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4. Wang Yang ming und die Neuzeit

Die südliche Sung-Dynastie so gut wie die seit 1127 nördlich vom Yangtse regierende Dynastie der Tchin (vgl. oben S. 313) mußten im 13. Jahrhundert dem Mongolenheere weichen, das Gingiz ?ân aus dem Boden zu stampfen die Kraft besessen hatte. Zuerst bildete sich (1234) ein nordmongolisches Reich auf chinesischem Boden, dann brachte ein lang ausgedehnter Krieg auch das Reich der Süd-Sung in mongolische Hände (1280). Keine 90 Jahre freilich dauerte die Regierung dieser mongolischen (Yüen-) Dynastie. Während ihres Bestehens verläuft das philosophische Leben Chinas mit mattem Pulsschlage in der Weise, die man nach dem Vorhergegangenen vermuten kann: die stärkste Geltung beansprucht die Lehre des Tschu Hsi und seiner Vorgänger; daneben arbeitet die Schule des Lu Hsiang schan in ihrer Richtung weiter; und endlich bildet sich noch eine Gruppe, die zwischen Tschu Hsi und Lu Hsiang schan vermitteln will. Die Vertreter dieser drei Strömungen haben für uns zu wenig Wichtigkeit, als daß wir ihnen näher nachzugehen brauchten.

Das Jahr 1368 sah wiederum ein einheimisches Herrschergeschlecht an die Stelle der fremden Mongolen treten: der erste Kaiser der Ming-Dynastie, früher Insasse eines buddhistischen Klosters, richtete in Nanking seinen Thron auf, der, später nach Peking übertragen, durch 276 Jahre hin sich behauptet hat. Das erste Jahrhundert der Ming brachte der Philosophie des Tschu Hsi ein völliges Uebergewicht. Die Regierung übernahm es, diese durch ihren Gedankengehalt sich stark empfehlende Lehre praktisch zur Grundlage des Staatswesens zu machen. Das geschah vor allem durch zwei Mittel: einmal durch eine Reorganisation der Staatsexamina, bei welcher Tschu Hsis Erklärung der Klassiker und damit sein Denksystem als allein richtig und gültig hingestellt wurde, und ferner durch ein neues Gesetzbuch, in welchem scharf Front gemacht wurde gegen philosophisch-religiöse Richtungen, die mit der sanktionierten Staatslehre nicht in Einklang standen [R512]. Eine Reihe emsiger Arbeiter, die den Gedanken des Tschu Hsi an einzelnen Stellen eine weitere Ausgestaltung zu geben trachteten, sorgten dafür, daß ein gewisses inneres Leben erhalten blieb; als solche sind zu nennen Ts'ao Mu tse (oder Ts'ao Tse tch'i); Wu K'ang tchi; Yeh Tching hsien; Hu Tching tchi; Tsch'ên Pai sha (oder Tsch'ên Hsien tschang) [R513]. Doch war es bei der Lage der Dinge unvermeidlich, daß kräftigere Selbständigkeit allmählich ausstarb. Staatliche Begünstigung eines festen Systems macht die Philosophie eben immer für den breiten Durchschnitt zu einem Mittel des Fortkommens und des niederen Ehrgeizes. Man wollte die Examina glänzend bestehen, Aemter und Einnahmen gewinnen, mit Kenntnissen prahlen.

Da kommt neue Bewegung in dies routinierte Treiben durch die Person des Wang Schou jên, gewöhnlich mit seinem Beinamen Wang Yang ming genannt.

Eine eigentümliche Philosophengestalt, vor der wir hier stehen! Man denkt bei Philosophen leicht an weltfremde Buchmenschen, in ihre Ideen eingesponnen, »von des Gedankens Blässe angekränkelt«, ihren Theorien und Konsequenzen blindlings nachirrend und dabei an die Wirklichkeit der Dinge, für die sie kein Augenmaß haben, hart anrennend. Hier tritt ein Denker vor uns auf, der das Leben in seinen kräftigsten Formen praktisch zu meistern verstanden hat, der ein tüchtiger Krieger, ein hervorragender Beherrscher und Leiter der Menschen war, auf Gipfeln des Lebens zu Hause, aber auch in Abgründe stürzend, jedoch beides, Gipfel wie Abgrund, gleichmütig hinnehmend, innerlich darüber stehend, kurz, ein Mann des vollen, bunten Lebens, doch zugleich ein geborener Denker, den es immer wieder in die Tiefe dieses problematischen Daseins zog, um dem »Unzulänglichen«, »Unbeschreiblichen« auf die Spur zu kommen.

Wang Schou jên, dessen Mannesname Po an, und dessen literarischer Name Yang ming war, ist geboren 1472 n. Chr. in einem kleinen Orte der Provinz Chekiang. Seine Familie führte ihren Stammbaum weit zurück und war vielfach ehrenvoll in die Geschichte Chinas verflochten; Vater und Großvater hatten hohe Aemter inne. Wang erhielt die übliche gute Erziehung, sowohl nach der Seite der Buchgelehrsamkeit wie nach der militärisch-sportlichen Seite. Er scheint auch schon als junger Mann taoistischen Ideen und Uebungen nahe getreten zu sein. Es wird berichtet, er habe bei seiner Verheiratung die wichtige Feierlichkeit der Uebergabe der Brautgeschenke versäumt, weil er bei einem Tempel einen Taoisten antraf, mit dem zusammen er eine Meditation vornahm, über der er alles andre vergaß. Erst am folgenden Tage kam er wieder nach Haus. Im Bestehen der Staatsprüfungen war er nicht glücklich. Das höchste Examen des Tchin schï versuchte er zweimal vergebens; erst das drittemal brachte ihm Erfolg. Danach bestand er auch das Examen des besonderen Ranges eines Han lin und erhielt eine staatliche Anstellung. Nun steigt er die Leiter der Aemter und Würden allmählich hinauf.

