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Die Veröffentlichung von Fredrik Ihlens letztem Artikel ließ diesmal nicht lange auf sich warten. Dieser kleine Artikel über Reinkultur von Hefe, aus ein paar deutschen Zeitschriften zusammengeschrieben, gewissenhafte und vorsichtige Schlüsse nach einer Anzahl von Versuchen, der das Gepräge von Ihlens ehrlichem Vertrauen zur Sache trug, dieser kleine Artikel, in den der Verfasser seinen ganzen Fleiß gelegt hatte, bekam eine imponierende Ausstattung und einen hervorragenden Platz in den Nachrichten. Ihlen selbst konnte nicht begreifen, wie seine Arbeit zu solcher Ehre kam. Man fing jetzt an, von ihm zu sprechen, die Leute auf der Straße beachteten ihn; schade, daß solch ein Mann keine Anstellung bekam, er mußte ein Laboratorium haben, wenn auch nur im kleinen; einen Ort, wo er auf eigne Hand experimentieren könne; er würde es vielleicht zu etwas bringen, würde selbständige wissenschaftliche Entdeckungen machen können. Nun, vorläufig war er bei Lynge angekommen, dort würde er nicht zugrunde gehen.
Und Lynge ermunterte ihn unermüdlich, er schob ihn vor und ließ ihn sich versuchen. Er geizte auch nicht mit dem Honorar; von den beiden Artikeln in den Nachrichten hatte Fredrik seiner Mutter eine nicht unbedeutende Summe vorstrecken können, und außerdem hatte er sich mehrere kostbare Bücher angeschafft. Lynge hatte auf hübsche Weise die ganze Familie Ihlen unter seine Protektion genommen; sogar den Handarbeiten der alten Frau Ihlen hatte er eine Notiz in seinem Blatte gewidmet.
Aus irgendeinem Grunde begannen die Nachrichten auch, sich für Sport zu interessieren, sie brachten lange Telegramme über Wettfahrten, die Namen der Sieger standen mit Ausrufungszeichen in den Spalten und zwar an so hervorragender Stelle, daß sie von jedem gelesen werden mußten. Die zehn, zwölf Rennfahrer der Stadt, alle, die auf irgendeinem Ding zu fahren verstanden, fanden in den Nachrichten den wärmsten Freund, der sie überlegen gegen jede Verkennung verteidigte; sie erhielten ihre eigene Rubrik im Blatte, eine förmliche Sportzeitung, die immer von den Namen der Wettfahrer strotzte. Dies war ein neues Gebiet, ein großes, neues Land, das Lynge annektierte, jeder radfahrende Kommis wurde sein geschworener Abonnent, und bleiche Lehrerinnen begannen mit den Armen zu schlenkern und in den Schultern zu wiegen, wenn sie den Schloßhügel hinauf oder hinunter gingen. Sie sahen übermäßig keck aus. Eines Tages brachten die Nachrichten die kleine, pikante Notiz, daß man die Tochter des norwegischen Obersten N. N. in Kopenhagen viere vom Bock ihrer Equipage habe lenken sehen. Welch eine hervorragende Jugend! Zweimal hatte das Blatt auch schon Gelegenheit gehabt, Charlotte Ihlen auf ihrem Rad öffentlich zu bewundern.
Übrigens fuhr Lynge fort, stets abwechselnde und interessante Dinge ans Tageslicht zu fördern; die ›Morgenpost‹ konnte nicht mehr gegen ihn aufkommen; im ganzen Lande, fern und nah, gab es keine Feuersbrunst, keinen Mord, keinen Schiffsunfall, über den die Nachrichten nicht ein längeres Telegramm brachten. Lynges Blatt wurde in jedem Hause, das irgendwelche Interessen hatte, immer unentbehrlicher.
