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In den Gängen und Komiteezimmern des Stortings gingen die Repräsentanten umher, alle – Liberale und Konservative – mit der großen Entscheidung beschäftigt, die jetzt bevorstand. Auf allen Gesichtern war der tiefste Ernst zu lesen. Redakteure, Referenten, Boten, notable Besucher, Tingmänner gingen durcheinander, flüsterten in Winkeln, schüttelten den Kopf, hielten auf ihre Überzeugung und wußten sich keinen Rat. Lynge hatte wieder so einen gefaßt, einen von den Schwankenden, stützte ihn, hielt ihn aufrecht und erwartete Freude von den Seinen. Der Redakteur des Norwegers spazierte ebenfalls mit einem oder dem andern zur Seite umher; er war erschüttert, bleich durch die Feierlichkeit der Stunde, er sagte beinahe nichts und zählte gespannt die Minuten. Jetzt hatte Vetle Vetlesen drinnen im Saal das Wort; niemand nahm sich die Mühe, ihm zuzuhören; seine Rede galt nur der Bewilligung eines neuen Leuchtturmes an der Küste; aber alle wußten, daß, wenn Vetle Vetlesen zu Ende gesprochen, eine Interpellation kommen würde. Die Rechte wollte interpellieren. Der Redakteur des Norwegers wollte so ungern wie einer dies einmal so gefeierte Ministerium auf so schmähliche Weise stürzen sehen; kam aber die Rechte dazu, einen Platz einzunehmen, so geschähe es mit allem Recht; das könne und wolle niemand leugnen. Die Regierung habe jahrelang dem Willen der Linken getrotzt, eine reaktionäre Kirchenpolitik forciert, Versprechen gebrochen, die Ehrlichkeit in den Staub getreten – sie müsse fallen.
Lynge begann nach und nach die Hoffnung aufzugeben. Zuletzt versuchte er es noch beim Eisenwerksbesitzer Birkeland, konnte diesen Ehrenmann aber nicht um eines Haares Breite vom Wege abbringen. Er zuckte die Achseln, fühlte sich aber nicht mehr auf der Höhe. Er wurde im Gegenteil müde und fühlte sich unbehaglich in dem Schwarm dieser trübseligen, ernsten Menschen, die die Dinge so verteufelt feierlich nahmen. Lynge hielt es nicht länger aus. Seine Gaminnatur empörte sich gegen diese Fürsorge um das Land, er mochte nicht länger grübeln. Den ersten besten Menschen, den er traf, hielt er an und machte einen kleinen Scherz. Als aber im selben Augenblick der Redakteur des Norwegers vorüberging, gebeugt, geknickt vor bitterer Betrübnis, war Lynge außerstande, länger ernst zu bleiben; er zeigte auf den Redakteur und sagte:
»Nein, seht doch dieses Lamm Gottes, der die Bürden der ganzen Welt auf sich genommen!«
Nein, unmöglich, in diesem Elend auszuhalten! Lynge sah auf die Uhr, er hatte sich auch mit Frau Dagny verabredet, heute abend wollten sie endlich zusammen ins Theater gehen; es war Zeit, er wollte nicht zu spät kommen, wie das letztemal. Hier konnte er ja auch nicht helfen, selbst wenn er blieb; das Resultat war unsicher; aber wurde es sicherer, wenn er blieb? Es würde vielleicht noch eine halbe Stunde dauern; allerdings war Vetlesen endlich mit seiner Rede zu Ende und die Repräsentanten strömten hinein, um abzustimmen; aber Lynge konnte absolut nicht länger bleiben. Er konnte ja auch nicht helfen.
Und Lynge ging ins Theater …
Im Tingsaal aber wurde die Abstimmung mit äußerster Langsamkeit vorgenommen; es war, als hätten alle Angst, damit zu Ende zu kommen und vor etwas Neues gestellt zu werden.
Dann entstand eine kleine Pause.
Die Galerie war vollgepfropft von Zuhörern. Leo Höjbro hatte einen Platz in der alten Referentenloge gefunden und saß fast atemlos da. Jeder Mensch auf der Galerie wußte, was geschehen würde, und saß da, ohne sich zu rühren.
Nun erhebt sich der Führer der Rechten.