Die Muße, welche seine Amtspflichten ihm ließen, verwendete er gern auf Beschäftigung mit taoistischen und buddhistischen Lehren sowie auf Verkehr mit Mönchen und Priestern. Er besuchte öfters den buddhistischen Pilgerort Tchiû huâ schan, eins der vier religiösen Zentren des Buddhismus, am mittleren Yangtse in der Nähe der Stadt Ta tung gelegen. In dieser großen Klosteransiedlung, die dem gnädigen Bodhisattva der Unterwelt, Ti tsang wang, geweiht ist, liebte er es, sich mit buddhistischen oder taoistischen Tempelinsassen (denn auch taoistische Heiligtümer befinden sich dort) in Gespräche einzulassen und ihre religiöse Praxis zu studieren. Er soll es auch selbst in Meditation und gewissen okkulten Fähigkeiten (wie Vorhersehen der Zukunft) weit gebracht haben. Aber seine dauernde Befriedigung fand er in diesen Lehren nicht. Sie entfernten sich für ihn zu weit vom Natürlichen; der »rechte Weg«, meinte er, mußte mehr im normalen Dasein zu finden sein, und Konfuzius schien ihm dafür doch der bessere Führer.

In dieser Zeit – er war damals 35 Jahre alt – wurde seine staatliche Laufbahn plötzlich unterbrochen, weil er sich die Feindschaft eines kaiserlichen Eunuchen von großem Einfluß zuzog. Die Eunuchenwirtschaft war am Kaiserhofe von China allezeit eins der schlimmsten Uebel. Der hier in Frage kommende Hämling, Liu Tching, hatte zwei Beamte, die beim Kaiser gegen ihn eine Eingabe gemacht hatten, ins Gefängnis werfen lassen. Wang Yang ming verwendete sich für die Eingekerkerten, und es gelang ihm, sie zu befreien. Dadurch aber richtete er den Groll des Eunuchen auf sich. Dieser verleumdete ihn beim Kaiser und setzte ein Urteil über ihn durch, wonach Wang zuerst vierzig Bambushiebe erhielt und dann in die ferne, unkultivierte Provinz des Südwestens, Kueichou, verbannt wurde, wo er den Subalterndienst eines Pferdebesorgers für den kaiserlichen Kurier auf sich nehmen mußte. Der Ort seiner Tätigkeit hieß Lung tsch'ang.

Der Aufenthalt in dieser Verbannung, der drei Jahre dauerte, wurde bedeutungsvoll für Wangs inneres Leben. Er hatte sich mit Gleichmut und Humor in den starken Umschwung der äußeren Verhältnisse gefunden, in die niedrige Stellung, das armselige Leben und die ungebildete Umgebung; gleichgültig gegen all dergleichen warf er sich vielmehr mit ganzem Nachdruck auf das Durchdenken philosophischer Probleme, die ihn seit langem am meisten beschäftigten. Und da fand er in einer Nacht des Grübelns plötzlich jene Grundwahrheit seiner Lehre, die wir weiter unten näher zu besprechen haben werden: daß in unsrer Natur, in unserm eignen Innern, die Quelle aller Erkenntnis liegt und daß das Aeußere von unserm Innern her beleuchtet und gestaltet wird, nicht aber das Innere von außen her. Er war so entzückt von dieser in ihm aufblitzenden Wahrheit, daß er zum Staunen seiner Freunde vom Lager aufsprang und unter freudigen Ausrufen im Zimmer umhertanzte. Jetzt studierte er unter diesem neuen Gesichtspunkt die klassischen Schriften und fand überall Anhaltspunkte dafür. Er schrieb seine »Gedanken über die fünf Klassiker« nieder. Und bald entwickelten sich von der Zentralposition aus auch die übrigen Ideen seines Lehrsystems.

Die Verbannungszeit nahm ein Ende und Wang wurde wieder in ein entsprechendes Amt eingesetzt. Seine Tüchtigkeit brachte ihm bald Beförderung; doch verband er jetzt mit seiner offiziellen Arbeit beständig eine philosophische Lehrtätigkeit unter Schülern, die sich immer zahlreicher zu ihm fanden, und veröffentlichte seine Ideen in Schriften. Ueber die einzelnen Stufen seines amtlichen Aufstiegs hin ihm zu folgen, ist hier unnötig. Er bewies überall große Energie und Menschenkenntnis, wodurch er auch drohender Situationen Herr wurde. So überwand er Räuberbanden und Aufstände, sicherte Straßen und Pässe, bildete seine Soldatentruppe tüchtig aus, und weil ein so sichtlicher Erfolg all seine Tätigkeit begleitete, übertrug der Kaiser ihm immer größere Autorität. Die schwierigste Aufgabe wartete seiner, als im Jahre 1519 in Fukien ein Prinz Tsch'ên Hao gegen den Kaiser eine Rebellion anzettelte. Durch schnelle Maßregeln und schlaue Täuschung des Aufständischen hinderte er die Ausbreitung der Unruhen nach Norden und schlug die Empörer entscheidend in der Nähe des Poyang-Sees. Der rebellische Prinz selbst wurde gefangen genommen und zur Aburteilung nach Peking geschickt. Das alles ging so schnell vor sich, daß die Gefahr beseitigt war, ehe man noch am Hofe ihre ganze Größe erkannt hatte. Allerlei Intriguen von Feinden in der Umgebung des Kaisers suchten dabei noch den tapferen und gewandten Krieger in Schwierigkeiten zu verstricken und um seine Anerkennung zu bringen; doch durchschaute und vereitelte er die Pläne der Gegner.