Er hatte den glücklichen Gedanken, sich um Beiträge an seine Bekannten unter den Künstlern und andere witzige Köpfe zu wenden. Diese Leute, die gerade nicht schreiben konnten, die sogar einige Mühe damit hatten, nicht allzu mangelhaft zu buchstabieren, erfüllten ihren Zweck ausgezeichnet durch frischen, genialen Malerjargon, Spalte auf Spalte war ein wahrer Hopsa, und auch an dieser Überraschung hatten die Leute ihre Freude. Gegen Weihnachten, als der Radfahrsport ein Ende hatte, und sich immer weniger Stoff für das Blatt fand, fügte ein glückliches Schicksal es, daß Lynge einen Geistlichen in die Hände bekam, einen bekannten Konservativen, der angefangen hatte, die sozialen Fragen zu studieren, und genug Mut und Mannesherz hatte, diese ernste Sache mit seinen Mitmenschen zu erörtern. Nichts konnte Lynge gelegener kommen als dieser Mann, ein echter Konservativer und Geistlicher, der sich mit Arbeiterfragen und Steuerreformen beschäftigte, und ihm bereits eine Reihe von Artikeln zur Veröffentlichung übergeben hatte. War es denn nicht auch wirklich ein wahres Sauglück, das ihn verfolgte! Welchen Wert die Artikel des Pastors hatten, wie mager die Gedanken in diesen Arbeiten, das war nicht seine Sache, das wesentlichste war, daß er seine Spalten wieder einmal einem der bekanntesten Konservativen geöffnet hatte; er wollte der ganzen Welt zeigen, wie hoch er die Sache über die Person stellte.
Die Nachrichten mußten eine kleine Erweiterung vornehmen, der mannigfaltige Stoff und die amerikanischen Überschriften überwältigten sie. Schließlich fanden die Leute sogar mit kleinen privaten Anliegen Zuflucht in diesem Blatte; Geschäftsleute machten versteckt in seinen Spalten Reklame und bekamen ihre Namen bald bei dieser, bald bei jener Gelegenheit gedruckt. Ein armer Uhrmacher, der sich etabliert hatte, bekam den Einfall, dreißig kleine Kinder in der Dampfküche zu speisen, und brachte selbst die Notiz den Nachrichten, welche ihr einen in die Augen fallenden Platz gaben. Ein Professor erhielt eine gesperrt gedruckte Redaktionsnotiz in den Tagen der Trauer, da ihm sein sechsjähriger Sohn starb. Lynge war allgegenwärtig und hatte seine Botschafter vom Morgen bis zum Abend unterwegs. Und er hatte die Befriedigung zu sehen, daß die Abonnenten zunahmen und zunahmen.
Redakteur Lynge wollte sich nicht eingestehen, daß er diese leichten Kunststücke mit dem Blatte machte, um dessen Schwächen zu verdecken. Es ließ sich nicht länger leugnen, daß es mehr und mehr anfing, des alten Feuers zu entbehren. Sein Talent hatte seine Begrenzung; er war der pfiffige Landbursche mit einem so guten Kopf und so starker augenblicklicher Indignation, daß er mit großer Leichtigkeit ein Epigramm zustande brachte, – weiter war er nicht gekommen; was über eine Spalte hinaus ging, das mußten andere für ihn schreiben. Nun hatte er sich seit so vielen Jahren mit seinen sieben Zeilen langen Stückchen beholfen, seinen Fond von Ironie und Bitterkeit hatte er darin niedergelegt, seine Kraft begann zu erlahmen, und er ließ seine Arbeit mehr und mehr im äußeren Bureau ausführen. Es konnte ihm niemals einfallen, sich für besiegt zu erklären; sein Ansehen wurzelte zu tief in der allgemeinen Meinung, er konnte seine Nummern immer noch mit großer Fertigkeit ausspielen. Es galt nur, die beginnenden Mängel durch neue Erfindungen wettzumachen, durch immer neue Überraschungen; es konnten gar nicht zu viel werden der Enthüllungen über irrende Laienprediger im Westlande und durchtriebene Agenten in Oslo. Als er fühlte, daß es mit seinen polemischen Eigenschaften zu Ende gehe, mit denen er so manchen glänzenden Sieg erfochten, da sattelte er um, wurde sachlich, fing plötzlich an, den Ton der Presse zu besprechen, und konnte diesen Ton nicht genug beklagen. Wie roh und unwürdig war es, so gemein zu diskutieren! Die Nachrichten würden sich auf solchen Handel nicht einlassen, dazu hielten sie sich zu gut, sie hatten andere Aufgaben, an denen sie ihre Kräfte erproben konnten. Selbst innerhalb der Presse dürfe man gewisse Grenzen nicht überschreiten, welche gebildete Menschen sich bei privaten Besprechungen zu setzen pflegten; die Nachrichten würden einfach nicht mehr auf Angriffe antworten, und daher würden alle gebildeten Menschen einsehen … Aber Leute, die Alexander Lynge schon lange kannten, konnten nicht begreifen, woher er die Idee mit der Bildung habe.
