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Ihlen war als politischer Schriftsteller aufgetreten, anonym, im Namen der Redaktion. Seine Artikel über die Union machten wildes Aufsehen. Lynge hatte wieder die Blicke des ganzen Landes auf sein Blatt gelenkt. Besonders Christiania stand auf dem Kopf und der Redakteur des ›Norwegers‹ fragte ehrlich alle Menschen, die ihm in den Weg kamen, was dies zu bedeuten habe. Die Nachrichten, die nie, solange sie existierten, ein Schwanken gezeigt hatten, die jahraus, jahrein, seit zwanzig Jahren die Union und die verächtliche Brüderschaft so glühend gehaßt hatten, die sogar der Majestät zu nahe getreten waren, die Nachrichten, deren Redakteur mit funkelnden Augen und heldenmütiger Überzeugung Gambetta, Castelar und Ulcanow gehuldigt hatte, der verherrlichende Verse über den polnischen Aufstand und den brasilianischen Staatsstreich gedruckt hatte, der jeden einzigen Tag während seines ganzen Journalistendaseins Artikel, Zeilen, Sentenzen im rechten Geist der Linken, und nur in diesem, gebracht hatte – die Nachrichten hatten umgeschlagen. Zeigt uns den Mann, der es wagt, die Verantwortung für die radikale Veränderung in der Union, von der die Rede ist, auf sich zu nehmen, sagten die Nachrichten; wir dürfen es kühn behaupten, dieser Mann existiert nicht!
Das waren klare Worte.
Ihlen hatte seine Arbeit in ehrlicher, redlicher Absicht getan, seine alte Liebe zur Rechten, das angeborene Erbteil konservativer Neigungen, war natürlich während der Ausarbeitung dieser Artikel aufgestiegen; zu seiner eigenen Verwunderung zeigte es sich, daß Bondesens Einwirkung ihm nicht ins innerste Herz gedrungen war. Die Artikel traten also als das Produkt eines gemäßigten Konservativen auf, dem Gelegenheit gegeben worden, sich an ein freisinniges Publikum zu wenden.
Und die Leute konnten dies merkwürdige Manöver der Nachrichten nicht begreifen. Die konservativen Blätter fingen an, es sich zunutze zu machen; hier sähe man nun, daß selbst die Nachrichten die Politik der Linken zu scharf fänden; selbst sie hielten es für unverantwortlich, die gewissenlose Arbeit des Niedertretens der heiligsten Interessen des Vaterlandes fortzusetzen! – Aber vernünftige Menschen, die sich darauf verstanden, wußten in ihrem innersten Herzen, daß dies nur ein Scherz Lynges sei, der reine Spaß, den man nicht buchstäblich zu nehmen brauche. Es sei nur als Jux zu betrachten, nein, mit Lynge kam man nicht weit, er war zu glatt für seine Feinde!
Natürlich hatte er diesen Einsender, – ja, Einsender – sich ein wenig tummeln lassen, die Artikel waren nichts weiter als »Eingesandt«, für die das Blatt selbst keine Verantwortung trug. Endre Bondesen schlug auf den Tisch und schwor, daß es nur so eine Art hatte, sämtliche Artikel seien »Eingesandt«. Als er von seinem Freunde Ihlen erfuhr, wer der Verfasser sei, ärgerte er sich anfangs, daß all seine Bemühungen, Ihlen zu bekehren, fruchtlos gewesen; dann aber freute er sich, daß er recht behielt in bezug auf das »Eingesandt«. Natürlich, er hatte es gewußt, er hatte es dem Ganzen angesehen, ihn foppte man nicht so leicht, was die Witterung in Politik beträfe. Ihlen wolle doch wohl nicht versuchen, sich einzubilden, daß sein und der Nachrichten Unionsstandpunkt der gleiche Unionsstandpunkt sei? Wohl sei er Gelehrter und könne mit der Lupe hantieren und Maden im Käse finden; aber die zwanzig Jahre alte Politik der Nachrichten umgestalten, – nein, das könne er nicht. Und das glaube auch niemand.
Bondesen erklärte dies sowohl der Mutter Ihlens wie den jungen Mädchen und machte kein Geheimnis daraus, daß er im innersten Herzen mit Fredrik in bezug auf Politik uneinig sei.