Der Kaiser erhob ihn danach zum Gouverneur der Provinz Kiangsi. Aber die Verfolgungen seiner Neider ließen natürlich nicht nach. Man suchte dem Kaiser einzureden, daß Wang auf Abfall und Umsturz des Thrones sinne, und dieser scheint in der Tat Argwohn gegen ihn gefaßt zu haben, ließ solche Gedanken aber schließlich fahren. Später verdächtigte man ihn (und gewiß mit besserem Grunde) ketzerischer Ansichten, d. h. der Abweichung von der Lehre des Tschu Hsi. Darin lag nach der Gesetzgebung ein Staatsvergehen. Aber zu einem Strafverfahren gegen ihn kam es doch nicht. Wang selbst freute sich nur über diese Angriffe, weil dadurch seine Lehren weiterhin bekannt wurden. Damit tröstete er auch einen seiner Schüler, der wegen der Heterodoxie seines Lehrers durch das Examen fiel. Die Zahl seiner Anhänger wuchs, auch unter hohen Beamten zählte er jetzt manche Schüler. Des Kaisers Vertrauen bewies sich ihm in seinem 56. Lebensjahre dadurch, daß er zum »Vizekönig« der Provinzen Kuangtung, Kuangsi, Hunan und Hupeh ernannt wurde. Seine Popularität war jetzt sehr groß; auf seinen Reisen drängte sich die Bevölkerung herbei, ihn zu sehen, und alte Leute stritten sich um die Ehre, seine Sänfte zu tragen. Der Familie des Wang war um seiner Verdienste willen die in China so seltene Auszeichnung zuteil geworden, daß seine Nachkommen für alle Zeiten nobilitiert wurden. (Gewöhnlich werden, wie bekannt, in China die großen Leistungen eines Mannes durch Ehrentitel, die seine Vorfahren erhalten, anerkannt.) So stand er auf der Höhe der Ehren und des Erfolges, als ihn Ende 1527 eine schwere Krankheit heimsuchte, die rasch sein Ende herbeiführte. Sein Charakter blieb sich gleich bis zuletzt. Zu einem seiner Schüler, der am letzten Tage bei ihm war, sagte er in klarer Erkenntnis seines Zustandes: »Ich gehe dahin.« Dieser konnte seine Tränen nicht zurückhalten und fragte, ob der Meister noch ein letztes Wort für die Nachwelt habe. Wang sagte mit schon erlöschender Stimme: »Mein Geist ist völlig klar und hell. Was soll ich weiter sagen?« Damit starb er.

Die Philosophie des Wang Yang ming steht mehr als gewöhnlich im Zusammenhange mit seiner Charakterrichtung. Auf diese fällt ein helles Licht durch einige Züge aus seinem Leben, die in seiner Biographie erzählt werden. Aus der Jugend hören wir, daß er eines Tages zu seinem Lehrer kam und ihn fragte: »Was ist im Leben die wichtigste Sache?« Der Lehrer antwortete: »Zu studieren, so daß man ein Tchin schï wird.« ( Tchin schï war, wie erwähnt, der höchste Examensgrad.) Yang erwiderte: »Schwerlich. Zu studieren, so daß man ein Weiser wird, das ist die erste und wichtigste Aufgabe« [R514]. – Später hatte er, wie wir schon anführten, Unglück im Examen. Andere, die sein Schicksal teilten, zeigten sich dadurch sehr niedergeschlagen. Wang sagte: »Ihr schämt euch, daß Ihr Mißerfolg gehabt; ich schäme mich vielmehr, daß dergleichen auf mich einen Eindruck machen kann« [R515]. – Bei dem Tode seines Vaters erhielt er Kondolenzbesuche. Als einmal solch ein Besucher kam, mahnte ihn ein Diener, daß er beim Zusammentreffen seine Trauer um den Vater durch Weinen bezeugen möge. Wang erwiderte ihm: »Weinen kommt aus dem Herzen. Wenn ich weine, weil ein Besuch kommt, und aufhöre, wenn er geht, so mache ich Staat mit meinen Gefühlen und handle trügerisch« [R516]. – Diese drei Anekdoten sind bezeichnend für den Grundzug seines Charakters, nämlich den Sinn für Echtheit und Wahrheit, die Abneigung gegen hohles Formwesen. Das Ideal des durchschnittlichen damaligen jungen Mannes war, Kenntnisse anzusammeln, um damit gleichsam die Examenskosten zu bestreiten und als ein staatlich etikettierter Gelehrter dazustehen, der das Recht auf hohe Stellungen besaß. Wang empfand schon sehr früh, daß Studieren einen ganz andern Zweck und Sinn hat: es soll den Menschen persönlich und geistig fördern, vielleicht bis dahin, daß er ein Weiser wird und den vollen geistigen Tiefblick gewinnt. Titel und Grade haben nichts damit zu tun. Es ist ein Mißbrauch, das Studium als Vorspann dafür zu benutzen. Es ist auch schimpflich, sich durch Mißerfolg des Examens niederdrücken zu lassen, als sei das eine Hauptsache. Und ebenso, wie er damit die Herabwürdigung echten Studierens zur Routine und zum Karrieremachen verurteilt, ebenso verurteilt er weiterhin den Mißbrauch wahrer Gefühle zur Schaustellung und Anstandsheuchelei: Weinen kommt aus dem Herzen; es muß einem wahren Gefühle entspringen und darf nicht künstlich hervorgerufen werden.

Wahrheit und Echtheit bildeten das Gepräge seines Wesens. Das löste ihn unwillkürlich von der damaligen offiziellen Philosophie des Tschu Hsi. Diese Philosophie war ein totes System geworden, dessen Einzelheiten man sich einprägte, um Examina zu bestehen. Der lebendige Trieb der Erforschung des Daseins stand nicht mehr dahinter. Grade daß man die Lehre des Tschu Hsi als die richtige Lehre staatlich approbiert und für die öffentliche Laufbahn vorgeschrieben hatte, grade das hatte den Lebensfunken darin ertötet. Mit äußerlicher Annahme eines innerlich Toten war aber Wang Yang ming nicht gedient. So machte er sich selbst mit voller Lebendigkeit ans Suchen, er philosophierte echt und wahr aus sich heraus, um »weise zu werden«. Und sicher ist es nicht ohne inneren Zusammenhang, daß der Mann, den ein inneres Streben und Bedürfnis auf die Bahnen des Denkens trieb, schließlich zu einer Philosophie kam, deren Zentrum das Wort Innerlichkeit war.