»Herr Präsident!«
Die Repräsentanten strömen zu ihm hin, bilden einen Ring um den Sprecher, stehen vor ihm, starren ihm ins Gesicht. Die Interpellation war kurz und bündig, eine Frage, eine unterstrichene Frage, ein Verlangen nach Antwort. Und als der Führer der Rechten sich setzte, blickte der alte Präsident von einem zum andern, gequält von seiner Neigung, beiden Parteien zuzuneigen. Schließlich schickte er die Interpellation mit einer Umschreibung weiter, an ihre richtige Adresse, an den Ministerchef selbst, der an seinem Platz saß und zwischen Papieren suchte, als ob gar nicht interpelliert worden sei.
Se. Exzellenz schwieg einen Augenblick. Erwartete er jetzt die Unterstützung, welche herbeizuschaffen Lynges Arbeit gewesen? Weshalb stand ihm niemand zur Seite, auch nicht ein einziger? Früher war keiner in diesem Saale, der es verstanden hätte wie er, Herzen klopfen und Augen aufleuchten zu lassen. Jetzt war alles still; nur hinter sich in dem großen Saal vernahm er den Atemzug der Repräsentanten.
Se. Exzellenz erhob sich und sprach einige Worte. Konnte man dieses Unwetter nicht mit einer kleinen parlamentarischen Wendung ablenken? Er versuchte es, sagte ein paar Worte von seinem langen Arbeitstag, erklärte, daß, wenn das Land seiner Dienste nicht mehr bedürfe, so würde er sich in das Alter und die Ruhe zu finden wissen. Als er sich setzte, hatte er viele Worte gesprochen, ohne zu antworten; seine Kunst war sehr groß gewesen.
Aber der Führer der Rechten rückt ihm auf den Leib. Ja oder Nein, eine Antwort, eine Entscheidung!
Und wieder wartet Se. Exzellenz einen Augenblick. Auf was wartet er? Niemand erhebt sich. Niemand tritt zu ihm.
Da macht Se. Exzellenz der Qual ein Ende: das Ministerium würde morgen sein Abschiedsgesuch einreichen; Se. Majestät sei übrigens schon vorbereitet.
Und Se. Exzellenz schließt seine Mappe auf dem Pult, schiebt sie unter den Arm, kalt, ruhig – als ob gar nicht interpelliert worden wäre. Seine Räte folgen ihm, zwei und zwei.
Das Ministerium war gestürzt.
Höjbro versucht, sich aus seiner Loge herauszudrängen und kommt endlich mit vieler Mühe auf den Gang hinaus. So war das Ministerium also gegangen, Lynges Manöver hatten es nicht retten können; was würde nun das nächste sein, womit Lynge Aufsehen machte?
Höjbro war gerade in der Stadt gewesen und hatte seine Broschüre verschickt. Sie war nicht rechtzeitig fertig geworden, um noch Einfluß auf den Fall des Ministeriums zu nehmen, aber das war auch nicht notwendig; nun hatte doch die zuverlässige Linke gesiegt, die Reklamepolitik der Nachrichten war zurückgeschlagen worden. Und Höjbro freute sich in seinem Herzen, die Linke war noch auf dem rechten Wege.
Er bereute nicht ein einziges Wort in seiner Broschüre; nicht einen einzigen Satz hätte er anders formen mögen. Er hatte Lynge als eine schiffbrüchige Natur geschildert, ein geistiger Geck mit Begabung, der bereits in den grundlegenden Jahren verdorben worden und nun zum Kellner einer Stadt, eines Boulevardpublikums herabgesunken war. Was sagte die Stadt? Die ganze Stadt war gestern in hellem Gelächter über die den Präsidenten der Ersten Kammer so tief herabsetzende Besprechung der Rechten; der Gesprächsstoff der Stadt war in dieser Woche die Notiz der Nachrichten über den Überfall in Sandriken gewesen; es ist noch die Frage, ob andere Leute in der Stadt dieselbe Freude an den Artikeln der »Abendpost« haben wie die Abendpost selbst … Kaum hatte sich etwas zugetragen, so kam Lynge gelaufen, verbeugte sich und befragte die hochgeehrte Stadt um ihre hochgeehrte Ansicht; und wenn er diese erfahren hatte, verbeugte er sich wieder.
