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11. Yin Wên tse, Hui tse und andere (»Sophisten«)

An die Seite der bisher behandelten großen Persönlichkeiten gehören nun schließlich noch einige Denker von engerem Sehbereich, welche sich in gewisse Einzeluntersuchungen vertieften. Wenn sie auch immer mehr im Hintergrunde gestanden haben und sicherlich keinen Platz unter den führenden Gestalten beanspruchen können, so darf man sie doch ja nicht übersehen; denn grade in der Beschränktheit ihrer Fragen offenbart sich ein hartnäckiges echt philosophisches Streben, das an einem bestimmten Punkte bewußt und energisch einsetzt, um Klarheit zu schaffen, und das der Ausgangspunkt für reifere Denkentwicklung hätte werden können, wenn sich eben systematische Fortsetzer gefunden hätten. Die chinesischen Darstellungen nennen diese Leute Pien schï, d. h. Erörterer, Debattierer; man übersetzt den Ausdruck oft mit » Sophisten«, wie denn eine gewisse Aehnlichkeit mit den griechischen Sophisten tatsächlich vorliegt. Wir hörten schon oben (vgl. S. 42), daß man seit den frühesten uns bekannten Zeiten eine Art philosophischer Klopffechter kannte, pfiffige Köpfe, die sich mit allerlei Fragen zu schaffen machten und in einer dialektisch noch ungebildeten Zeit und Umgebung durch überlegenen Scharfsinn Aufsehn erregten mit der frappierenden Behandlung dieser und jener Fragen. In diesem Milieu ist aber doch auch einiges Bemerkenswerte hervorgesproßt, ihm entsprangen die hier zu nennenden Gestalten.

Einer unter ihnen ist Yin Wên tse. Seine Lebenszeit fällt in die zweite Hälfte des vierten Jahrhunderts v. Chr., übrigens wissen wir kaum mehr von ihm, als daß er, wenigstens zeitweilig, dem Reiche Tch'i angehörte. Der Gegenstand, welchem er vor allem seine Beachtung zuwandte, war die Beziehung zwischen Wort und Sache (Namen und Objekten, Ming und Schï). Wir erinnern uns von früher her, daß schon Têng Hsi (S. 50) und Konfuzius (S. 83) betonten, es sei eine der Grundlagen eines ersprießlichen Gemeinwesens, daß die Bezeichnungen den Dingen entsprechen müßten. Ein Rest des mythischen Denkens mag sich dort mit rationaler Ueberlegung gemischt haben, nämlich die primitive Wertung des Namens als einer realen Qualität der Sache mit der logischen Erwägung, daß durch unklare Benennungen der Verhüllung und Irreführung Vorschub geleistet werde. Yin Wên tse nun nimmt die Frage der rechten Benennung im Sinne einer rein rationalen Urteilsweise wieder auf und verfolgt sie gründlicher. Er sieht in dem Namen das Mittel, die Dinge und Handlungen zu bestimmen und gegeneinander abzugrenzen. Geht man damit genau und vorsichtig zu Werke, so werden die Namen feste Markierungen der Dinge, Markierungen der objektiven Welt, deren objektive Verschiedenheit in den Namen zum Vorschein kommt. Die große Aufgabe des » Tschêng ming«, der »Regulierung der Bezeichnungen«, liegt also zunächst in einer klaren Unterscheidung der objektiven Verschiedenheiten der Welt. Das Wort bietet an sich ein Mittel genauer und deutlicher Abbildung der Wirklichkeit [R300]. Aber die rechte Ausnutzung dieser Funktion des Wortes wird nun leider sehr behindert durch die subjektiven Regungen und Wünsche des Menschen, indem diese einerseits die objektiven Bezeichnungen nach ihrer Auffassung ausnutzen und damit verwirren, andrerseits die objektiven Bezeichnungen absichtlich falsch gebrauchen. Ist soweit auch der Mißbrauch der Namen selbst bei größter Bemühung um die »Regulierung der Bezeichnungen« im allgemeinen nicht zu vermeiden, so gibt es doch ein Gebiet, wo genaue Bezeichnung und klare Abgrenzung und Beziehung der Bezeichnungen aufeinander besonders wichtig ist und angestrebt werden muß. Das ist das Gebiet der gesetzlichen (normierenden) Bestimmungen, also das Rechtsgebiet. Yin Wên tse wird auf diese Weise durch die Untersuchung der Bezeichnungen zur Prüfung des Gesetzwesens geführt. Die Gesetze als die Normierungen des menschlichen Handelns müssen ihre Einzelbenennungen mit größter Sorgfalt ausbilden, um genau das zu treffen, was getroffen werden soll, und um weiter die Beziehungen der Begriffe untereinander richtig zu fixieren. Hierbei wird dem Yin Wên tse klar, daß die Vielheit der gesetzlichen Einzelheiten auf einer grundlegenden Einheit beruhen muß, von der das Einzelne, die Vielheit, abzuleiten ist: das Einfache ist die Quelle des Mannigfaltigen: man muß, wie wir heute sagen, von Prinzipien ausgehen und sie auf die Fülle des Lebens anwenden lernen. So »kontrolliert man das Komplizierte durch das Einfache und regiert das Schwierige durch das Leichte«, Es ist der Blick für das Organische in den Begriffen eines bestimmten Gebietes, der dem Yin Wên tse aufging. Zugleich wird ihm so die Autorität des Gesetzes etwas Sachliches, und das Persönlich-Willkürliche des despotischen Regiments fällt hin.