Jetzt mußte vor allen Dingen Fredrik Ihlen benutzt werden, einen feineren Namen hatte kein Blatt aufzuweisen, – mit Generälen, Bischöfen, Stiftsamtsmännern in mehreren Generationen. Der junge Mann hatte sich mit den abstrakten Aufgaben über Beeren und Hefenkultur gut und glücklich abgefunden; was hinderte Lynge jetzt, ihm eine Beschäftigung mit aktuelleren Fragen zuzuweisen; es mußte doch viele Dinge geben, die in das Fachwissen eines Candidatus realium schlugen. Und eines Tages, gerade als Ihlen ihm ein paar Spalten über norwegischen Wein und eventuellen norwegischen Genever abgeliefert hatte, hält er ihn auf und bietet ihm kurz entschlossen eine feste Stellung bei seinem Blatte an, Gehalt soundso viel.
Ihlen stutzt und sieht erstaunt aus.
Das Anerbieten wird wiederholt.
Ihlen überlegt.
Lynge bemerkt nun, daß es nur als vorläufig zu betrachten sei; es könne gar kein Zweifel herrschen, daß binnen kurzem ein Stipendium Ihlens warte; es sei also nicht die Rede von ewiger Verschreibung, sondern nur von einer einstweiligen Tätigkeit.
Und Ihlen findet das Anerbieten gut und das Gehalt merkwürdig hoch; er schlägt ein, und die Verabredung ist getroffen.
Ihlen hatte allerdings sofort einen Kampf mit Leo Höjbro zu bestehen, der sich in anderer Angelegenheiten mischte und ihm von diesem Schritte abriet; gab es denn überhaupt etwas, in dem Höjbro kein Unglück sah!
»Sie werden es bereuen,« hatte Höjbro gesagt, »es ist eine Spekulation.« Und mit nassen Augen hatte er Ihlens Hand gedrückt und ihn gebeten, sich noch zu bedenken.
Ihlen aber hatte entgegnet:
»Ich danke Ihnen für Ihr Interesse. Aber Sie müssen doch zugeben, daß hier ein gutes Anerbieten und ein hohes Gehalt vorliegen.«
Es half nichts, wenn Höjbro jetzt auch so beleidigt wäre, daß er ausziehen würde, man war jetzt Gott sei Dank nicht mehr ganz von andern abhängig, und Endre Bondesen konnte am Ende auch das Eckzimmer mieten, wenn es leer wurde.