Nun, dazu sei ja weiter nichts zu sagen. Aber bitte gehorsamst zu beachten, daß dieser Mann ohne Zuverlässigkeit, ohne Überzeugung zu Gericht saß über Menschen und Dinge, nur kraft seiner Fähigkeit, die Meinung der Stadt zu erlauschen. Seine persönliche Leichtigkeit zog die öffentliche Diskussion herab, säte Verwirrung, wo sie konnte, und schwächte das Verantwortlichkeitsgefühl der Leute. Aus dem Wege, Lynge will sich herumschwenken, Lynge will das Publikum mit einer seltsamen neuen Sache in Atem halten! Er zeigt sich von einer fremden Seite, er überrascht, er stellt alles Stabile und Feste auf den Kopf; selbst vor seiner eigenen früheren Meinung hat er nicht mehr Achtung, als daß er sie weglacht, sie mit seinem Witz auslöscht und sie vergessen sein läßt.
Für einen solchen Mann ist moralische Herzensechtheit eine hübsche und angenehme Haustugend, politische Treue und Wahrhaftigkeit eine Phrase, ein Name. Und er handelt danach. Er macht die ehrliche Arbeit der Linken durch seine plötzlichen Manöver unsicher, erfüllt die Presse des Bruderlandes mit falschen Vorstellungen über die norwegische Volksmeinung und bringt uns um Jahre in unsern Unterhandlungen mit den Schweden über unser Recht zurück. Er beabsichtigt nicht, die Linke zu ruinieren, er will nur seinen eigenen eigentümlichen Ton im Konzert spielen, um sein Blatt gelesen zu machen; er will eine Rolle haben, will im Gerede sein; ach nein, er will die Linke nicht ruinieren, das wäre allzu grob; er nimmt ihr nur die Innerlichkeit, die wärmste Bedeutung und läßt sie dann weiter leben. Ist er drei Monate lang ein getreuer Anhänger der Linken gewesen und hat zur Hilfe seiner Partei geschrieben, so ersinnt er für den vierten ein Mittel, die Leute in Erstaunen zu setzen, und er gibt eine Nummer aus, in der er den Standpunkt der Linken gänzlich verrückt und die Rechte mit halbversteckten Zugeständnissen erfreut.
Auf diese Weise will Lynge sich in die Rechte eindrängen. Er will auf der Rechten Abonnenten haben, er will das Interesse der Rechten erringen. Und die Rechte zeigt ihm nicht die Tür, nicht alle Konservativen, nicht jeder einzige, die höflichen Leute lassen ihn nicht hinauswerfen. Wird er ihr Interesse erringen? Gut! Er ist wirklich interessant, er macht ihnen sogar Zugeständnisse! Und die wankelmütige Rechte, die schlichten Bedauernswürdigen der Partei lassen sich neugierig von diesem Manne mit Zugeständnissen besudeln.
Über sein ganzes Feld breitet Lynge auf diese Weise seine schlecht imitierte Ehrlichkeit; die Nachrichten sind in Fragen über Selbstmorde und Sittlichkeitsverbrechen auf der gerechten Seite; die Nachrichten lassen verkommene Wahrsagerinnen und Agenten nicht in Sünden hinübergehen, sondern decken sie offen und unbestechlich auf, mit kalter Gerechtigkeit, öffnet ihnen' alle nur möglichen Wege zu der Verachtung anderer Menschen und reinigt dadurch die Gesellschaft von Sünden und Humbug.
Aber etwas muß doch an diesem Manne sein, der sich einen so gefestigten Redakteurruf erworben hat? Ja, das ist an ihm, daß er eine Zeitlang eine journalistische Kraft in seinem an journalistischen Kräften notleidenden Lande war, und in dieser Zeit leistete er eine erfolgreiche agitatorische Arbeit. Mit frischer Gewalt feuerte er seine Epigramme ab; die Schüsse wurden gehört, sie widerhallten oben in den Bergen und unten in den Tälern, die Schüsse waren kühn, niemand konnte sie ihm nachmachen. Hoch und niedrig, groß und klein, alles mußte sich drein finden, ihm als Zielscheibe zu dienen, nur die unantastbaren Persönlichkeiten, die größten Dichter, die größten Komponisten, die größten Sportsmänner, diese populären Allgemein Helden aller Art, die von der Meinung der Stadt verteidigt wurden, – nur sie entgingen den Epigrammen Lynges. Aber dadurch befestigte der Mann seine Position: er griff grausam an, er schoß, er brandmarkte, – jawohl, aber er schonte die, so der Schonung wert waren.