Als die Geburtsstunde seiner Philosophie sah Wang Yang ming jene Nachtstunde in seinem Verbannungsorte an, als er auf einmal begriff, »daß seine eigene Natur hinreichend sei, um zu erkennen« [R517]. Damals ging ihm die Wahrheit auf, daß das Wesentliche bei jeder Art von Erkenntnis eine eigentümliche, in dem Menschen liegende Fähigkeit sei, durch deren Anwendung erst alles Wissen zustande komme. Auf diese innerliche Fähigkeit richtet er von nun an alle Aufmerksamkeit als auf die Quelle, von woher ihm Erleuchtung über Welt und Mensch kommen muß. Bis dahin hatte er, einem Worte des altkonfuzianischen Werkes T'ai hsiô (vgl. S. 104 ff.) folgend (»Ausbreitung der Kenntnisse geschieht durch Untersuchung der Objekte«), seine philosophische Förderung dadurch zu bewirken gesucht, daß er durch Untersuchung äußerer Gegenstände ihre Gesetze, ihr Wesen zu ergründen suchte, ohne daß er recht wußte, wie er das machen sollte, und ohne daß er damit etwas erreichte. Es ist fast drollig, zu lesen, wie er und ein Freund miteinander sich vornahmen, mit aller Hartnäckigkeit einen Bambus, der vor dem Hause wuchs, auf seine Gesetze hin zu untersuchen, wie sie Tage vergeblich damit hinbrachten, schließlich von der geistigen Marterung krank wurden und mutlos meinten: wir sind keine Philosophennaturen, wir verstehen nicht, die Dinge zu untersuchen [R518]. Jetzt auf einmal, in der Nacht von Lung tsch'ang, dreht sich für ihn die Sache um: die Gesetze und ihr Verstehen sind nicht von etwas Aeußerlichem, das da vor uns steht, abzulesen, sondern sie entquellen unserm eignen Innern, bilden sich dort und geben sich dort kund, das Wesen der Welt ist in unserm eigenen Innern zu belauschen. » Meine eigene Natur ist hinreichend.« Das neue Prinzip der Weltauffassung war damit gefunden; aber erst in langem Denken und Suchen wurde ihm dieses Prinzip zur ordnenden Macht seiner Gedanken. Er studierte die Klassiker Konfuzius und Menzius im Lichte seiner neuen Auffassung, und ihm schien, daß sie damit in Uebereinstimmung zu bringen seien. Eine andere Welt tat sich ihm auf.

Unser Philosoph sah in der unendlichen Mannigfaltigkeit der Daseinserscheinungen ein Phänomen, das, obwohl in allerlei Formen und Betätigungen auftretend, im Grunde einheitlich, uns aber nur zugänglich ist vom Innern unsres Wesens, von unserm Geiste aus. Jenes eine Phänomen nennt er oft »Natur«. Von ihr bemerkt er einmal im Gespräche mit einem Schüler: »Es gibt nur eine Natur und nichts weiter. Mit Beziehung auf Form und Wesen (die sie der Welt gibt) nennt man sie Himmel; angesehen als (persönlicher) Lenker und Herr heißt sie Gott (Schang Ti); betrachtet als die bewirkende Macht nennt man sie Schicksal; als dem Menschen mitgeteilte Anlage nennt man sie Natur ( Hsing, nämlich speziell die menschliche Natur); als den Körper beherrschend heißt sie Herz (Geist); als Aeußerung der geistigen Regungen trägt sie unendlich viele Namen, je nachdem, wie sie sich äußert, z. B. Pietät als das Verhalten gegen die Eltern, treue Ergebenheit als Verhalten gegen den Fürsten; doch alles ist ein und dieselbe Natur. Es verhält sich damit gerade so wie mit dem Menschen, der ein Individuum ist, aber doch mit Bezug auf seinen Vater Sohn, mit Bezug auf seinen Sohn Vater heißt, und weiter noch anders in unendlicher Menge. Doch ist es immer derselbe Mensch. Darum muß man all sein Bemühen richten auf seine Natur. Wer die Bedeutung dieses Wortes voll versteht, der vermag auch die Menge der Aeußerungen des Li zu begreifen« [R519]. Alles demnach, was existiert und was geschieht, ist letztlich ein Einheitliches, Gleiches (»Himmel und Erde sind dasselbe Gebilde wie ich, Geister und göttliche Wesen gehören mit mir in allumfassender Einheit zusammen«), jedoch gibt es sich seiner Form nach mannigfach verschieden. Den Zugang zu diesem Weltphänomen besitzen wir in unserm eignen Innern, das eben die Form ist, wie jenes Geheimnis in uns zur Erscheinung kommt. Hier ist das Fenster, aus dem wir in die Welt sehen, allein sehen können, sehen müssen. Darum lautete Wangs grundlegende frohe Erkenntnis: »Meine eigene Natur ist hinreichend!«, nämlich als Erkenntnismittel. Diese selbe Wahrheit drückt der Philosoph auch oft so aus: »Das Herz ist das Li, außer dem Herzen ist kein Li vorhanden.« Herz bezeichnet hier, was wir Geist nennen würden. Li aber, uns besonders von Tschu Hsi her bekannt, ist das Gesetz der Welt in ihrer Gestaltung. Das Weltgesetz liegt in unserm eigenen Geiste. Mit andern Worten: was in der Erscheinung der Welt vor uns steht, ist bedingt durch die in unserm Geiste gegebene Anlage und durch sie uns zugänglich.

Hier streift nun Wang Yang ming den Standpunkt, den wir bei uns erkenntnistheoretischen Idealismus nennen, also die Lehre, daß die scheinbare Wirklichkeit der äußeren Welt nur eine Schöpfung des Geistes ist.

Auf einem Spaziergang mit einem Freunde wies dieser auf Blumen und Bäume in der Umgegend hin und warf dem Philosophen vor: »Du sagst, daß nichts weiter existiere als der Geist. Was haben aber jene Blumen und Bäume auf den Bergen, die von selbst erblühen und welken, mit meinem Geiste zu tun?« Wang erwiderte: »Sobald du aufhörst, diese Blumen anzusehen, verfliegt ihr Bild vor deinem Geiste. Sobald du sie anschaust, werden ihre Farben gleich hell. Daraus geht hervor, daß diese Blumen nicht unabhängig von deinem Geiste existieren« [R520].