In einer andern Richtung arbeitete sich aus dem »Sophismus« neue Einheit heraus durch Hui Schï (Hui tse). Er war ein Zeitgenosse des Yin Wên tse wie auch des Tschuang tse, nämlich ein Mann der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts v. Chr. Am Hofe des Königs Hui von Liang (früher Wei), dessen Hauptstadt Ta Liang, das heutige Honan fu, war, hatte er als Minister einen einflußreichen Posten inne und soll an den endlosen Kriegen dieses Fürsten wesentliche Schuld getragen haben. Auch plante er eine ganz neue Gesetzgebung im Staate Liang, von deren Durchführung aber sein König schließlich auf den dringlichen Rat eines andern Ministers doch Abstand nahm. Er starb gegen 330 v. Chr. Bei seinem Tode äußerte Tschuang tse, daß er mit dem Verluste dieses Mannes sein »Material« verloren habe, d. h. den Stoff und Anlaß zu fruchtbaren Diskussionen. Denn Tschuang tse, obwohl von anderer Geistesart und Denkrichtung, hatte ihn als einen scharfsinnigen Gegner, mit dem sich zu reden lohnte, hochgeschätzt. Wenn die Ueberlieferung berichtet, Hui tses Werke seien so zahlreich gewesen, daß man fünf Lastkarren damit habe beladen können (wobei zu bedenken ist, daß das Material, auf welchem man damals schrieb, aus Holzplatten bestand, also recht schwer war), so soll damit wohl nur die große Produktivität seines Geistes angedeutet werden, ohne daß man die Veranschaulichung wörtlich zu nehmen braucht. Ein Autor in unserm Sinne wird er wohl so wenig wie seine philosophischen Zeitgenossen und Vorgänger gewesen sein. Was von seinen Worten aufgezeichnet war, mag auf Schüler und Anhänger zurückgehen. Schon in der Han-Dynastie war so gut wie nichts mehr davon vorhanden. Unsere heutige Kenntnis beruht auf dem, was sich bei Tschuang tse und Hsün tse von ihm erhalten hat, sowie auf den Notizen des Lü schï tsch'un tch'iû über ihn [R301].