Es zeigte sich übrigens bald, daß Höjbro gar nicht ans Ausziehen dachte; er erwähnte der Anstellung Ihlens in den Nachrichten nicht mit einem Worte mehr; er war also wohl anderen Sinnes geworden. Er wurde noch verschlossener und kam immer seltener zu ihnen ins Zimmer; die Schwestern waren fast den ganzen Tag allein. Höjbro war in der letzten Zeit auch weniger rücksichtsvoll gewesen; er hatte das Wohlwollen, das alle anfangs für ihn gehegt, ein wenig verscherzt; eines Abends hatte er Sofie sogar allen Ernstes böse gemacht. Das Ganze drehte sich um die lächerlichste Kleinigkeit; ganz unvermerkt waren sie in einen Streit über die Ehe geraten. Höjbro konnte nicht begreifen, daß diese trockene Fortschrittlerin mit kurzgeschnittenem Haar sich in solche Fragen wie die Ehe einließ; ihm kam sie vor wie eine Art von maskulinem Geschöpf in Frauenkleidern, ein Wesen sächlichen Geschlechts; stach man ein Loch in sie, würde sie Kieselsteine bluten. Er war im großen Ganzen schlechter Laune und gab dem Fräulein gewagte Antworten. Charlotte saß auf ihrem Stuhl und hörte ihnen zu, sagte aber nichts; sie wand sich dann und wann, als ob das ganze Gespräch ihr weh täte. Und doch dünkte es Höjbro, als sei sie die einzige, die in dieser Sache hätte mitsprechen können, und alles, was er sagte, sagte er nur um ihretwillen, obgleich er sich bitter darüber ärgerte, daß er solche Gedanken hegen konnte.
Der Streit begann scherzend damit, daß Sofie sagte, sie wolle sich vom Bürgermeister trauen lassen. Es sei praktisch, zeitgemäß, sparsam, ohne jede Lüge und Humbug mit dem Namen Gottes und all dergleichen.
Höjbro hingegen würde sich kirchlich trauen lassen. Und nicht einmal in einer der heimischen Kirchen ohne Kunst und ohne Schönheit, nicht in solch einem gezimmerten Gottesstübchen, sondern in einem gewaltigen Gottes hause, einem Weltendom mit Marmor und Mosaik und Säulen. Und mit vier schwarzen Hengsten vor dem Wagen würde er vor die Kirche fahren, und die Hengste sollten weiße Atlasrosetten an den Ohren tragen.
»Hahaha, keine Kleinigkeit! Na, und die Braut, wie müßte die sein?«
Charlotte blickte auf. Ja, wie müßte die Braut sein? schien auch sie zu fragen. Und weshalb blickte sie gerade jetzt auf? Ihr Gesicht war rein und fein, die Stirn unschuldig wie bei einem Kinde.
Er antwortete:
»Die Braut müßte jung und unschuldig sein.« Er bedachte sich und wiederholte noch einmal, indem er nickte: »Ja, jung und unschuldig.«
Charlotte wurde flammend rot; emsig begann sie, die Stiche in ihrer Arbeit zu zählen, und ihre Finger bebten. Dann fing sie an, Stich für Stich wieder aufzumachen, und vielleicht hatte sie nicht einmal falsch gestickt. Gott mag's wissen, vielleicht hatte sie ganz richtig gestickt, und trotzdem trennte sie auf.
Nun aber wurde Fräulein Sofie höhnisch und lachte ihn aus. Unschuldig? Was wollte er damit sagen? »Ein bißchen dumm, was? Ein bißchen unbewußt?«
»Ja, oder ein bißchen weniger eingeweiht als ein Mädchen mit einem Kinde,« entgegnete Höjbro grob, »meinen Sie es, wie Sie wollen.«
Nun konnte Sofie sich nicht länger halten; sie wurde ärgerlich, fragte ihn aus, sagte, das mit der Unschuld sei die reine Männermoral, und wollte ihn mit Fragen reizen. Ja, unschuldig in der Weise! Ein Weib, das gelebt, gelitten, geweint hatte, – das sei nicht unschuldig! Und wenn es sonst noch so gut sei, – wenn es versucht habe, die Dinge des Lebens kennen zu lernen, dann …
Aber Höjbro seinerseits begriff ja, daß dies alles Großtuerei von Fräulein Sofie sei. Diese Person, die so wenig menschlich warm war, die nur so ganz schwache Versuchungen zu überwinden hatte, deren Leidenschaft so trocken und so ruhig war, – ihr gefiel es, sich erfahren, schuldig zu zeigen. Er schwieg; nicht um Sofies willen hatte er den Mund aufgemacht.