Die Subjektivität der äußeren Eindrücke wird hiermit deutlich behauptet. Jedoch ist die Betrachtungsweise im ganzen eine andere als bei unsern erkenntnistheoretischen Idealisten. Hören wir folgende Darlegung: »Die Ohren, die Augen, der Mund, die Nase, die vier Extremitäten bilden den Körper; indes, wie könnte jemand sehen, hören, sprechen, sich bewegen ohne Geist? Andrerseits könnte der Geist ebensowenig sehen, hören, sprechen und sich bewegen, wenn er nicht Ohren, Augen, Mund, Nase und die vier Extremitäten dazu gebrauchen könnte. Daraus geht hervor, daß Körper und Geist reziproke Größen sind. Hat man den Platz des Sichbefindens (das Räumliche) im Auge, so spricht man vom Körper. Hat man die lenkende Tätigkeit im Auge, so spricht man von Geist. Hat man die Bestrebungen des Geistes im Auge, so spricht man von Absichten. Hat man die Verständigkeit der Absichten im Auge, so spricht man von Einsicht. Hat man den Beziehungspunkt der Absichten im Auge, so spricht man von Dingen« [R521]. Nach diesen Worten sind Körperliches und Geistiges, Geist und Dinge gleichermaßen vorhanden. Wang nennt sogar jeden Gegenstand, auf den der Geist gerichtet ist, auch wenn es sich um etwas Abstraktes handelt, ein »Ding«. Er sagt: »Wenn der Gedanke sich darauf richtet, den Eltern zu dienen, so ist dies Dienen ein Ding; wenn er sich richtet auf die Regierung des Volkes, dann ist die Regierung ein Ding; wenn auf Studium, dann ist das Studium ein Ding; wenn auf das Führen eines Prozesses, dann ist das Prozessieren ein Ding; überall wo ein Gedanke auf etwas gerichtet ist, da ist ein Ding. Ist ein bestimmter Gedanke vorhanden, dann ist ein bestimmtes Ding vorhanden; ist der Gedanke nicht da, so ist auch kein Ding da. Geht dann also das Ding nicht aus dem Denken hervor?« [R522]. Hier wird offenbar der weitere Begriff »Objekt« mit dem engeren Begriff »Ding« (= Sinneswahrnehmung) zusammengeworfen. Jedoch auch hier richtet sich der Geist auf etwas, und dies Etwas ist (zusammen mit dem Geiste) da.

Der Geist aber ist die ins Leben rufende Macht. Er ist unser Zugang zum Seienden, der Schöpfer der Welt, so wie sie für uns da ist. Wang Yang ming empfand, daß im Geiste des Menschen etwas unendlich Geheimnisvolles, die Urkraft des Lebens lag. Diesem Geheimnis wandte er sein eifrigstes Nachdenken zu.

Er nennt diese in uns wirkende Urkraft Liang tschï, wörtlich »die echte oder gute Erkenntnis«. Man übersetzt den Ausdruck wohl mit »intuitive Kraft«, »Intuition«. Es ist ein mehr zu empfindendes als zu definierendes innerstes Licht. Man darf es nicht gleichsetzen mit den Funktionen des Geistes, die in den einzelnen Beziehungen des Lebens hervortreten und deren Wang mit früheren Philosophen drei unterscheidet, nämlich Wissen, Fühlen und Wollen. Ueber ihnen und vor ihnen existiert in uns ein Größeres, die »klare Wahrnehmung, die dem reinen (leeren) geistigen Prinzip in uns eigen ist«, und die in den Funktionen des Wissens, Fühlens, Wollens zum Ausdruck kommt. Mit jener charakteristisch chinesischen einseitigen Wendung zum Ethischen hin faßt nun Wang Yang ming dies Erkenntnisprinzip in uns vor allem als das sittliche Unterscheidungsvermögen. Er knüpft dabei speziell an Menzius an, der das »Wissen« als das Bewußtsein von Recht und Unrecht definiert, und die Bedeutung des Liang tschï für das menschliche Geistesleben wird so in der Hauptsache die unseres »Gewissens«. Wie bei diesem die vorausgehende Weisung und das nachfolgende Urteil unterschieden werden, so macht Wang bei seinem inneren Licht denselben Unterschied. Doch liegt ein Unterschied gegen unsern Gewissensbegriff darin, daß Wang sein Liang tschï zu einer Art metaphysischer Zusammenfassung alles Idealen macht, zu einer kosmischen Größe, in der alle geistige Vollkommenheit sich vereinigt. Bezeichnend für diese Einschätzung ist die Tatsache, daß unser Philosoph den berühmten Lobpreis auf Konfuzius, mit dem das klassische Werk Tschung yung schließt (vgl. oben S. 106), wörtlich auf sein Liang tschï überträgt: »Dasselbe ist von scharfer Wahrnehmung, klar erkennend, weitblickend und von umfassender Kenntnis, großmütig, edel, gütig, freundlich, rührig, energisch, stark, ausdauernd, voll Gleichgewicht, würdevoll, die rechte Mitte bewahrend, tadellos, Ehrerbietung einflößend, feingebildet, voll Urteilskraft, in sich geschlossen, nachforschend, allumfassend und ausgedehnt, tief und tätig wie ein Quell, zu seiner Zeit seine Tugenden ans Licht treten lassend« [R523]. Alles Große und Gute im Menschen wurzelt letzten Endes hier, wobei die Grenzen des rein sittlichen Gebiets weit überschritten werden.

