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6. Die Schulen des Mê Ti

Die Lehre des Mê Ti fand, wie wir oben (S. 122) sahen, bei ihrem Aufkommen einen sehr fruchtbaren Boden in China. Aber ihre Blüte ist doch auf einige Jahrhunderte beschränkt. In der Epoche, die uns jetzt beschäftigt, stirbt sie langsam dahin, indes nicht, ohne vorher noch einige Umwandlungen erlebt und neue Gedankenrichtungen eingeschlagen zu haben, die verdienen, beachtet zu werden [R386].

Einige Zeit nach Mê Tis Tode zerfallen seine Anhänger in drei Richtungen, an deren Spitze uns (um das Jahr 300 v. Chr.) drei Schulhäupter genannt werden, Hsiang Li, Hsiang Fu und Têng Ling. Die dritte dieser Schulen wird auch die »Schule des Südens« genannt, so daß die Trennung teilweise geographisch bestimmt gewesen zu sein scheint. In allen drei Schulen wurde die Lehre des Meisters offenbar lebendig studiert und auch weiter entwickelt. Eine Reihe von Namen bedeutender Jünger werden uns überliefert, darunter manche Verfasser selbständiger Schriften, welch letztere freilich bis auf geringe Bruchstücke verloren sind. Aber erhalten sind uns aus den Kreisen der Schüler doch allerlei Ausführungen, welche sich dem Text von Mê Tis eigenen Lehren so eng angeschlossen haben, daß sie als Stücke seines Werkes Bestand behielten, die erst neuere Kritik wieder von ihm losgelöst hat. So haben moderne Forscher nachgewiesen, daß die Kapitel 40-45, ferner 52-71 des Werkes nicht von dem Meister selbst, sondern aus seinem früheren und späteren Jüngerkreise herrühren. In diesen Darlegungen bemerken wir gewisse Abweichungen vom Standpunkte Mê Tis und sehen, daß sich um einige seiner Positionen selbst im Kreise seiner Anhänger Streit erhoben hat.

Man ist z. B. uneinig darüber, wieweit die allgemeine Liebe, die zentrale Forderung des Mê Ti, auszudehnen sei. Viele übersteigern jetzt diese Forderung: die Liebe soll alle Menschen gleichmäßig und in demselben Grade umfassen, weder im Objekte noch in der Stärke des Affekts soll ein Unterschied herrschen. Die Eltern seiner Nächsten muß man wie seine eigenen lieben. Die Liebe ist allen gegenüber von gleicher Art und duldet keine Abschwächung und kein Aufhören. Damit ging man über den Standpunkt des Meisters hinaus, der wohl alle geliebt wissen wollte, aber doch in Gradunterschieden, die durch die natürlichen Beziehungen gesetzt waren. Die späteren Extremisten geraten mit ihren Behauptungen auch offenbar in Schwierigkeiten. Man fragt sie, ob man auch Böse, Räuber, Verbrecher wie andre lieben müsse. Sie halten das Prinzip aufrecht, suchen die Schwierigkeit aber dadurch zu verhüllen, daß sie ihre Forderung so formulieren: obwohl man weiß, daß unter der lebenden Generation auch Räuber sind, liebt man doch diese ganze Generation. Aber dem einzelnen Uebeltäter gegenüber muß freilich auch der Mehist die Forderung der Liebe fallen lassen: den einzelnen Bösen haßt man [R387]. Liegt hier offenbar eine Ueberspannung des Prinzips vor, die wohl zu erklären ist aus einer rein theoretischen und doktrinären Auffassungsweise, so bemerken wir an einer andern Stelle ein Erschlaffen des ursprünglichen Strebens. Denn während Mê Ti mit seinen älteren Anhängern als Ideal hingestellt hatte, daß der Weise imstande sein solle, sich selbst in der Liebe zu andern aufzuopfern und seine Interessen zu vernachlässigen, beginnt man allmählich viel davon abzuziehen und statt dessen einen »gesunden Egoismus« einzustellen, indem als berechtigt betont wird, daß man sich persönlich vor Schaden bewahre und auch den eigenen Vorteil nicht aus den Augen verliere. Man kann nicht umhin, zu lächeln bei folgender Argumentation: »Die Liebe zu den Menschen schließt die eigene Person nicht aus, denn diese ist unter denen, die geliebt werden müssen, und da dies der Fall ist, erstreckt sich die Liebe auch auf die eigene Person. Die gewöhnlich sogenannte Eigenliebe ist Liebe zu den Menschen« [R388]. Eine ähnliche Erweichung der ursprünglichen Maßstäbe liegt darin, wenn die späteren Mehisten bei Erörterung des Schicklichen (Li) nicht verlangen, daß man alle, Geringe wie Vornehme, höflich und achtungsvoll behandle, sondern dies bloß den Vornehmen gegenüber für Pflicht ansehen, dagegen verächtliches Benehmen gegen Arme und Niedrige für erlaubt halten. Die »Klassenunterschiede« werden als Tatsache in Rechnung gestellt [R389].