Und niemandem schien es klar zu werden, daß nur in einem Lande, wo die Journalistik so jämmerlich war wie in Norwegen, dieser Mann eine Rolle spielen konnte. In einem großen Lande wäre er Scherenredakteur an einem Blatte gewesen; in Afghanistan würde er sich zum Dorfmedikus aufgeschwungen und Künste im Sande gemacht haben.
Jetzt aber soll die Linke sich vor diesem Manne hüten. Solange die Linke noch eine zerrissene Partei war und mitten in den unionistischen Verhandlungen steckte, würde Lynge der Linken die drei Monate, und der Rechten im vierten, angehören; sammelte sich hingegen die Linke eines Tages, so würde Lynge ganz und unverkürzt wieder der größten Partei angehören. Solcher Streiter aber solle die reine und ideale Sache der Linken sich nicht bedienen. Lynge hatte sich allzusehr als Spekulant erwiesen, von ihm konnte man alles erwarten, er war zu allem imstande. In unseren öffentlichen Diskussionen hatte er den Ernst überflüssig gemacht und eine freche Leichtfertigkeit mit Menschen und Dingen eingeführt, desgleichen man hierzulande noch nicht gesehen hatte. Er war wie ein Scharfschütze zu betrachten, der aus der Schlacht gelaufen kam und alle Weiber des Landes durch die Menge von Blut an seinen Kleidern in Erstaunen setzte. Und fragten die Weiber, wie es gewesen und wie es zugegangen, dann würde er antworten: Zugegangen? Ich erschoß zehntausend, da konnte ich nicht mehr, ich sah alles rot. Aber ich fange wieder an, bei Gott, das tue ich, – sobald die Ansichten bessere werden …
Dies war der Inhalt von Höjbros Broschüre. Außerdem waren noch persönliche Dinge drin, Geheimnisse, die Höjbro aus Lynges nächster Umgebung, von Leporello, erfahren haben konnte, manches über die galanten Verbindungen des Redakteurs innerhalb und außerhalb der Stadt. Im ganzen hatte er Lynge mit heißem Hohn hingestellt; dieser große Mann, der in seinem Bureau saß und seine Urteilssprüche über alle und alles abgab, war als Persönlichkeit ein Laufbursche, der kaum trocken unter der Nase war. Am Schluß seiner Broschüre hatte Höjbro erklärt, daß der Zweck dieser Schrift der sei, Lynges ganze journalistische Leichtfertigkeit zu demaskieren und seine gemeine Politik zu züchtigen. Die Linke stand zurzeit nicht so fest, daß sie nicht der Treue und Herzensehrlichkeit ihrer Leute bedurft hatte, etwas, das ihre Sache verlangte und das sie verdiente …
Gesenkten Hauptes ging Höjbro heimwärts. In einer Woche war sein letzter Zahlungstermin in der Bank fällig; er hatte keine Mittel dazu; wenn kein Wunder geschah, gab es keinen Ausweg mehr. Frau Ihlen hatte zweimal über sein Darlehn mit ihm gesprochen; Fredrik verdiente jetzt fast gar nichts in den Nachrichten, er hatte im letzten Monat die Bäckerrechnung der Familie bezahlt, das war alles, was er hatte erschwingen können. Und Frau Ihlen war nicht einmal in der Lage gewesen, Höjbro abzuweisen, wenn er jeden Monat mit der Hausmiete kam; allerdings, sie schuldete Höjbro diese anderthalbhundert Kronen, aber was sollte sie machen, wenn es ihr augenblicklich so knapp erging? Die gute Frau Ihlen war wirklich sehr zu beklagen; und wenn Höjbro seine Miete bezahlen kam, konnte sie nicht anders, sie mußte sie annehmen. Es mußten doch auch wieder bessere Tage anbrechen; im schlimmsten Falle müßte Fredrik es in Amerika versuchen; dorthin waren schon so manche tüchtige Menschen gereist.
Aber mit all diesem war Höjbro nicht viel geholfen. Er mußte zum Bankchef selbst gehen, ihm seine Not erklären und um Aufschub für diesen einen Monat bitten; er wollte nicht alles erklären, sich nicht ausliefern, nur noch diesen einen Monat für sich haben, in dem er sich Hilfe suchen wollte. War es nun nicht qualvoll – mit der größten Pünktlichkeit hatte er alle Termine genau auf den Tag innegehalten, und nun mußte er an dem letzten scheitern! Noch einen ganzen Monat mußte er sich ängstigen; vielleicht konnte das Ganze gerade in diesem Monat entdeckt werden!