Für den Menschen besteht keine höhere Aufgabe, als diesen inneren Wegweiser zur vollen Stärke und Herrschaft zu entwickeln. Denn hier liegt die Wurzel, aus der des Menschen rechtes Wesen hervorwächst, wie des Baumes Zweige und Blätter aus einer gesunden, gut gepflegten Wurzel hervorgehen. Dem stehen freilich mancherlei und schwere Hindernisse im Wege. Denn zunächst liegt jenes innere Licht bei den meisten wie unter einer verdeckenden Kruste, die es verdunkelt und seine Wirkung hindert. Das ist die natürliche Selbstsucht des Menschen mit ihren verkehrten Trieben und Leidenschaften. Wir stoßen hier auf das Problem des Bösen. Wang Yang ming hat eigenartige Gedanken darüber geäußert. Der Unterschied zwischen Gut und Böse war ihm kein radikaler und prinzipieller, sondern ein relativer, der durch die verfolgten Zwecke bestimmt wurde. Er hatte darüber einmal eine Unterhaltung mit einem Schüler, der beschäftigt war, Unkraut zwischen Blumen auszujäten und sich über die Schwierigkeit beklagte, das Unkraut zu beseitigen. Wang, an den Vorgang als ein Bild anknüpfend, bemerkt, es sei keine richtige Auffassung, daß man das Gute pflegen und das Böse ausrotten müsse. Gut und böse seien Urteile, die sich vom Menschen aus bestimmten und leicht falsch verstanden würden. Es sei damit wie mit dem Unterschiede von Blumen und Unkraut. Wenn jemand beabsichtige, Blumen zu ziehen, so betrachte er die Blumen als etwas Gutes und das Unkraut als etwas Böses. Wenn aber die Absicht auf eine gewisse Art von Unkraut gerichtet sei, dann sehe man dessen Wachstum als etwas Gutes an. Verwundert fragt der Schüler, ob denn im Grunde kein Unterschied von Gut und Böse bestehe? Yang ming antwortete: »In jenem Ruhezustand, wo allein die höchste Bestimmung herrscht, ist kein Unterschied von Gut und Böse; in dem Zustand aber, wo die Leidenschaften erregt sind, da sind auch Gut und Böse vorhanden. Wo keine Erregung der Leidenschaften existiert, da ist weder Gut noch Böse, und das wird das höchste Gut genannt« [R524].

Hier wird von einem Ruhezustande des Geistes im Gegensatze zur Erregtheit durch Leidenschaften gesprochen. Es ist das, was der Philosoph sonst oft unsere ursprüngliche Natur nennt oder die natürliche Bestimmung. Dies ist ein im Menschen angelegter Zustand, den wir zur vollen Entwicklung kommen lassen müssen. Ihm entgegen wirken selbstische Zwecke und Leidenschaften, sie stören den »Geist«. Vorliebe und Abneigung darf in uns nicht bestimmend sein. Yang ming gibt zu, daß man Vorliebe und Abneigung nicht völlig aus sich verbannen kann, »denn ein Mensch, dem sie völlig abgingen, wäre des Bewußtseins bar«. Aber unser Tun darf nicht dadurch bestimmt werden. »Zu sagen, daß man nicht nach Maßgabe von Vorliebe und Abneigung handelt, bedeutet einfach, daß man bei allem, was Vorliebe oder Abneigung weckt, der Weisung des ›natürlichen Gesetzes‹ folgt, dagegen nichts unter dem Impulse einer selbstischen Absicht tut. Dann ist es, als hätte man weder Vorliebe noch Abneigung.«

Obgleich deutlich ist, daß Wang Yang ming die Selbstsucht dem »natürlichen Gesetze« gegenüberstellt, so erhellt daraus doch noch nicht genügend, was er unter letzterem eigentlich befaßt. Der Schüler erwähnt z. B. die Liebe des Schönen und die Abneigung gegen üble Gerüche und meint, das darin doch die Selbstsucht sich äußere. Aber Yang ming leugnet das und nennt das Streben nach Schönheit und Wohlgeruch ein »reines Streben«, das dem natürlichen Gesetze gemäß sei. Wo aber die Grenzlinie zu ziehen sei, tritt nicht ans Licht.

Dagegen begreift sich, daß der Meister Aeußerungen wie die folgende tun konnte: »Die Natur ist das höchste Gut. Natur hat in ihrer ursprünglichen Eigenart nichts Böses an sich, und darum heißt sie das höchste Gut. Im höchsten Gut zu beruhen, schließt die Rückkehr zu seiner natürlichen Eigenart in sich.«

Dies Suchen nach seiner natürlichen Eigenart, nach seinem wahren »Geist«, und das Abtun der selbstischen Triebe und Zwecke muß vorsichtig, langsam und ausdauernd betrieben werden. Die ungemeine Schwierigkeit der Arbeit verhehlt Yang ming weder sich selbst noch seinen Schülern. Und hierbei kommt er auf ein Thema, das er so häufig und nachdrücklich hervorhebt, daß man es immer zu den Leitmotiven seiner Philosophie gerechnet hat. Es ist der Satz, daß Denken und Handeln eins sein muß, daß Denken, soll es Wert haben, notwendig gepaart gehen muß mit Handeln, daß es im Handeln erst vollkommen wird, daß aber ohne Handeln kein rechtes Denken ist. Die nur theoretische Ergründung der Welt- und Lebensprobleme ist nichts. Jede noch so geringe Erkenntnis muß in Handeln übergeführt werden, und erst damit bedeutet die Erkenntnis wirklich etwas.

Man sieht an dieser Stelle deutlich, wie stark die Philosophie dieses Denkers einseitig ethisch geartet ist. Zugleich wirkt hierin wohl auch das Naturell des Mannes nach, der als ein tatkräftiger Gestalter mitten durchs Leben gegangen ist und die Dinge und Menschen kräftig beeinflußt hat. Kein abseits stehender Forscher, kein Gelehrter im engeren Sinne, sondern der Krieger, der Beamte, der Regent bricht hier durch. »Nichts wird erkannt ohne Handeln. Erkennen ohne Handeln ist eben noch kein Erkennen.« Die beiden gehören auch nach dem »natürlichen Gesetze« zusammen. Wenn man etwa einem schönen Gegenstande gegenübersteht, so ist das Wahrnehmen der Schönheit ein Erkennen, aber unwillkürlich und untrennbar verbindet sich damit das Lieben des Schönen, und das ist ein »Handeln«. Oder wenn man es mit einem unangenehmen Geruche zu tun hat, so nimmt man ihn durch das Geruchsorgan wahr, aber unmittelbar damit verbunden ist die Abneigung dagegen, also das Handeln. Diese Beispiele benutzt Wang, um nachzuweisen, daß in unsrer ursprünglichen Natur Erkennen und Handeln so eng verknüpft sind, daß dabei von einem Vorher oder Nachher nicht die Rede sein kann. Oft aber drängt sich in unsrer empirischen Natur die Selbstsucht, die Begierde, das Böse zwischen Erkennen und Handeln, unterbricht den Zusammenhang und macht damit auch das Erkennen unvollkommen, wertlos. Demgegenüber gilt es, sich immer wieder darauf zu besinnen, daß Erkennen und Handeln eins sind. »Erkennen ist der Anfang des Handelns, Handeln ist der Abschluß des Erkennens. Gelöst von Erkennen gibt es kein Handeln, gelöst vom Handeln gibt es kein Erkennen.« Es gehört als ein wesentliches Stück mit zur Herausarbeitung unserer ursprünglichen Natur, daß man das Handeln mit dem Erkennen überall aufs engste zusammenschließt [R525].