Die Ansichten des Hui tse haben sich in allerlei paradoxe Aeußerungen gekleidet, die den meisten unverständlich blieben und ihn in den Ruf eines Spiegelfechters brachten. Indes scheint es, daß sich ein wirklicher Tiefblick und Scharfsinn darin Luft machte. Denn Forke hat nachgewiesen, daß jene Paradoxa nur des rechten Schlüssels bedürfen, um einen guten Sinn zu geben [R302]. Diesen Schlüssel erhalten wir, wenn wir ausgehen von dem Satze, der bei Tschuang tse an der Spitze der Zitate aus Hui steht: »Das unendlich Große, über das nichts hinausreicht, nenne ich die große Einheit; das unendlich Kleine, in dem weiter nichts enthalten ist, nenne ich die kleine Einheit.« Hui tse stellt damit zwei entgegengesetzte Pole des Weltalls auf, das Unendliche nach Seiten der Größe und nach Seiten der Kleinheit. Zwischen beiden besteht nun aber für sein Denken ein Widerspruch, eine unausfüllbare Kluft. Er formuliert das so: »Was keine Ausdehnung hat (das unendlich Kleine), kann auch nicht angehäuft werden, und doch dehnt es sich tausend Li weit aus«, d. h. die vor unsern Augen liegende gewaltig ausgedehnte Welt kann für unser Denken nicht aus Anhäufung des unendlich Kleinen konstruiert werden. Er bemerkt also jenes Problem, das ja auch für unser heutiges Denken noch vorhanden ist: der Begriff muß bei immer fortschreitender Zerlegung des Materiellen schließlich ein Ende finden in letzten allerkleinsten, daher unteilbaren Einheiten (dem mathematischen Punkte); aber es ist dann nicht zu begreifen, wie aus solchen kleinsten, unteilbaren Einheiten die kompakte Materie in ihrer Unermeßlichkeit von Ausdehnung sich bilden kann. Denn nicht ausgedehnte (nicht mehr teilbare) Einheiten können sich nicht zu ausgedehnten Größen zusammensetzen. Hui tse folgerte aus dieser problematischen Lage, daß der Raum und die Ausdehnung der Dinge, somit das empirische Weltbild, unwirklich, illusionär sei. Ueber die Zeit urteilte er ebenso wie über den Raum: auch sie ist illusionär. Es ist bekannt, daß die eleatische Philosophie der altgriechischen Zeit, insbesondere Parmenides und Zenon, zu ähnlichen Resultaten gelangten und auf Grund dessen eine Reihe von Paradoxen formulierten, die den Widerspruch zwischen der realen Welt und dem unendlich Kleinen illustrieren sollten, wie das Paradoxon über Achilles und die Schildkröte. Interessant ist nun, daß Hui tse in seinem Denken auf ganz ähnliche Wege gerät und das Rätsel des Daseins auch in allerlei Paradoxen darzustellen sucht, die seine Zeitgenossen und Nachfolger nicht begriffen und für leeres Gerede hielten. So sagte er: »Wenn man einen Stock von einem Fuß Länge nimmt und täglich die Hälfte abschneidet, so wird man nach 10 000 Generationen noch nicht damit zu Ende gekommen sein.« Er meinte natürlich, daß die Teilung eines materiellen Gegenstandes endlos fortgesetzt werden kann. Etwas Aehnliches liegt seinem Ausspruch zugrunde: »Die Räder eines Karrens durchfurchen den Boden nicht«; oder »der Finger berührt den angefaßten Gegenstand nicht«. Hierbei war des Philosophen Gedanke wohl, daß, so eng und nah auch scheinbar zwei materielle Größen aneinander rücken, doch, wenn man ins unendlich Kleine geht, immer noch unendlich kleine Abstände zwischen ihnen bleiben, die eine unmittelbare Berührung verhindern. Eine große Anzahl ähnlicher Paradoxa sind von Hui tse erhalten, welche zeigen, daß ihm auf Grund der Antinomie des unendlich Kleinen und unendlich Großen die Begriffe Raum und Zeit zu Illusionen menschlicher Subjektivität geworden waren und die an Raum und Zeit gebundenen Aussagen ihm letzten Grundes unhaltbar, imaginär erschienen. Ich will einige dieser Paradoxa anführen:

Ein dahinsausender Pfeil ist weder in Bewegung noch in Ruhe.

Die Sonne geht unter, wenn sie im Zenith steht.

Die Lebewesen sterben, wenn sie geboren werden.

Wenn jemand heute nach Yüeh geht, so kam er schon gestern dort an.