Höjbro war zu Hause angekommen, ehe er selbst es wußte; er schließt die Entreetür auf und begegnet Charlotte, die mit einer Schüssel in den Händen aus dem Zimmer kommt. Er hatte seit mehreren Wochen nicht mit ihr gesprochen; sie war auch so still und schweigsam geworden; Höjbro hatte bemerkt, daß Endre Bondesen gar nicht mehr zu Ihlens kam, und er konnte den Zusammenhang nicht begreifen.
Er grüßt, und Charlotte dankt. Sie dankt zugleich für die Broschüre, die Höjbro ihnen gestern ins Zimmer geschickt; sie habe sie mit großem Interesse gelesen. Fredrik aber habe den Kopf geschüttelt und sich auch geärgert.
Dann geht sie mit der Schüssel in die Küche hinaus, und Höjbro auf sein Zimmer. Er legt sich in den Schaukelstuhl zurück und schließt die Augen halb. So bleich und blaß war sie geworden, die kleinen roten Fleckchen in ihrem Gesicht traten deutlicher hervor, die Lippen bebten unmerklich. Nein! wenn er an die erste Zeit dachte, wo er im Hause wohnte, – wie sie damals strahlte und lachte! Jetzt war sogar ihre Stimme leiser geworden, und sie sah den Leuten auch nicht gern ins Gesicht. Und trotzdem, trotzdem durch zitterte es ihn, wenn sie ihm nahe kam, und das trotz ihrer Nachlässigkeit, sie hatte nicht einmal ihr Haar aufgesteckt.
Dann klopft es an seine Tür und er ruft: Herein!
Es war wieder Charlotte. Sie hatte sich gewaschen, geputzt, wie in alten Tagen; ihre Hände waren schlank und weiß!
Ob sie störe? Sie wollte nur fragen, ob Lynge wisse, wer die Broschüre geschrieben habe.
Vielleicht noch nicht, antwortete Höjbro, aber er würde es wohl erfahren … Ob sie nicht Platz nehmen wolle? Bitte schön!
Und er erhob sich und schob den Schaukelstuhl für sie heran.
Sie setzte sich auch und blieb ganz ruhig im Schaukelstuhl sitzen.
»Aber dann werden Sie wohl verklagt?« fragte sie. »Ich weiß nicht, wie das heißt, aber es kommt wohl zum Verhör?«
»Glauben Sie?« antwortete er und lachte. »Finden Sie, daß ich zu schlimm gegen den Redakteur gewesen bin?«
Aber Charlotte schwieg; Charlotte, die Lynge ebenfalls kannte, verteidigte ihn nicht mit einem Worte. Schlank und fein saß sie im Stuhl, die Augen schlug sie beinahe nicht auf; was in aller Welt mochte sie so scheu gemacht haben? Weshalb war sie übrigens jetzt gerade zu ihm hereingekommen?
»Ich kann von Mimi Arentzen grüßen«, sagte sie und warf Höjbro einen schnellen Blick zu.
Aber Höjbro hatte beinahe vergessen, wer Mimi Arentzen sei, erst nach einigen Fragen kam er darauf, daß er die junge Dame an einem Winterabend durch Schnee und Sturm nach Hause begleitet hatte.
»So? Danke!« sagte er. Ja, jetzt könne er sich auf sie besinnen, sie war ganz eigentümlich hübsch; er erinnerte sich an ihr unschuldiges Gesicht; es war so unschuldig und rein, nicht wahr? Ja, sie hatte kurz geschnittenes Haar, aber …
Charlotte beugte sich nieder und nahm einen Zwirnfaden vom Teppich auf.
»Ja, hübsch ist sie«, sagte sie.