Vor allem kommt es hierauf an, wenn man die »ursprüngliche Natur«, das Li, die tiefste Bestimmung des Menschen, ergründen will. Darüber zu grübeln und Gedankenfäden zu spinnen, bedeutet nichts und fördert niemanden. »Falls man sich dabei nicht praktisch bemüht, sich selbst zu überwinden (und so die verdunkelnde Kruste der eigenen Begierden zu entfernen), wird man es in Ewigkeit nicht weiter bringen als zu leerem Gerede, dagegen von dem Li und von den Begierden nie etwas entdecken. Es ist damit wie mit einem Manne, der einen Weg verfolgt. Wenn er eine Strecke davon zurückgelegt hat, dann kennt er die Strecke. Trifft er dann auf einen Kreuzweg und ist zweifelhaft, wohin er sich wenden soll, so erkundigt er sich. Hat er sich aber erkundigt, so geht er weiter, und so erreicht er allmählich sein Ziel.« Wang fällt darauf über seine Zeitgenossen ein sehr strenges Urteil, wie sie, anstatt Schritt vor Schritt in handelnder Erkenntnis vorwärts zu streben, sich in leerer Diskussion ergehen und von letzten Zielen reden, die sie doch praktisch noch längst nicht erreicht haben.

Wohltuend berührt die ruhige Unparteilichkeit und die Weite des Blicks, womit Wang Yang ming abweichende Standpunkte anderer Philosophen beurteilt. Er meinte sich selbst völlig an die altchinesische Lehre der Klassiker anschließen zu können, bei denen er auch für seine neuen Bahnen Anknüpfungspunkte genug entdeckte, um nur als ihr Fortbildner, nicht als ein Neuerer aufzutreten. Von den Meistern der letzten Jahrhunderte beschäftigten ihn besonders Tschu Hsi und Lu Hsiang schan. Daß er mehr an die Seite des Letzteren als des Ersteren gehörte, fühlte er deutlich. Von Lu urteilt er: »Die Gelehrsamkeit des Lu Hsiang schan ist einfach, bestimmt und umsichtig. Nächst Menzius ist er der Erste. (Daß Konfuzius über beiden steht, ist selbstverständlich.) Obschon er in dem Erweise von Gelehrsamkeit, Untersuchung, Ueberdenken, Umsichtigkeit und weitausgedehnten Kenntnissen sowie in seiner Forschung nicht immer der Gefahr entgeht, sich der Tradition anzupassen, so wird er doch in dem klaren Verständnis des Grundlegenden von andern Philosophen nicht erreicht. Meistens kann man sich auf seine Gelehrsamkeit durchaus verlassen« [R526]. Er schrieb ein Vorwort zu den Werken des Lu und hat sich auch als Beamter um die Nachkommen des Philosophen hilfreich bekümmert. Von Tschu Hsi fühlte er sich in mancher Hinsicht mehr geschieden. Doch suchte er in den Erörterungen, welche der Vergleich seiner Gedanken mit denen des großen Sung-Meisters bei Jüngern und Freunden oft hervorrief, immer volle Sachlichkeit zu wahren und jede persönliche Erhitzung zurückzuweisen. Wieder und wieder rief er in Erinnerung, daß man die Wahrheit suchen, nicht aber Standpunkte vergleichen solle. Auch betont er, daß es wichtiger sei, die eigenen Irrtümer aufzuspüren, als die früherer Lehrer auseinander zu setzen. Mit großer Offenheit, ja Rücksichtslosigkeit, spricht er dabei zu den Freunden. Freilich fühlt er auch, daß solche Diskussionen nicht viel Zweck haben. Denn das Uebergewicht der Lehre des Tschu Hsi war damals schon zu groß und allgemein. »Die Gelehrten des Reiches«, sagt er einmal, »haben seit langem entschieden, daß Tschu im Rechte ist und Lu im Unrecht, und daher ist es schwierig, einen Umschwung zu Wege zu bringen« [R527]. Aber obwohl diese Parteinahme der Menge auch ihn selbst schädigend traf, ließ er sich dadurch nicht im geringsten zur Erbitterung reizen und vom Wege strenger Sachlichkeit abdrängen.

Mit derselben Unparteilichkeit und Weitherzigkeit stand er auch dem Buddhismus und Taoismus gegenüber. Beide kannte er durchaus, dem Buddhismus insbesondere hatte er viel Aufmerksamkeit gewidmet (vgl. S. 358 f.), ohne daß er davon befriedigt wurde. Seit er die Gedankentiefe des Konfuzianismus entdeckt hatte, bedauerte er, »seine Energie dreißig Jahre lang an den Buddhismus vergeudet zu haben«, und warnte junge Leute auch wohl vor solchem Irrwege. In der Hauptsache ist es die Weltabgewandtheit des Buddhismus und seine Gleichgültigkeit gegen die Aufgaben des Gemeinschaftslebens, die ihm Wang entfremdeten. Er fand darin einen selbstischen Charakter. Dennoch aber ist er nirgends überscharf und unduldsam, wo er von Buddhismus oder Taoismus redet. Sie mit dem Konfuzianismus vereinigen will er nicht, denn letzterer ist sich selbst genug. Doch stellt er sich das Verhältnis so vor: »Da ist ein Haus mit drei Zimmern nebeneinander. Wenn ein Konfuzianer einen Buddhisten kommen sieht, gibt er ihm das Zimmer zur Linken, wenn er einen Taoisten kommen sieht, gibt er ihm das Zimmer zur Rechten, während er selbst den mittleren Raum einnimmt. Alle (drei) beschäftigen sich unter Verwerfung der übrigen Dinge mit dem Einen.« [R528] Ein andres Mal, als er auf einer Schiffahrt mit einem Schüler zusammentraf, der sich dem Buddhismus zugewandt hatte, äußerte er, den Buddhismus ruhig neben den Konfuzianismus stellend: »Ist die grundlegende Wahrheit an einen besonderen Platz gebunden? Es ist damit wie mit dem Licht dieser Kerze. Ihr Licht ist überall und nicht nur an die Kerze gebunden.« Er wies in das Innere des Schiffes und sagte: »Hier ist Licht. Da ist Licht.« Hindeutend auf die Wasserfläche um das Schiff hin sagte er: »Auch da ist Licht.« [R529] Jeder also, der ernstlich strebt, kommt nach Wang Yang ming bis zu einem gewissen Grade der Wahrheit nahe und darf auf unsere Achtung Anspruch machen.