Ein Gebirge erhebt sich nicht höher als ein See.

Das Zentrum der Welt liegt nördlich von Yen (heutiges Chihli) und südlich von Yüeh (heutiges Fukien).

Eine Schildkröte ist länger als eine Schlange.

Im Ei sind Federn (nämlich die Federn des jungen Huhns, die schon jetzt da sind, da sie kommen werden und der Zeitabstand illusorisch ist).

Ein Pferdefüllen, dessen Mutter tot ist, hat keine Mutter gehabt (da die Vergangenheit der Gegenwart gleich ist).

Ein Viereck ist kein Viereck und ein Kreis darf nicht als rund gelten.

Ein weißer Hund ist schwarz.

Bei den zwei letzten Paradoxa kann man zweifeln, ob die Pointe ist, daß alle unsre Wahrnehmungen subjektiv sind und deshalb genau genommen ungültig, oder ob sie auf jene Achtsamkeit gegen das unendlich Kleine hinauslaufen, indem kein Viereck, ins Kleinste gesehen, ein Viereck ist, kein Kreis absolut rund, kein weißer Hund ohne vielerlei Schwarz am Körper. Vielleicht war beides dabei kombiniert. Auf die Spitze trieb Hui tse diese paradoxen Behauptungen in folgenden Aussprüchen: Ein Hund kann ebensogut als ein Schaf betrachtet werden. Ein Pferd legt Eier. Berge können sprechen. Eine Dogge ist kein Hund. Es scheint, daß Hui tse infolge seines Illusionismus zu der Auffassung gekommen ist, daß die Welt und mit ihr die Menschheit, obwohl für den Anschein unsrer Beobachtung eine Vielheit von Einzelnem, im letzten Grunde eine Einheit sei, ein großes Zusammen, und daß er auf Grund dessen die Liebe aller gegen alle lehrte. Denn es wird als ein interessanter Lehrsatz von ihm überliefert: »Wir müssen alle Wesen gleichermaßen lieben, denn Himmel und Erde (das Weltall) bilden eine Einheit.«

Im Buche des Tschuang tse begegnet uns Hui tse häufig [R303] als Kontroversist gegenüber Tschuang tse, doch ist seine Eigenart dabei vielfach frei verzeichnet, wie es dort durchweg mit den eingeführten Figuren geschieht. Immerhin tritt seine grübelnd paradoxe Denkweise selbst in der Verzeichnung hervor. Gelegentlich wird erzählt, daß Tschuang mit Hui am Ufer eines Flusses spazieren ging und der erstere, hinweisend auf die im Wasser spielenden Forellen, von der Freude der Fische redete. Hui tse erwiderte: »Du bist kein Fisch, wie willst du dann die Freude der Fische kennen?« Dem setzt Tschuang tse entgegen: »Da du nicht ich bist, wie willst du wissen, daß ich sie nicht kenne?« Mit geschickter Verteidigung sagt Hui tse: »Wenn ich, da ich nicht du bin, dein Inneres nicht kennen kann (wie du selbst behauptest), so folgt daraus, daß du, da du kein Fisch bist, auch nicht wissen kannst, woran Fische sich freuen.« An einer andern Stelle (Ende von Buch 5) verweist Tschuang tse dem Hui tse, daß er seine geistige Kraft mit Spitzfindigkeiten erschöpfe, die in den Aeußerlichkeiten und Einzelheiten der Erscheinungen stecken bleiben, daß er z. B. über »hart und weiß« grüble. Dies bezieht sich darauf, daß Hui tse (wie später Kung sun Lung) die Frage eingehend verfolgte, wie sich die Eigenschaften eines Dinges (z. B. Härte und weiße Farbe) zu dem Dinge selbst verhielten, ob sie zu dem Gegenstande oder zum Beobachter gehörten. Man sieht auch darin den scharf bohrenden Analytiker. Daß Tschuang tse den Tod des Hui tse als einen schweren Verlust für sich selbst empfand, wurde schon oben berichtet.