Wenn die späteren Mehisten derart von den Bahnen ihres großen Lehrers abweichen, so bewegen sie sich andrerseits auch auf ganz neuem Gebiete, und vielleicht liegt darin das Bemerkenswerte ihrer Entwicklung. Ihre Neigung geht nämlich stark nach der Seite der »Sophistik« und der von Sophisten behandelten Fragen. Auch sie beginnen dem Vorgang des Denkens und den Normen des richtigen Denkens und Urteilens nachzusinnen. Sie erweisen sich darin als eine Parallele zu den Sophisten und scheinen ein Beleg dafür, daß in den letzten Jahrhunderten v. Chr. in China eine lebhaftere Tendenz auf Untersuchungen logischer Art allgemein erwachte, freilich ohne daß man zu wirklicher Logik als Wissenschaft gelangte; denn auch die Mehisten erreichten das nicht. Vielleicht war es der mannigfache Streit der vielen Schulrichtungen, der auf allen Seiten das Bedürfnis nach geschickter Handhabung der geistigen Waffen erwachen ließ und zur Untersuchung der Denkgesetze drängte.

Jedenfalls ist es eine Tatsache, daß die Mehisten sich besonders lebhaft mit den Methoden des rechten Denkens und Erörterns abgegeben haben. Die Kapitel 40-45 des Mê Ti (so nach der ursprünglichen Zählung, die Forke beibehält, während Hu Shih sie als 32-37 zählt, indem er die heute verlorenen Kapitel ganz beiseite läßt), beschäftigen sich mit diesem Gegenstande, und wir haben hier ohne Zweifel den energischesten Vorstoß in die Probleme der Denkwissenschaft unsrer Logik und Dialektik, vor uns, den der chinesische Geist jemals gemacht hat. Wenn vieles für unser Urteil noch sehr unvollkommen und ungeschickt aussieht, so muß dabei wieder der besonderen Eigentümlichkeit der chinesischen Sprache einige Schuld zugeschoben werden. In dem Schlußabschnitt des 45. Kapitels erwähnt der Verfasser selbst Schwierigkeiten der Ausdrucksweise und Argumentation, die nur der Eigenart der chinesischen Sprache zur Last fallen [R390].

Wir wollen hier kurz einen Eindruck davon geben, worauf diese Untersuchungen der Mehisten gerichtet sind.

Die ersten beiden der genannten sechs Kapitel tragen die Ehrenbezeichnung » Tching«, »heilige Schrift, kanonisches Buch«, die ihnen wohl wegen der Rätselhaftigkeit und Wichtigkeit des Inhalts beigelegt ist. In der Tat stehen wir hier vor allerlei recht dunklen kurzen Aussprüchen, über deren Sinn die Ausleger häufig sehr verschiedener Meinung sind. Viele enthalten Definitionen. So gleich der erste Satz: »Ursache ist, was vorhanden sein muß, damit etwas zustande kommt.« Andere lauten: »Eben bedeutet gleich hoch«; »Wissen ist Verknüpfen« (d. h. es besteht in gedanklicher Verbindung verschiedener Gegenstände); »Rechtlichkeit ist Förderung«. In diesen Fällen sind die Definitionen dem logischen oder ethischen Gebiete entnommen; in anderen gehören sie dem Gebiete der Physik oder Mathematik an, z. B.: »Der Kreis hat einen Mittelpunkt mit gleichen Entfernungen«; »Die Spitze ist dasjenige am Körper, welches keine Fortsetzung hat und das vorderste«. Nicht selten ist der Ausdruck jedoch so unklar, daß man ratlos vor dem Satze steht. So heißt es: »Der Zwischenraum erreicht die Seiten nicht«; »Das Verleiten zum Handeln schafft Unzufriedenheit«. Dann wieder sind die Bemerkungen völlig selbstverständlich: »Das Gehör ist die besondere Fähigkeit des Ohres«; »Bestreiten heißt, etwas bekämpfen.« Bisweilen haben wir auch überhaupt keine Definition vor uns, sondern nur die Feststellung irgendeines Sachverhalts wie: »Die Sonne kulminiert genau im Süden«; »Verdienstvolle Taten nützen dem Volke«; »Die Namen Fürst und Untertan stehen in gegenseitiger Verbundenheit«. – Das erste Kapitel enthält 101 solcher Sätze, das zweite 81. Der Inhalt des zweiten ist noch dunkler als der des ersten, obwohl jedem Satze eine Hindeutung auf die Erklärung beigefügt ist, die uns aber in ihrer Kürze nichts mehr sagt. Sie wird die Handhabe für eine mündliche Kommentierung gewesen sein [R391]. So lesen wir: »Derjenige, welcher auch für sein Nichtstun sein Handeln als Norm benutzt, ist der Mensch. Erklärt durch: gleich«. Oder: »Wenn man etwas abtrennt, so wird es dadurch nicht weniger. Erklärt durch: ursprünglicher Zustand«. Definitionen bilden hier viel weniger den Inhalt der Sätze, dagegen manchmal Behauptungen paradoxer Art, wie sie den Sophisten eigen waren.