»Und wenn sie sonst noch so gut wäre,« wiederholte Sofie, »so – –«
»So würde ich sie nicht heiraten, nein«, unterbrach er sie kurz.
Sofie lachte höhnisch, über was lachte sie? Er zuckte die Achseln, und Sofie, die dies sah, wurde mit einem Male bitter. Sie erhob sich hastig und sagte:
»Den Rest Ihres Geschwätzes überlasse ich Charlotte.«
Damit ging Sofie bleich vor Wut aus dem Zimmer.
Aber Höjbro und Charlotte wechselten nicht ein Wort; sie saßen schweigend da, und noch als Sofie zurückkam, hatten sie nicht ein Wort miteinander gesprochen. Charlotte, die ebenso fein und warmblütig war, wie die Schwester trocken und hart, war sicher seiner Ansicht, er konnte es ihr anmerken, obgleich sie gar nicht aufblickte. Sie nähte wieder fleißig.
In der letzten Zeit war Charlotte übrigens nicht gewesen, wie sie früher war, nicht so lustig, nicht ganz dasselbe ausgelassene Kind. Na, sie mochte ja auch ihre kleinen Sorgen haben. Sie hatte angefangen, den Bruder des Morgens in die Redaktion zu begleiten; sie war immer so liebenswürdig von Lynge empfangen worden, daß sie geradezu nach dieser Abwechslung verlangte. Denn Lynges schönes Talent, die Damen zu unterhalten, war bekannt; er hatte immer manch einen Scherz bereit und machte kein allzu großes Geheimnis aus der großen Bewunderung, die er für volle Busen und rote Lippen hegte. Erst in Gesellschaft von Damen wurde er jung mit den Jungen, deshalb nützte es auch wenig, wenn man Lynge zu Zusammenkünften einlud, bei denen keine Damen zugegen waren; entweder blieb er dann einfach aus, oder er kam, langweilte sich eine Stunde und verschwand dann wieder. Nein, ohne Damen gab es kein Fest in seinem Herzen. Man sah ja, wie es im Journalistenverein war: zwanzig trinkende und rauchende Mannsleute, nicht ein Frauenzimmer im ganzen Saal; deshalb blieb Lynge Monat für Monat den Zusammenkünften des Journalistenvereins fern und zog es vor, anderswohin zu gehen.
So war er nun einmal. Aber keiner durfte kommen und sagen, Redakteur Lynge sei eigentlich ein Verführer; dazu war er nicht angelegt. Er verlor die Fassung nicht, setzte nichts ein für seine Herzenssache. Geschah es doch einmal, daß seine Bemühungen einer Frau gegenüber endlich von Erfolg gekrönt wurden und ihn ans Ziel brachten, so war er nicht sprachlos darüber; er kicherte nur innerlich über sein Glück, über die Eroberung: Tihihihihi, du bist mein, ja mein! Und zitternd vor Ungeduld bot er dann das Bild des glücklichen Bauernjungen, der selbst halbverwundert war über all die Herrlichkeit, an der er sich's nun wohl sein lassen konnte. War es nicht zum Teufelholen, was für Wunderbares einem Menschen passieren konnte, wenn er zur Stadt kam!
Schon als Charlotte zum erstenmal in sein Bureau kam, hatte er alle Arbeit liegen lassen und sich ihr ganz und gar gewidmet; er hatte sogar einen Vorwand gefunden, um Leporello fortzuschicken. Und dann machte er sie aufmerksam darauf, sagte ihr ehrlich und geradezu, daß alles ihr zu Ehren geschähe, so daß sie reizend darüber errötete! ja, wie reizend sie errötete! Der kleine verliebte Redakteur ließ sie nach Behagen zwischen Manuskripten und Zeitschriften stöbern, und inzwischen machte er sich auf jede mögliche Weise angenehm. Wie glücklich war er, dies junge Mädchen am Tische sitzen zu haben. Als sie sich aber erhob, um zu gehen, und er ihr den letzten warmen Blick aus seinen Knabenaugen zugeworfen hatte, zeigte es sich, daß Lynge selbst jetzt nicht müßig gewesen war. Selbst während sein Herz vor Verliebtheit klopfte, war sein Erfindungsgeist in Tätigkeit.