Schließlich sei hier noch zweier Männer dieser Zeit Erwähnung getan, die ihre philosophische Anlage ganz speziell dem politischen Leben und der Staatsleitung zuwandten und dabei eine eigenartige Figur machten, nämlich Wang Hsü und Wei Yang [R304].

Wang Hsü, bekannter mit seinem Beinamen Kuei ku tse, »der Meister des Dämonentales«, benutzt taoistische Grundgedanken, um dadurch eine Lehre der Staatskunst auszubilden, die alle ethischen Bindungen verwirft und das politische Handeln vollkommen der Willkür der Fürsten und seiner Minister ausliefert. Er faßt das Tao als etwas rein Naturhaftes, ethisch vollkommen indifferent. Es wirkt im Spiel der Kräfte Yang und Yin, die als reine Naturkräfte im Dasein hervortreten und im Wechsel ihres Ueberwiegens den Gang des Werdens bald so, bald so bestimmen. Das Leben ist ein beständiger Wechsel jener zwei Grundmächte und der von ihnen abhängigen Einzelerscheinungen, ohne daß irgendeine höhere Idee, ein sittliches Wollen oder dergleichen dabei in Frage käme. Rein beliebig, kann man sagen, tritt die Umschaltung der Kräfte und Einflüsse im Dasein auf. Dem entsprechend möge dann auch das politische Handeln erfolgen. Der Fürst – seinerseits eine Art Weltkraft wie Yang und Yin – verfahre frei nach seiner Willkür in allem, was seinem Tatbereich, seiner Entscheidung angehört. Er halte sich also vor allem nie gebunden durch Vorhergegangenes, etwa durch ein gegebenes Wort, durch ein eingegangenes Bündnis, durch Verpflichtung seiner Ehre. All das sind törichte Illusionen. Wenn die Umstände es ihm vorteilhaft erscheinen lassen, so tue er, was ihm beliebt, ohne sich vor einem Widerspruch, einem Treubruch zu scheuen. Wandel ist das Wesen des Verlaufs der Dinge; Wandel in jeder Weise und zu aller Zeit ist auch das Recht des Fürsten. Das gleiche Recht, nach Opportunität zu handeln, kommt natürlich auch den Dienern des Fürsten, den Staatsmännern zu. Sie sollen genau und scharfsichtig alle Faktoren im eigenen Staat und den Nachbarstaaten beobachten und studieren, um darauf ihre Berechnungen des für den Fürsten Vorteilhaften zu gründen. Sie sollen ihn zu rücksichtslosem Handeln überreden, indem sie ihn auf den Nutzen hinweisen.

Solch oberflächlicher Machiavellismus kennzeichnet die Verkommenheit des damaligen politischen Räuberwesens. Er mag manchem Machthaber jener Zeit willkommen gewesen sein als theoretische Bestätigung seiner Gelüste. Noch bei Wang Tsch'ung (im ersten Jahrhundert n. Chr.) finden wir einen Nachklang dieser taoistischen Verherrlichung der Perfidie [R305].