Sofie antwortete:
»Höjbro sagt, er habe es erwartet, habe diesen Kniff der Nachrichten erwartet. Gestern sagte er's.«
»Ja,« sagte Bondesen und zuckte die Achseln, »es gibt nämlich nichts, was Höjbro nicht weiß und nicht schon längst erwartet hat.«
Es war früh am Morgen, die jungen Mädchen saßen im Morgenanzug und arbeiteten. Im Ofen prasselte das Feuer; Fredrik war noch nicht aufgestanden.
Bondesen fährt fort:
»Ich habe Höjbro gestern auch getroffen, aber mir hat er nichts gesagt. Mit dergleichen kommt er zu den Damen.«
»Weshalb nicht ebensogut zu den Damen?« entgegnete Sofie wütend.
Sie hatte Bondesens männerhaft überlegene Bissigkeiten nun so oft ertragen, daß sie sich nicht länger darein finden wollte. Er war radikal, er führte Worte der Freiheit im Munde, er arbeitete formell für das Stimmrecht der Frauen; innerlich aber war er der hochmütigen Ansicht, daß die Frauen minderwertig seien. Das Weib war Mensch, die eine Hälfte der Menschheit, aber Mann, nein, das war das Weib nicht. Sofie war nahe daran, ihm ihre Krallen zu zeigen.
Aber Bondesen lenkte ein. Er habe ja nur gesagt, Höjbro sei mit seiner Weisheit zu den Damen gekommen; er habe ja nur ein Faktum mitgeteilt, weiter nichts. Höjbro habe nicht ein Wort zu ihm gesagt, im Gegenteil, er sei ihm ausgewichen.
Und das war die Wahrheit; Höjbro hatte angefangen, allen auf der Straße auszuweichen. Er hatte nicht einmal einen Paletot mehr, seine Uhr war auch »fort«, und er wollte niemand zwingen, mit einem Manne auf der Straße zu sprechen, der mitten im Winter keinen Paletot anhatte. Ihn fror nicht; Gott weiß, er hielt die Wärme in sich, wenn er auf seinen Wegen von und zu der Bank gebeugt und mit spähenden Augen durch die Gassen schlich. Aber er sah nicht mehr gut aus; er nahm sich schlecht aus; das wußte er selbst. Na, nun mußte ja auch der Frühling in wenigen Monaten kommen; und vielleicht konnte er seinen Paletot noch vor dem Frühling wieder holen; unmöglich war es nicht. Und eins war gewiß; ihn fror nicht; ihm war ganz wohl.
»Ist Höjbro ins Bureau gegangen?« fragt Bondesen.
»Jetzt geht er«, erwidert Charlotte.
Und man vernahm Höjbros Schritte im Entree. Er pflegte schon so früh vor der eigentlichen Zeit fortzugehen, um niemand auf der Treppe zu begegnen.
Bondesen riß die Tür auf und rief ihn herein. Man hörte ihn antworten, daß er fort müsse; aber als Charlotte sich im selben Augenblick erhob und ihm zunickte, kam er dennoch an die Tür und grüßte freundlich.
Sie hätten ihn so lange nicht gesehen! Weshalb er denn so fremd geworden sei?
Höjbro lachte. Nein, fremd sei er nicht geworden; er habe nur eine Arbeit vor, wirklich, ihn beschäftige zurzeit etwas Dringendes.
»Sagen Sie mir mal,« sagte Bondesen, »welches ist Ihre Ansicht über die Unionsartikel der Nachrichten?«
Das wisse er nicht.
»Aber Sie wissen wohl, wer der Verfasser ist?«
Ja, er habe es gehört.
»Aber die Artikel haben Sie vielleicht nicht gelesen, da Sie die Nachrichten überhaupt nicht lesen?«
Doch, – diese Artikel habe er gelesen.
»Sieh doch einer an! Aber glauben Sie, daß die Nachrichten die Ansicht dieses Einsenders, dieses Mitarbeiters, teilen?«
Das wisse er ebenfalls nicht.
