne ihn abzuhalten. Da war ja diese Oberstentochter, die in Kopenhagen Viere vom Bock gefahren hatte, – tat sie wohl, als ob sie ihn kannte, wenn er vorüberging? Durchaus nicht, obgleich er sie so wohlwollend in seinem Blatte besprochen hatte.

Nein, man sollte nicht mit ihm spielen, bei Gott, das sollte man nicht; er war zu allem fähig, niemand kannte seinen Willen und seine Kraft. Er wollte in seiner neuen Politik siegen, die Leute sollten, sollten kniend zu ihm zurückkehren; er wollte sie zügeln, zur Vernunft bringen. Wieder sollten die harrenden Scharen auf seine Entscheidungen im Ting lauschen …

Lynge trat in die Redaktion. Es war dunkel. Er zündete Licht an und untersuchte den Ofen; der war leer. Dann setzte er sich an den Tisch und griff zur Feder. Sein Artikel sollte werden wie Feuer und Schwert; es galt, daß er traf und fing! Er taucht die Feder ein und will beginnen. Da hält er inne.

Sein Blick fällt auf die blauen Buchstaben auf seiner Hand, diese erschreckenden Zeichen, die seine Hände gemein machten. Aus alter Gewohnheit und ganz mechanisch beginnt er sie zu reiben, darauf zu blasen und wieder zu reiben. Dann gab er es auf.

Und Redakteur Lynge schreibt, sitzt in diesem kalten Zimmer, in dem das Feuer ausgegangen ist, und schreibt mit seinen gezeichneten Händen bis tief in die Nacht hinein.


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