Eine andere Tendenz verfolgte Wei Yang (sein richtiger Name war Kung sun Yang, doch ist er als Wei Yang, »Yang aus [dem Staate] Wei« bekannter). Zwar beginnt auch seine Staatslehre mit Negation und Auflösung. Er verwirft nämlich jene bei den älteren Philosophen so oft betonte Meinung von der wie automatisch wirkenden Macht des Guten, speziell des guten Einflusses edler Herrscher auf das Volk, eine Meinung, die, wie wir sahen, letzthin in Vorstellungen des mythischen Denkens wurzelte. Kühl rationalistisch tritt Wei Yang dem entgegen: Güte und Gerechtigkeit sind Eigenschaften gewisser Naturen, teilen sich aber von ihnen aus ganz und gar nicht an andre ohne weiteres mit. Es ist eine törichte Träumerei, dies zu erwarten. Daher kommt es nicht wesentlich darauf an, daß der Fürst selbst eine edle und rechtliche Natur besitze oder daß er solche Naturen zu seinen Beamten wähle. Was ist denn das Wichtige und Bestimmende? Hier nehmen Wei Yangs Gedanken eine eigene positive Wendung, die in gewissem Grade an Yin Wên tse erinnert. Er legt alles Gewicht auf das Gesetz als die alle leitende objektive Macht. Damit das Gesetz eine solche Macht werde, muß es zuerst klar und deutlich sein, so daß jeder weiß, was es verlangt, daß auch kein schlechter Beamter seinen Inhalt verdrehen und verhüllen kann; es muß ferner keine Ausnahmen zulassen und auf alle Staatsangehörige, Hohe und Geringe, in ganz gleicher Weise angewendet, es muß auch in striktester, wenn nötig in härtester Weise vollzogen, und diese Ausführung des Gesetzes selbst muß wiederum mit der unerbittlichsten Strenge, unter Androhung des Todes bei Vernachlässigung, überwacht werden. Durch solch ein Gesetz und seine Handhabung wird das Volk wirklich geeinigt und zum rechten Wachstum gebracht. Es ist klar, daß bei solcher Grundforderung das Staats- und Volksleben etwas von drakonischem Charakter bekommen mußte. So will es auch Wei Yang. Die Volksmenge soll arbeiten, produzieren und sich nähren, überall von den festen Barrikaden der gesetzlichen Bestimmungen eingeschlossen, ohne Macht, sich über den hergebrachten Stand und Beruf zu erheben. Das Ideal des Tao tê tching scheint hier nachzuwirken: Bildung, Lernen, Vorwärtsstreben ist Verfall, primitive Einfachheit muß das Gepräge der Volksgemeinschaft sein. Nur darin weicht Wei Yang nun wieder von Lao tses Bahn völlig ab, daß er dem Heereswesen große Wichtigkeit beilegt. Der Staat bedarf einer starken Armee, weshalb jeder Bürger sein ganzes Leben hindurch militärpflichtig ist. Im Heere herrscht die strengste Disziplin. Das Heer und der Krieg bilden auch den Boden, aus dem die Führer des Volks, die Uebergeordneten hervorgehen: wer sich kriegerisch auszeichnet, wird in die Aristokratie erhoben. Geburtsaristokratie dagegen gibt es nicht. Auch eine genaue Statistik und Registrierung des Volkes nahm Wei Yang in seine Maßregeln auf. Geburten und Todesfälle mußten angezeigt und verzeichnet werden, die Zahl der Bevölkerung wurde durch regelmäßig geführte Listen bekanntgehalten.

Dem Volke Glauben an die unbedingte Autorität des Gesetzes einzuflößen, war natürlich eine der wichtigsten Aufgaben. Wei Yang soll dafür unter andern ein sonderbares Mittel angewendet haben. An einem Pfosten des Südtores der Stadt ließ er einen Erlaß anschlagen, daß derjenige, welcher jenen Pfosten von seiner Stelle nach dem Nordtore bringe, dafür zehn Liang (Pfund) Silber bekommen werde. Alles staunte, lachte, fand die Sache verdächtig, und niemand wagte sich heran. Da erhöhte Wei Yang die Belohnung auf fünfzig Pfund Silber. Zuletzt entschloß sich jemand, den Pfosten zu versetzen, und wirklich, – er bekam sein Silber, ohne daß ihm weiter ein Leid widerfuhr. Dies wurde dem Volke als Beleg dafür gedeutet, daß alles, was gesetzlich veröffentlicht werde, heilig sei und strikt so ausgeführt werden müsse. Auch die Unparteilichkeit des Gesetzes demonstrierte Wei Yang der Oeffentlichkeit vor, indem er, als der Kronprinz die Gesetze voll Uebermut absichtlich verletzte, zwar nicht diesen selbst (da er die Erbfolge des Thrones sichere und deshalb um des Volkes willen zu erhalten sei), wohl aber seine beiden Erzieher, die an der Missetat schuldig seien, mit dem Tode bestrafen ließ.