»Aber gestern haben Sie ja gesagt, Sie hätten diese Schwenkung der Nachrichten erwartet?«
Höjbro erinnert sich dessen und antwortet:
»Ja, ich habe Fräulein Sofie gestern etwas Ähnliches gesagt. Ich habe mich übrigens mangelhaft ausgedrückt. Erwartet habe ich natürlich überhaupt nichts von den Nachrichten, denn Herzen und Nieren vermag ich nicht zu prüfen; aber ich wollte sagen, daß selbst dieses Manöver der Nachrichten mich nicht verblüfft hat.«
»Sie kennen Lynge wohl durch und durch?« sagte Bondesen; »er ist Ihr persönlicher Bekannter?«
Hierauf entgegnete Höjbro nicht. Er wurde ärgerlich und richtete einige Worte an die jungen Mädchen.
Aber Bondesen wiederholte seine Frage und starrte ihn an.
»Möchten Sie das gern wissen?« erwiderte Höjbro. »Ich begreife übrigens nicht weshalb.« Aber mit einem Male schoß ihm die Röte ins Gesicht und er setzte hinzu: »Sie, ein solcher Radikaler, der Sie Ihre feste Partei haben, wie ist denn Ihnen jetzt zumute bei der Politik der Nachrichten?«
»Nun, ich kann nicht sagen, daß sie mir den Schlaf geraubt hat …«
Höjbro unterbrach ihn hitzig:
»Nein, das ist ja gerade das Gute an Ihnen und Ihresgleichen – lassen Sie mich wiederholen: an Ihnen und Ihresgleichen – daß ihr euch so ausgezeichnet schnell in solch eine Unregelmäßigkeit findet, die ›veränderter Überzeugung‹ entspringt. Ihr verliert den Kopf nicht, ihr errötet nicht vor Scham oder Ärger; ihr tretet auf in der Veränderung und blickt umher und kommt bei Kleinem darin zur Ruhe. Und bei Kleinem legt ihr euch wieder eine neue Überzeugung zu, die ebenso aufrichtig ist – und ebenso dauerhaft – wie die erste. Das heißt modern sein.«
Wie grob und häßlich das gesagt war! Höjbro selbst fühlte, daß er zu viel daraus gemacht habe, daß er unhöflich gewesen sei; ihm wurde unbehaglich, er fühlte aller Augen auf sich gerichtet, und er senkte den Kopf.
Aber Bondesen wurde einfach ärgerlich. Übrigens, sagte er, sei nicht von ihm und seinesgleichen die Rede; sie hätten mit Lynge angefangen.
Wie immer, wenn man Höjbro mit Heftigkeit entgegentrat, flammte er auf, steckte die Hände in die Taschen und begann in Frau Ihlens Zimmer auf und ab zu laufen. Offenbar hatte er ganz vergessen, wo er war.
»Sie wollen also gern meine unmaßgebliche Meinung über Lynge hören,« sagte er, »Gott mag wissen, weshalb, aber es schien, als ob Sie sie wissen wollten. Ich werde Ihnen also in zwei Worten sagen, was ich meine. Lynge ist einer von uns Bauernstudenten, der innerlich Schaden gelitten hat, weil er in fremde Erde und Atmosphäre versetzt wurde; er ist ein kleiner Bummler vom Lande, der gern den Freiheitsmann und Staatskerl spielen möchte, wozu er nicht geboren ist. Dem Manne fehlt Herzensbildung, sein Blut ist falsch in ihm. Genauer ausgedrückt, er ist ein Schelm, der niemals heranwachsen wird. Das ist meine unmaßgebliche Meinung.«
Bondesen riß die Augen auf, der Zorn wich von ihm, er starrte Höjbro an und brachte mühsam hervor:
»Aber psychologisch dargestellt, ist Lynge wahrlich anders, ich meine psychologisch …«
»Psychologisch dargestellt! Ein Mann, der jeder Psychologie bar ist. Sagen Sie, daß er alles, was er tut, in augenblicklicher Künstlerbegeisterung oder aus kleinlicher Berechnung oder aus beiden im Verein tut; sagen Sie, daß er alles tut, um auf aller Christianiaer Lippen zu sein, aus Verlangen für einen Mordsredakteur für seinen kleinen Lappen Papier zu gelten; aus bauernhafter Gier nach einem um ein paar hundert Kronen größeren jährlichen Gewinn – dann haben Sie den ganzen Menschen mitsamt seiner Psychologie.«