Er ruft Ihlen herein. Ihlen hat nun seinen Platz im äußeren Bureau am Tische des Sekretärs. Er erhebt sich schnell, es lag etwas in der Stimme des Redakteurs, was ihm sagte, daß etwas Ernstes im Gange sei.
Und doch schien es nicht so wichtig zu sein. Der Redakteur fragte ihn beinahe scherzend nach seinem politischen Standpunkt.
»Sagen Sie mir, wie stehen Sie eigentlich in der Politik?« fragt er mit einem Lächeln.
Ihlen murmelt etwas, daß er leider ein schlechter Politiker sei; er habe nicht Zeit gehabt, sich in diese Fragen zu vertiefen.
Ob es nun aufrichtig gemeint war von Lynge, oder ob er einen kleinen Funken seines gewöhnlichen Lohns zeigte, genug, er sagte:
»Nein, die Wissenschaft hat Sie natürlich gänzlich mit Beschlag belegt.«
Darauf antwortet Ihlen nicht.
»Aber Sie sind ein erwachsener Mensch, Sie neigen doch zu einer Partei«, fährt Lynge fort.
Ihlen wußte nicht aus noch ein.
»Endre Bondesen hat mich beeinflußt,« sagt er, »besonders in der letzten Zeit. Bondesen, der Radikale.«
»Jaja, ja. Sie dürfen dies natürlich nicht als eine Pression nach irgendeiner Richtung hin auffassen. Aber ich habe mir gedacht … Wie stehen Sie zur Unionsfrage?« Die Union zwischen Schweden und Norwegen, welche die Liberalen aufheben wollten. – Die Radikalen in Norwegen verlangten auch ihre eigenen Generalkonsulate usw.
Dies war nun gerade Ihlens schwache Seite, er war unionistisch; in diesem Punkt hatte Bondesen seine Überzeugung nicht zu erschüttern vermocht. Weshalb wollte Lynge seinen Standpunkt denn gerade in dieser Frage kennen? Hatte er etwas gehört? Wollte er ihn vielleicht verabschieden?
Er antwortete ehrlich:
»Ich halte zur Union. Ich denke, es ist am besten so, wie es ist; daß es uns am besten so geht, wie es uns geht.«
Pause.
Ihlen glaubt, daß die Besprechung zu Ende ist; er will sich verbeugen und wieder an seine Arbeit gehen.
»Nein, warten Sie noch einen Augenblick. Schreiben Sie ein paar Artikel über die Union. Sagen Sie ehrlich, daß Sie glauben, es sei am besten so, wie es ist; sagen Sie auch, weshalb Sie glauben, daß es am besten sei; tun Sie Ihre Gründe dar. Wir sind Liberale, aber wir respektieren jede ehrliche Überzeugung. Die Sache mit der eigenen Diplomatie scheint ebenfalls flau zu gehen. Aber natürlich möchten Sie uns doch nicht unter Schweden haben?«
»Nein, nicht mehr, als wir es sind!«
»Mehr, als wir es sind? Wir sind nicht unter Schweden, wir sind ein selbständiges Volk, Paragraph 1 des Grundgesetzes. So, schreiben Sie nun diesen Artikel für die Nachrichten; Sie sollen freie Hand haben und Ihre Meinung sagen dürfen. Wir wollen mal sehen, was Sie daraus machen.«
Und Ihlen ging und schloß die Tür hinter sich.