 

Wang Yang ming ist der letzte einflußreiche Denker gewesen, den China hervorgebracht hat. Zwar lassen sich wohl noch eine Anzahl Namen von Männern zweiten Ranges aus der späteren Zeit nennen; so Lo Tch'in schun (oder Lo Tschêng an), ein Zeitgenosse des Wang Yang ming, ein scharfer Bekämpfer des Buddhismus zugunsten des Konfuzianismus; ferner Liu Tsung tschou (oder Liu Nien t'ai), 1578-1645, der die Konfuzianische Pflichtenlehre ausführlich behandelte; er brachte sich in den Greueln nach dem Sturz der Ming-Dynastie durch Hunger selbst zu Tode. Aus der Mandschu-Dynastie seien erwähnt: Lu Lung tch'i, 1630-1693, der das Beamtenwesen theoretisch und praktisch zu reformieren unternahm; Lu Schï i, ein Pädagoge aus dem Anfang der Mandschu-Dynastie, anfänglich dem Buddhismus zugeneigt, dann strenger Konfuzianer; Wei I tchieh, 1616-1686, der über die Aufgaben der Regierung schrieb und neue Ausgaben wertvoller älterer Kommentare veranstaltete; Huang Tsung hsi, 1609-1695, ein sehr fruchtbarer Schriftsteller auf philosophischen und anderen Gebieten; Wan Szï t'ung, 1642-1702, ein Schüler des vorigen; Sun Tch'i fêng (oder Sun Hsia fêng), 1583-1675, einer der angesehensten modernen Bearbeiter der Konfuzianischen Ethik; Tschu I tsun, 1629-1709, berühmt als Archäologe und Ausleger der Klassiker; Yen Jo tchü, 1636-1704, ein scharfer Kritiker, besonders der Sung-Philosophen; Mao Tch'i ling, 1623-1707, gleichfalls bekannt durch seine an Tschu Hsi geübte Kritik [R530]. Aber alle Genannten (und noch andere neben ihnen) mangeln des besonderen großen Gepräges und des weithin wirkenden Einflusses. Vielmehr sind sie nur Repräsentanten von Richtungen, die aus der Vergangenheit stammen, oder ausschließlich kritisch geartet. Man kann in der Zeit von Wang Yang ming bis zur Gegenwart fünf Gruppen von Denkern unterscheiden: 1. Die Weiterbildung der Lehre des Yang ming; 2. die Gruppe der »Tsch'êng- und Tschu-Schule«, d. h. des Sung-Konfuzianismus; 3. die Gruppe der »Lu- und Wang-Schule«, d. h. der Lehren des Lu Hsiang schan und Wang Yang ming; 4. Versuche der Verschmelzung von Tschu Hsi und Wang Yang ming; 5. kritische Denker. Die Vorherrschaft unter ihnen allen hatten im ganzen die Anhänger des Neukonfuzianismus. Dieser war zu Wang Yang mings Zeit in China durch die Unterstützung des Staates bereits zu fest begründet, als daß Wangs Lehre ihn noch hätte erschüttern können (vgl. S. 370). Aber es war nicht nur die offizielle Anerkennung, die das bewirkte. Das System des Tschu Hsi mit seiner geschlosseneren formellen Ausgestaltung, mit seiner gründlichen Buchgelehrsamkeit, mit seiner spekulativen Wiederaufnahme der uralten chinesischen Naturphilosophie des Yang und Yin appellierte stärker an den chinesischen Geist und gewann seine Sympathien leichter als die Gedanken des Wang Yang ming, die eine innerlich selbständige Tätigkeit, ein selbsterworbenes Urteil verlangten und weniger feste Resultate mitteilten, als auf einen Weg mit unendlicher Perspektive hinwiesen. Es ist sicher kein Zufall, daß diese sozusagen beunruhigende und immer wieder das Suchen und Forschen und die eigene Tatkraft aufrufende Denkweise ihren stärkeren Widerhall zuerst in Japan gefunden hat. Dessen Volksseele entsprach solchen Impulsen von Natur besser. Als daher im 17. Jahrhundert Nakae Tôjiu und Kumazawa Banzan sich zu Herolden der Lehre des Wang Yang ming (in Japan Oyômei genannt) aufwarfen, fanden sie in dem Inselreiche großen Anklang, und obwohl auch dort der Kampf mit dem staatlich angenommenen Neukonfuzianismus nicht ausblieb, zog Wangs Philosophie doch immer weitere Kreise. In neuester Zeit erst hat das dann auf China wiederum zurückgewirkt, wozu gewiß die brausende Unruhe der modernen Umwälzungen, die aus Schlaf und Träumerei zur Anspannung aller Kräfte weckte, ihr Teil beigetragen hat. Die alten Grundlagen erzitterten und mit ihnen das Konfuzianische Lehrsystem; Bewegung, rastlose Tätigkeit auch am eignen Innern, rastloses Suchen nach neuen Zielen und Ringen um neue Ideale erwachte in vielen Menschen der letzten Generationen, und dem entsprach der Grundton von Wangs Lehre besser. So ist die Neuzeit in China ihm wieder näher gerückt, und manche möchten in ihm wohl den Philosophen des Tages sehen. Vielleicht, daß er in der Tat Leben der Zukunft für China in sich birgt, vielleicht, daß demnächst einmal ein heute noch ungeborner Philosoph, auf seinen Schultern stehend, eine neue Flagge zu entfalten vermag.


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