Bondesen erholt sich; er findet, daß es anfängt, interessant zu werden, es war geradezu drollig, mitanzuhören. Er sagt:
»Aber ich begreife nicht, weshalb Sie so wütend auf Lynge sind. Sie gehören ja nicht einmal zu seiner Partei, Sie sind ja ein bahnloser Komet; womit hat er Sie denn erzürnt? Kann es Ihnen nicht gleichgültig sein, ob die Linke siegt oder ob sie vor die Hunde geht?«
»Ja, hier kommen wir wieder zu dem ausgezeichnet Guten an Ihnen und Ihresgleichen; – daß es Ihnen so schwer wird zu begreifen, wie einer bis aufs Blut gekränkt sein kann, wenn er sich in seinem idealen Glauben an einen Mann oder an eine Sache betrogen sieht, betrogen durch bloße schmutzige Streiche eines Spekulanten, in casu eines Redakteurs. Ich will Ihnen etwas sagen: wissen Sie, daß Lynge mir teuer gewesen ist, daß ich Lynge geliebt habe? Heimlich habe ich wütende Privatbriefe an jene geschrieben, die ihn in den Zeitungen getadelt haben, ich bin bei Gott im Himmel der wärmste Freund seines Lebens gewesen. Als ich von einem Manne, einem hohen Militär, hörte, der sich privatim darüber beklagt hatte, daß die Rechte Lynge nicht für das Reichsgericht gekauft habe, weil Lynge käuflich sei, schrieb ich auch an diesen hohen Militär, trieb ihn Punkt für Punkt zurück und nannte ihn einen Ehrenschänder, einen Lügner; und darunter setzte ich meinen Namen und meine Adresse … Das war, bevor ich Lynge ein wenig kennen lernte … Weshalb ich rasend auf ihn bin? Glauben Sie mir, ich bin nicht rasend auf ihn, er ist mir so gleichgültig geworden, daß es mir gar nicht mehr lohnt, sein Blatt in die Hand zu nehmen. Ich erinnere mich seiner nur, weil er existiert, und weil er seine gemeinschädliche Tätigkeit mit Glück betreibt; das Publikum findet, daß er ein unterhaltendes Blatt bietet. Lesen Sie es, studieren Sie es, sehen Sie, wie dieser kleine, leere Mann ohne Überzeugung, ohne anderen Mut als Frechheit, wie dieser Mann, der einzig und allein von seiner Sucht getrieben wird, sich ökonomisch schadlos zu halten und von den Leuten auf der Gasse besprochen zu werden, – sehen Sie nur, wie er schreibt und über was er schreibt! Er reibt sich die Hände vor Freuden, wenn er einen armen Kerl von einem Agenten ruiniert hat, der sich aus Not vergeht; er entlarvt ihn, und seine Brust wogt vor Entzücken darüber, daß kein anderes Blatt ihm zuvor gekommen ist, diesen Sünder auszuschnüffeln. Welch ein herrlicher menschlicher Jammer, um ihn dem Publikum hinzuschleudern! Ein superberes Elend können seine geehrten Leser billigerweise gar nicht verlangen … Die Sache ist die: Der Mann hat Schaden genommen, er ist eine gebrochene Natur. Wenn er in aller Ehrlichkeit einen Streich, einen Kniff ausführen kann, wobei er von aller Welt als Teufelskerl bezeichnet wird und sich einige Kronen Abonnementsgeld mehr zuwenden kann, so ist er zufrieden. Er ist erfüllt von Wohlbehagen bei solch einer Bagatelle von einem Kniff, er kichert und weidet sich dran, daß er der erste ist, der einigen Tausend von guten Leuten die Neuigkeit von einer Feuersbrunst in Mjos bringen kann. Wenn in Drommen Volksversammlung ist, verlangt er die Telegraphenstation geöffnet für ›unsere Rechnung‹, bis die Versammlung zu Ende ist. Auf der Versammlung verlautet, was Lynge abermals getan hat, man liest das Telegramm vor, man schlägt sich an die Brust über diese vernichtende Gewalt, die dem Telegraphen gebietet, ›für unsere Rechnung‹ zu arbeiten. Und wieviel kostet denn dies unerhörte Verlangen, den Telegraphen offen zu halten? Ganze fünfundsiebzig Öre die halbe Stunde! Die ganze Ausgabe ist nicht unter fünfundsiebzig Öre und kann vier Kronen fünfzig Öre nicht