Aber gerade in diesem Augenblick, wo Lynge Zeit brauchte für all die Arbeit, die während Charlottens Besuch beiseite gelegt worden, kam einer nach dem andern ins Bureau und belästigte ihn. Nun hatte er so lange Ruhe gehabt, endlich aber war die Waschfrau von Hammersberg wieder gekommen, zum drittenmal. Er hatte ihren Aufruf so gänzlich vergessen; sein leichtes Herz hatte das ganze alte Weib vergessen. Wofür hielten die Leute denn aber auch die Nachrichten? Waren sie ein Stück Papier, in das man alle möglichen Dinge packen konnte, oder waren sie kein Papier?
»Ich habe Ihren Aufruf durchgesehen, wir können ihn nicht bringen«, sagt er. Und dann arbeitet er hurtig mit allen möglichen Papieren.
Die Frau bleibt stehen, sie sagt kein Wort, aber sie bleibt stehen.
»Wir haben keinen Platz dafür«, sagt Lynge wieder und reicht der Frau den Aufruf.
Sie war nicht das liebreizendste Weib, das man vor Augen sehen konnte; dies Frauenzimmer, das wusch, war selbst nicht einmal rein. Auf was wartete sie denn. Er war daran gewöhnt, daß, wenn er einen Bescheid gegeben hatte, so gab es keinen andern Bescheid mehr; ein Wort war ein Wort.
»Dann können Sie es also nicht ins Blatt bringen?« fragt die Frau ruhig.
»Nein. Können Sie denn nicht damit an die ›Abendpost‹ gehen?«
Die Frau antwortet nicht, sie scheint es nicht zu verstehen.
Lynge faßt nach der Tasche. Hätte er Geld bei sich gehabt, so würde er ihr eine Krone gegeben haben, wie wenig appetitlich sie auch aussah; weiß Gott, er hätte es getan. Er war nicht herzlos; aber er war der wiederholten Bitten der Frau überdrüssig geworden; sie machte keinen Eindruck mehr auf ihn, und er hatte kein Geld bei sich. Er war im Grunde herzensfroh, als das Weib endlich ging. Welchen Dank hatte man denn auch eigentlich für dergleichen Hilfe? Nicht den geringsten, nur Undank und schnelles Vergessen … Herein!
Ein älterer Herr tritt ein, Lynge steht auf und nennt ihn Birkeland.
Es war der norwegische Politiker und Eisenwerksbesitzer Birkeland; auch er ist zurzeit Mitglied der königlichen Kommission. Er ist bleich und spricht abgerissen, mit betrübter Stimme.
»Ein schwerer Schlag hat uns betroffen!« sagt er.
»Schlag? Was ist los? Ist jemand gestorben?«
Und Birkeland erzählt langsam und traurig, er sei gekommen, um mitzuteilen, daß der Präsident des Odelstings gestorben sei. Er war am Morgen plötzlich gestorben, ohne vorausgehende Krankheit; ein Schlaganfall hatte seinem Leben ein Ende gemacht.
Lynge fährt zusammen, auch er ist erschüttert, er fragt wiederholt: »Der Präsident des Odelstings? Sind Sie sicher …?« Aber ein solches Unglück! Die größte Kraft der Linken; die Hoffnung und Stütze der Linken in all ihren Schwierigkeiten! Lynge ist für den Augenblick von großer und unmittelbarer Betrübnis ergriffen; er sah die Tragweite dieses traurigen Falles, seine Partei war des klügsten und feinsten Kopfes im Ting beraubt, des angesehenen Mannes, dem auch die Rechte alle Ehre erweisen mußte. Er sagte dumpf, mit ein wenig bebender Stimme:
»Den können wir nicht ersetzen, Birkeland.«
»Nein, ihn können wir nicht ersetzen. Ich weiß gar nicht, was wir tun werden.«
Birkeland bittet, telephonieren zu dürfen, er will Ernst Sars die Begebenheit mitteilen. Birkeland ist nicht gewohnt, mit dem Telephon umzugehen, Lynge gibt ihm einige Anweisungen und setzt sich dann wieder.