Durch sein neues System veranlaßte Wei Yang angeblich im Lande Tch'in (denn dort, nicht in seiner Heimat Wei, wirkte er als Reformer) eine gewaltige Umgestaltung der Dinge. Vielerlei Neuerungen der Lebensweise und der Verwaltung werden ihm zugeschrieben, so die Beseitigung des alten Wohnsystems, wonach die Familien in Gruppen von je acht beieinander wohnten rings um ein zentrales neuntes Grundstück, das sie gemeinsam für die Krone bearbeiteten. Statt dessen siedelte Wei Yang die Familien einzeln an und erhob von ihnen Abgaben. Auch das Maß- und Gewichtsystem veränderte er. Die Wirkung seiner Reformen war eine auffallende innere und äußere Stärkung des Staates Tch'in, so daß man zuletzt wagen konnte, über den größeren Staat Wei, die Heimat des Wei Yang, mit Heeresmacht herzufallen und ihm nach einem durch Verrat gewonnenen Siege ein großes Gebietstück zu entreißen. Damals stand Wei Yang auf dem Gipfel seiner Macht; ein Teil des eroberten Landes wurde ihm als dem »Edlen von Schang« ( Schang tchün) zu Lehen gegeben. Doch folgte sein Sturz, als der bisherige Landesherr (338 v. Chr.) starb und jener Prinz den Thron bestieg, den Wei Yang durch Hinrichtung seiner Erzieher so schwer beleidigt hatte. Dieser nahm nun seine Rache. Nach kurzem Widerstande wurde Wei Yang überwältigt und grausam zu Tode gebracht [R306].

So traten bis tief in das vierte Jahrhundert v. Chr. hinein allerlei Männer mit den verschiedensten Gedanken über Leben und Menschenlos in China auf den Plan, gelegentlich auch praktisch für ihre Ideale tätig, und zogen jeder mehr oder weniger unabhängig von dem andern ihre Bahnen. Die bedeutenderen Geister unter ihnen, wie Konfuzius, Mê Ti, Tschuang tse, sammelten wohl eine größere Schule um sich, die des Meisters Gedanken weiter durch die Zeiten trug. Von einem organischen Weiterwachsen des Philosophierens im ganzen aber kann in diesem Zeiträume noch nicht viel die Rede sein, da man über die Schulgrenzen hinaus nicht voneinander zu lernen suchte, ja überhaupt den Gedanken eines systematischen, konsequenten Aufbaus der Philosophie von fester einheitlicher Grundlage her noch nicht kannte. Strenge Methode des Denkens und zusammenhängende Untersuchung herrscht noch nicht.

In der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts tritt nun aber ein Mann auf, durch den – nicht sofort, jedoch allmählich – ein anderer Charakter über die chinesische Philosophie kommt. Sie wird einheitlicher, sie wird geschlossener, sie bekommt etwas von einem System. Aber freilich – auf Kosten des Lebens. Es entsteht eine Festigung, die zugleich Einseitigkeit und Erstarrung bedeutet. Wertvolle und fruchtbare Gedanken der älteren Zeit werden beiseite gesetzt und verkümmern, während eine einzige Gedankenlinie voll ausgezogen und zur ausschließlichen Geltung gebracht wird. Der Mann, welcher zu dieser Wendung am meisten beigetragen hat, war des Konfuzius größter Schüler, Menzius. Er ist es aber nicht allein gewesen, dem dieser Gang der Dinge zuzuschreiben ist; es war zugleich das Schicksal des chinesischen Geisteslebens, das sich darin erfüllte. Denn während die zwei bis drei Jahrhunderte von Têng Hsi und Lao tse bis auf Tschuang tse und seine Zeitgenossen offenbar reich waren an fruchtbaren Denkern, die ein starker Trieb in die philosophische Arena hineindrängte, läßt mit Menzius und der Folgezeit diese Begabung sichtbar nach. Als habe man sich erschöpft, zehrt man meist nur noch vom Gute der Früheren, und wo neue Ansätze sich zeigen, steht keine tiefdringende Kraft mehr dahinter, sie durchzuführen. Das ist der Zeitraum, in den wir nun eintreten. Da er sich seinem Ende zuneigt, scheint das Feuer des philosophischen Denkens in China ausgebrannt zu sein; ängstlich hütet man die wenigen Funken, die unter der Asche noch eben glühen.


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