überschreiten! Nun ja, aber hat Lynge persönlich Schuld daran, daß sein Telegramm vorgelesen und zur Reklame gebraucht wird? Direkt vielleicht nicht, das weiß ich nicht. Aber ich weiß, daß ein solches Telegramm nicht vorgelesen würde, wenn es von einem andern Blatte käme, z. B. vom ›Norweger‹. Lynge hat den Sinn der Leute für Bescheidenheit zerstört; durch seine ununterbrochene Marktschreierei hat er vermocht, des Publikums natürliche Scheu vor Schamlosigkeit aus dem Wege zu rücken. Hinterher ironisiert er sich und seine Handlungsweise selbst, lachend und gewissenlos, humoristisch und leer: die Nachrichten haben einen Taucher und einen Luftschiffer interviewt, die Nachrichten sind das bestunterrichtete Blatt im Wasser und in der Luft.«
Höjbro hielt einen Augenblick inne und Bondesen sagte:
»Ich werde mich mit Ihnen nicht in Zank einlassen; dazu stellen Sie Lynges Tätigkeit allzusehr herab. Das ist ja lächerlich. Hat es keine Bedeutung, daß die Nachrichten einen Priester des sträflichen Wandels angeklagt haben?«
»Aber du großer Gott, welches negative Verdienst, einen solchen Skandal zu veröffentlichen, nur um einige Abonnenten mehr zu bekommen.«
»Ja, natürlich, nur deshalb!«
»Ausschließlich! Denn sonst wäre er auf die Polizei gebracht worden, was der einzig richtige Weg gewesen wäre.«
»Na, der Geistliche wurde Gott sei Dank abgesetzt; ich sehe auf das Resultat. Ein Agent Jensen in Oslo treibt ungesetzlichen Handel in Stoffen; die Nachrichten bekommen Wind davon; sie gehen zu dem Manne und verlangen die Bücher vorgelegt. Der Mann weigert sich; die Nachrichten kommen mit ein paar Artikeln, und drei Wochen drauf hat der Herr Agent sein Bündel packen und nach Amerika ziehen müssen. Wieder ein Resultat.«
»Wieder ein Zug von Lynges Begehr nach einigen Abonnenten mehr. Dieser Mann tritt als Presse auf, will sich in die Häuser drängen und Verhör und Examen abhalten; er sagt: ›Haben Sie die Güte, die Bücher vorzulegen!‹ Bei Gott und seinen Engeln, – ich würde den kleinen Knirps auf die Schuhspitzen nehmen und die Treppen hinunterschleudern, wenn er zu mir käme, und wenn ich mich noch so sehr des ungesetzlichen Handels mit Stoffen strafbar gemacht hätte …«
»Ja, hüten Sie sich nur, er kann eines Tages kommen.«
»Dann soll er mir willkommen sein … selbst ist er zu klein veranlagt, um ein größeres Vergehen zu wagen; er rudert nie weiter hinaus, als daß er meint, sich bergen zu können. Er liebt die dunklen Wege, das Versteckte, den Kuß im Winkel, Händedruck im geheimen, den Schwindel unter dem Vorwand, die Gesellschaft reinigen zu wollen. Alle Menschen müßten es sehen können, denn in kurzen Zwischenräumen stellt er sich doch immer ziemlich bloß …«
Es läutet. Sofie geht und öffnet, sie kommt mit der Tagesnummer der Nachrichten zurück, und Bondesen fällt mit gewohntem Interesse darüber her.
In dieser Nummer aber hatte Lynge deutlich und bestimmt die Flagge gehißt. Ein Redaktionsartikel erklärt die Beziehungen des Blattes zu den Aufsehen erregenden Unionsartikeln: man hatte Zweifel ausgesprochen, wie weit diese Artikel sich von der Redaktion selbst oder einem Einsender herschrieben. Zur Aufklärung für die verehrten Zweifler wollte Lynge mitteilen, daß die Artikel der Nachrichten eigene seien, daß es ihr eigener politischer Standpunkt sei, und daß das Blatt allein die Verantwortung trage. Punktum.
Bondesen las mit offenem Munde, stumm, eine Beute der widerstreitendsten Gefühle. Wie traurig bekam er nun unrecht! Wie hatte er mit der Faust auf den Tisch geschlagen – und sich geirrt! Er schleuderte Höjbro das Blatt zu und sagte nicht ein Wort!