Das war doch der schmerzlichste Verlust, der die Linke gerade in diesem Augenblick treffen konnte, wo so viel auf dem Spiel stand, so manche durchgreifenden Reformen durchgebracht werden sollten. Wie traurig war das doch! Plötzlich bricht Lynge in ein Gelächter aus. Er strengte sich an, um es zu unterdrücken, wurde blutrot und lachte dann laut auf.
Birkeland ist fertig, er wendet sich vom Telephon und sieht ihn verblüfft an. Lynge hat was zum Lachen gefunden, seine leichte Seele ist wieder obenauf, er kämpft noch mit dem Lachen.
»Nichts!« sagt er und schüttelt den Kopf. »Haben Sie mal einen Mann beobachtet, der durchs Telephon spricht? Er nickt, legt den Kopf auf die Seite und sieht teilnehmend aus, genau, als stände er vor einem Menschen und nicht vor einem hölzernen Kasten. Ich mache es übrigens ebenso. Hahaha!«
Birkeland ist aber nicht in der Stimmung, jetzt zu lachen, er verzieht die Lippen zu einem schwachen Lächeln, um nicht unhöflich zu sein, aber seine Lippen beben. Dann streicht er sich das graue Haar aus der Stirn und nimmt seinen Hut; er mußte mit der Todesbotschaft noch zu einigen anderen gehen; die Regierung mußte auch wohl davon unterrichtet werden. Ja, ja, er blickte wahrlich in eine düstere Zukunft.
Und Lynge, der wieder ernst geworden, stimmte ihm bei.
Nachdem Birkeland gegangen, setzte Lynge sich sofort in Bewegung, um ein Extrablatt mit der Nachricht in Umlauf zu setzen; wenn die Abendblätter kamen, würde er ihnen schon zuvorgekommen sein; innerhalb einer Stunde sollte die ganze Stadt davon unterrichtet sein. Er schrieb also ein ausgezeichnetes Extrablatt, machte ein wahres kleines Meisterwerk von einem Extrablatt, in welchem er dem Toten einen warmempfundenen Dank für seine treue öffentliche Arbeit sagte; jedes Wort strotzte von Gefühl, von ehrlichem Schmerz, und Lynge selbst war zufrieden mit seinem Werk.
Darauf nimmt er die Briefe und Manuskripte wieder vor.
Er verweilt bei einem Briefe von einem ihm unbekannten Manne, einem Jüngling, der in einer Dachkammer in der Tordenskjoldgasse wohnte und nichts, nichts zu leben hatte; wär' sein Anzug nur noch einigermaßen anständig gewesen, so würde er sich dem Redakteur persönlich vorgestellt haben. Er bäte um ein wenig Arbeit, etwas zu übersetzen, kleine literarische Arbeiten, er habe einen größeren Roman unter der Feder, der sei aber nicht fertig, und er konnte kein Geld darauf bekommen. Es war etwas in diesem Briefe, was Lynge rührte; es klang so glaubwürdig und war so gut geschrieben, Lynges Augen werden feucht, er will dem Armen helfen, ihm ein wenig Übersetzungsarbeit geben, und er steckt seinen Trauring auf die linke Hand, um es nicht zu vergessen.
Als er am Nachmittag fortging, blieb er vor dem Sekretär stehen und sagte, indem er die Handschuhe anzog:
»Haben Sie das Referat über den Vortrag des Odelstingspräsidenten im P. L. K.?«
»Er ist eben in die Druckerei gekommen.«
»Lassen Sie ihn wieder herunterbringen, zerteilen Sie ihn, nehmen Sie vier Spalten pro Tag. Man muß immer was Neues ersinnen, muß die Leute in Atem halten. Hier kommt nun ein Mann und spricht durch unser Blatt noch drei Wochen nach seinem Tode.«
Und über seinen guten Einfall kichernd, ging Lynge von dannen.