Den zwei »Tching«, den ersten beiden Kapiteln, sind zwei weitere angefügt, die dem Inhalte der Tching erläuternd nachgehen (wobei einiges überschlagen wird). »Leider«, sagt A. Forke von ihnen, »sind diese Erklärungen nicht derart, daß sie sehr viel zum Verständnis beitrügen. Sie teilen den Mangel vieler chinesischer Kommentare, daß sie oft unverständlicher sind als der Haupttext und, statt ihn aufzuhellen, ihn vielfach verdunkeln.«

Es folgen dann noch zwei Kapitel (5 und 6) mit selbständigem Inhalt, wieder zunächst lauter kürzere oder längere Einzelbehauptungen aus den verschiedensten Gebieten, zuweilen mehrere von ihnen durch einen gleichen Gegenstand zusammengehalten, z. B.: »Der Weise haßt Krankheiten, haßt aber nicht Gefahren. Der Weise gehört nicht zu den Tugendhaften, weil seine Frau ihn dafür hält. Der Weise braucht nicht seinem Sohne zu dienen.« Im Abschlusse (dem 6. Kapitel) wird die Darstellung zusammenhängender. Im Auge hat der Verfasser dieselben Fragen wie früher, die richtige Bestimmung von allerlei in Diskussionen gebrauchten Begriffen, aber sie werden hier deutlicher und eingehender behandelt. Vorangestellt wird die Aufgabe des Dialektikers, der zwischen wahr und falsch zu unterscheiden, das Verhältnis der Worte zur Wirklichkeit zu bestimmen, über Vorteil und Nachteil zu entscheiden habe, das Wesen der Dinge erforsche u. ä. Dann folgt die Darlegung bestimmter Begriffe und die Umgrenzung gewisser technischer Ausdrücke, wie Erläuterung, Gleichsetzung, Folgerung, Analogieschluß. Eingehende spitzfindige, z. T. ganz verfehlte Untersuchungen über das Verhältnis menschlicher Meinungen zur Wirklichkeit werden daran angeknüpft. Man unterscheidet vier Fälle: 1. Die Dinge sind so und so, und werden auch dafür gehalten; 2. die Dinge sind so und so, werden aber nicht dafür gehalten; 3. eins ist vollständig, das andre nicht vollständig; 4. eins ist richtig, das andere ist nicht richtig. Für alle vier Fälle werden Beispiele angeführt, die aber teilweise von der sonderbarsten Art und Anwendung sind. Es sei hier wiedergegeben, was zur Illustrierung des dritten Falles gesagt ist: »Wenn jemand die Menschen liebt, so muß er erst alle Menschen lieben, bevor er als einer, der die Menschen liebt, gelten kann. Wenn jemand die Menschen nicht liebt, so erwartet man nicht, daß er sie alle nicht liebt; schon wenn er sie nicht alle liebt, wird er als einer, der die Menschen nicht liebt, angesehen. Wenn jemand Pferde reitet, so muß er nicht erst alle Pferde reiten, um als jemand, der reitet, zu gelten. Reitet er auf einem Pferde, so ist er deswegen jemand, der Pferde reitet. Sobald er aber nicht Pferde reitet, so erwartet man, daß er überhaupt keine Pferde reitet, und dann erst kann er als jemand, der nicht Pferde reitet, gelten«. – Hier ist in einem Falle Vollständigkeit, in einem nicht. –

Bei dem Ganzen der besprochenen sechs Kapitel muß man einen ersten Versuch anerkennen, den Denkprozeß mit allen seinen Einzelheiten genauer zu ergründen und gültige Regeln dafür aufzustellen, wobei man dann auch wichtige erkenntnistheoretische und ontologische Punkte streift. So wird der Kausalitätszusammenhang ins Auge gefaßt, die Größen Raum und Zeit werden berührt, die Fragen nach Bestehen und Vergehen, nach Realität, nach Materie und Undurchdringlichkeit, nach Wesen und Eigenschaften der Dinge werden aufgeworfen. Aber was bei alledem herauskommt, ist wenig. Ein unscharfes Denken arbeitet hier in einer unklaren Ausdrucksweise an den schwierigsten Problemen, das Streben ist bemerkenswerter als das Resultat.

Daß die Schule des Mê Ti sich weiter noch mit Aufgaben der exakten Wissenschaft näher eingelassen und in Mathematik, Mechanik, Optik und Kriegswissenschaft gearbeitet hat, darf ihr gewiß als ein Ruhmestitel dienen, doch hat es uns in diesem Zusammenhange nicht weiter zu beschäftigen [R392].


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