Höjbro findet einen gesperrt gedruckten Leitartikel über eine Wahrsagerin auf dem Kampen, die einer der Leute der Nachrichten entdeckt hatte; sie trieb schlimme Künste in Karten oder Kaffeesatz, für einen Schnaps oder ein Täßchen Kaffee von den Nachbarn. Wie zog sie die Leute auf! Wie führte sie sie an der Nase herum! Mehr Schulen! Mehr Aufklärung auf dem Kampen!
Endlich kam er zu der Erklärung des Redakteurs. Er las sie wie das übrige, ohne Erstaunen zu zeigen, und sagte, als er fertig war:
»Da sehen Sie nun selbst.«
»Ja,« sagte Bondesen, »ich sehe es.«
Pause.
»Aber doch soll keiner kommen und sagen, Lynge sei der kleine Mann, für den Sie ihn ausgeben«, fuhr Bondesen fort. »Ich halte trotz alledem was auf ihn; es gehört mehr dazu, meinen Glauben zu erschüttern.«
»Auch wenn Lynge zur Unionspolitik der Rechten übergeht?«
»Ja, zum Teufel noch mal, was er auch tut, und wenn er sich um den Kammerherrntitel bewürbe.«
Pause.
»Ja, sehen Sie!« sagte Höjbro. »Ein norwegischer Radikaler braucht seinen Ansichten nicht das Genick zu brechen, er kann sie nur ein wenig biegen.«
Dann wollte er gehen.
Aber Bondesen schien eine Idee zu bekommen, einen feinen, scharfsinnigen Gedanken.
»Sind Sie so ganz sicher, daß Lynge keine Absicht hiermit gehabt hat?« fragte er. »Sie könnten sich nicht die Möglichkeit denken, daß der Mann einen Zweck, eine heimliche Mission in Gedanken hat? Könnten Sie sich nicht denken, daß er sich durch seine Manöver in die Rechte eindrängen will, von der Rechten gelesen sein und auf diese Weise nach und nach, nach und nach das Gift der Linken in die Partei träufeln will?«
»Erstens,« erwiderte Höjbro, »erstens hoffe ich zur Ehre der Rechten, daß ihre Überzeugung nicht so miserabel ist, daß die Arbeit der Nachrichten sie erschüttern könnte. Auf etwas so Erbärmlichem sollte sich diese Partei mit alter Bildung und Tüchtigkeit nicht erwischen lassen. Zweitens aber irren Sie, was Lynge betrifft. Welchen Verdacht hegt man gegen ihn, oder welchen Verdacht gegen sich kann er riskieren? Daß er alles, was er tut, nur tut, um Aufsehen und Lärm zu erregen und neugierige Abonnenten anzulocken. Aber einen solchen Verdacht gegen sich würde der Mann nicht jahrelang dulden, wenn er ihn nicht verdiente. Dazu ist er nicht groß genug veranlagt. Wenn sein innerster Beweggrund der wäre, Seelen von der Rechten nach der Linken hinüberzuziehen, so würde er nicht darüber schweigen können, er würde es heraussprudeln, auch dies Geheimnis verraten, es in großen Typen erzählen, hier, auf der ersten Seite. Aber es ist ihm vielleicht lieb, wenn Sie und andere ihn für so großartig undurchdringlich halten.«
»Nun, wozu diese Unartigkeit? Ich habe die ganze Zeit nicht darauf geantwortet, obgleich Sie mir persönlich zu Leibe wollten …«
Höjbro nickt und sagt:
»Ihnen als Repräsentant des norwegischen Radikalismus.«
Hierauf entgegnet Bondesen nichts. Er zuckt die Achseln.