»Merkwürdig,« fuhr er fort, »daß dieser Zug von Unschuld im Grunde so viel tut. Man kann garstig sein, häßlich, – die offenen Augen, die unschuldige Stirn machen einen trotzdem hübsch, liebenswert.«
Charlotte benutzte diese Gelegenheit, ihm zu entgegnen:
»Ja, man behauptet das.«
»Allerdings,« sagte er, »viele finden das; etliche alte Weiber. Und zu denen gehöre ich.«
Eigentlich war nun nichts mehr darüber zu sagen; aber ganz plötzlich wurde Charlotte unruhig; gequält, heftig, rief sie aus:
»Etwas Derartiges haben Sie früher schon einmal gesagt. In Jesu Christi Namen, was sollen denn die tun, welche … Ich glaubte nicht, daß Sie so mittelalterlich seien, Höjbro.«
Er starrte sie erstaunt an. Fing sie nun auch an, den Dirnenkram zu verteidigen? Früher war sie doch mit ihm einig gewesen. Auch er wurde heftig und sagte:
»Mittelalterlich? Ja, zu dem Radikalismus des norwegischen Radikalen Bondesen gehöre ich nicht – wenn Sie dies etwa von ihm haben. So? Nicht von ihm? Na, dann sind wir beide es, die hier nicht übereinstimmen.«
Kurz darauf fuhr er fort: »Im ganzen genommen fängt es hier zulande an, verteufelt wenig Schande zu sein, wenn eine mehr oder minder beschädigt in die Ehe kommt; die Jungfrau wird nicht die Spur höher geachtet als die Dirne – entschuldigen Sie! Diese geht ebenso frank und frei auf der Karl Johannstraße spazieren, wie jede andere; heute grüßt sie ihren Geliebten ganz offen, so daß alle Welt es sieht und die Musik dazu spielt; morgen geht sie mit einem anderen zum Standesbeamten. Ich sage nur: Ich könnte mich nicht mit einer solchen verheiraten. Könnten Sie es? Wissen, daß diese Person, an die man nun gebunden, gewesen … gelegen … Das ganze Leben hindurch wissen, daß diese Brust, diese Arme … Daß man sich eigentlich mit den Überresten eines Menschen verheiratet hat … Und dann verurteilt sein, diesen Duft von Fall, den Dunst eines anderen mit jedem Atemzug einzuatmen! Aber ich habe nichts anderes gesagt, als daß ich es für meine Wenigkeit nicht könnte!«
»Ja, so kann der sprechen, der rein ist.«
»Ich begreife nicht, was heute abend über Sie gekommen ist, daß Sie absolut diese unfeine Sache verteidigen wollen! Das begreife ich nicht. Rein? Sie müssen wissen, daß ich durchaus nicht rein bin; aber trotzdem bleibe ich bei dem, was ich gesagt habe. Ich bin leider so wenig rein, daß, wenn die Welt wüßte, was ich getan habe, ich zu dieser Stunde hinter Schloß und Riegel säße.« Höjbro erhob sich erregt und stand jetzt dicht vor ihr. »Ich bin also nicht rein. Aber deshalb kann ja auch jeder andere zu mir sagen: Nein, mit dir kann ich mich nicht verheiraten, denn du bist nicht rein. Gut, antworte ich dann, ich würde dasselbe getan haben! Und dann bringe ich mich um, oder ich flüchte, oder ich versuche zu vergessen, je nachdem ich liebe!«
Charlotte schwieg. Ruhiger, mit halbem Lächeln sagte er:
»Aber – sollte es ein reines Mädchen geben, das sich, obgleich ich selbst nicht rein bin, mit mir verheiraten wollte, wohlan, so fühlt sie anders in dieser Sache wie ich, und wir heiraten uns.«
So, nun hatte er niemand betrogen, nichts verheimlicht. Und weshalb sollte er auch versuchen, sich herauszuputzen? Seine Sache war trotzdem verloren, ganz verloren, das hatte er längst eingesehen. Und jetzt zeigte es sich besonders deutlich, Charlotte saß da wie die Gleichgültigkeit selbst; von allem, was er gesagt hatte, nahm sie sich nichts zu Herzen; nicht einmal das, was er von sich selbst verraten hatte, machte Eindruck auf sie.
»So verheiraten Sie sich denn«, sagte sie wie abwesend. Aber indem sie sich erhob und ihn ansah, fügte sie hinzu: »Ich sehe übrigens ein, daß Sie recht haben.«
Diese Nachgiebigkeit hatte er nicht erwartet.
»Nein, nicht recht«, unterbrach er sie eilig. »So im allgemeinen habe ich durchaus nicht recht, und das wollte ich auch nicht sagen. Aber für mich selbst habe ich recht, ausschließlich soweit es mich selbst betrifft. Ich könnte nicht anders handeln.«
Dann ging Charlotte; sie schien nichts Besonderes gewollt zu haben. Sie sagte kein Wort weiter, sondern ging erhobenen Hauptes, kalt, sicher wie eine Nachtwandlerin.