»Ja, ja, von uns wird keiner das Aussehen der Welt verändern«, sagt er. »Offen gesagt, wenn ich diese Erklärung Lynges so richtig durchlese und ich sehe seine Gründe, so muß ich ihn trotz alledem bewundern. Er ist ein Satanskerl! Seine Gegner innerhalb der Linken, seine Konkurrenten, meinten nun wohl, ihn geduckt zu haben; aber er ist immer obenauf. Ein Satanskerl!«
»Es gibt nur zwei Sorten von Menschen, die sich immer im Leben durchschlagen und bei jeder Sache obenauf sind«, erwidert Höjbro. »Das sind die Ehrlichen im Herzen. Sie kommen durch, sie sind nicht immer praktisch, in ihrem Innern aber stets obenauf. Und dann die moralisch Beschädigten, die Frechen innerhalb der Gesetzesgrenzen, denen die Fähigkeit abhanden gekommen, Gewissensbisse zu empfinden. Die können sich wieder hinauf handeln, selbst wenn sie geduckt werden.«
Jetzt aber findet Bondesen, daß diese unaufhörlichen Antworten in Form von Anklagen ihm zu nahe gehen, ihn beiseite setzen. Er ist bei dieser Zänkerei vielleicht unterlegen, er hat sich nicht genug geltend gemacht. Und nun sagt er hinwerfend:
»Nun, darüber ist nicht mehr zu reden; mit einigen Behauptungen bekehrt man erwachsene Leute nicht. Aber wie dem auch sei: wenn ein Mann wie Lynge, wenn sogar er schwankt in seiner bis jetzt befolgten Politik, so ist das eine Aufforderung an jeden von uns, die wir Kinder sind im Vergleich mit ihm, die Sache noch einmal zu überdenken. Lynges Gründe frappieren mich überdies, ich begreife fast nicht, daß diese einfachen Dinge mir bis jetzt nie eingefallen sind. So klar dünken sie mich.«
Hier fängt Höjbro laut und schallend an zu lachen.
»Hab' ich erwartet!« sagte er.
»Aber Notabene, ich behalte mir vor, diese Gründe noch einmal für mich selbst zu überdenken. Ich …«
»Ja, tun Sie das! Hahaha! Das ist ja gerade – wie ich schon gesagt habe – das Gute an einigen Menschen, daß sie sich so geschmeidig mit einer Überzeugung abfinden können, die ein bißchen unregelmäßig auftritt. Solch eine Unregelmäßigkeit macht sie nicht bleich vor Erregung, raubt ihnen weder Schlaf noch Appetit. Sie treten ein in die Veränderung, sehen sich ein wenig um und bleiben dort. Ach ja!«
Bis jetzt hatten die jungen Mädchen nicht ein Wort gesprochen. Einen Augenblick sieht Charlotte nach Bondesen hin; dann fängt auch sie an zu lachen und sagt:
»Das war's ja gerade, was Herr Höjbro sagte.«
Da wurde Bondesen aber plötzlich feuerrot im ganzen Gesicht und antwortete mit bebenden Lippen:
»Es ist mir so ziemlich gleichgültig, was Herr Höjbro sagte oder nicht sagte. Ich brauche dich nicht zum Zeugen; das ist eine Sache, die du nicht verstehst.«
Welch eine Übereilung! Wie konnte er sich so verplappern! Charlotte senkte das Gesicht tief auf die Arbeit, und bald darauf, als sie wieder aufblickte, sagte sie auch noch kein Wort. Sie sah Bondesen mit festem Blick an.
»Was willst du sagen?« fragt Bondesen noch immer erregt.
Da mischt Höjbro sich ein, er macht eine dumme und kränkende Bemerkung, die er später bereut:
»Das Fräulein will Sie nur darauf aufmerksam machen, daß Sie sie nicht duzen sollen.«
Bondesen ist einen Augenblick verwirrt, dann sagt er: »Ach, entschuldigen Sie!« Aber plötzlich packt die Wut ihn wieder, und er verrät dies Geheimnis, bricht heftig das Wort, die Verabredung, die er hätte halten sollen, indem er sich an Höjbro wendet und sagt:
»Übrigens will ich Sie darauf aufmerksam machen, daß das Fräulein mich auf nichts aufmerksam machen wollte. Wir duzen uns!«
Höjbro erbleichte, verbeugte sich und bat um Entschuldigung. Er sah nach Charlotten hin; der Blick, den sie Bondesen zuwarf, drückte große Freude aus. Wie seltsam, sie blickte ihn geradezu strahlend an. Höjbro begriff es nicht. Nun, es ging ihn ja auch nichts an! Aber sie duzten sich!
Er nahm seinen Hut und ging zur Tür. Hier verbeugte er sich wiederum tief und sagte fast flüsternd und ohne jemand anzusehen Adieu und schlich hinaus. Gleich darauf sah man ihn die Straße hinunterlaufen, ohne Überrock, dünn gekleidet, mit langem, ungepflegtem Haar.
Bondesen blieb da.