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9. Tschuang tse

In dem Sammelwerke Schï tse tchüen schu, einer Gesamtausgabe der taoistischen Schriftsteller, wird dem Tschuang tse als Zweitem, unmittelbar hinter dem Tao tê ching, mit dem die Sammlung natürlich beginnt, sein Platz angewiesen. Das ist keine zeitliche Ordnung, sondern die Ordnung der Wertschätzung: unter allen taoistischen Autoren soll Tschuang tse dadurch als der bedeutendste und den Ideen des Lao tse kongenialste bezeichnet werden. Und diese Charakterisierung ist richtig. In ihm arbeitet sich die Weltvorstellung des Lao tse weiter und tiefer aus, und dabei entfaltet er als Denker sowohl wie als Darsteller ungewöhnliche Fähigkeiten, an die in der ganzen Folge kaum wieder jemand heranreichte.

Tschuang tse stammte aus Mêng (in der heutigen Provinz Anhui [R274]). Sein Vorname war Tschou. Er nahm einen kleinen Beamtenposten in dem Orte Tch'i yüen ein (wonach Literaten ihn auch wohl Tch'i yüen nennen). Seine Lebenszeit fiel unter die Regierung des Fürsten Hui von Liang und des Fürsten Hsüen von Tch'i. Er besaß eine ausgebreitete Gelehrsamkeit, doch beruhte seine Geistesrichtung auf den Lehren des Lao tse. Seine Werke umfassen über 100 000 Worte und enthalten viel Symbolisches. Er griff die Anhänger des Konfuzius und des Mê Ti an und verherrlichte die Lehren des Lao tse. Den Anlockungen, ein höheres Staatsamt zu übernehmen, setzte er sarkastische Abweisung entgegen, da er seine Unabhängigkeit bewahren wollte. – Vorstehendes ist, was mit etwas mehr Worten der Historiker Szï-ma Tch'ien über unsern Philosophen zu berichten hat. Wir mögen noch hinzufügen, daß die Regierung der zwei genannten Fürsten die Zeit von 370-324 v. Chr. (oder nach der Chronologie der sog. Bambuschronik 370-315) ausfüllt. Doch scheint Tschuang tse bis in den Anfang des dritten Jahrhunderts v. Chr. gelebt zu haben. Das ist alles. Man sieht, die Auskunft, die wir abgesehen von seinem Werke über ihn besitzen, ist mager.

Das Werk des Tschuang tse nun besteht für uns heute nur noch aus 33 Kapiteln, während es zur Han-Zeit 52 umfaßt haben soll [R275]. Es ist sehr viel kommentiert worden, was sowohl auf Dunkelheit der Gedanken wie auf große Anziehungskraft schließen läßt. Der Kaiser Hsüen Tsung von der T'ang-Dynastie hat ihm (742) den Titel: Nan huâ tching, »Klassiker von Nan huâ«, verliehen, da Nan huâ (Südliches Blumenland) ein dem Heimatorte Tschuang tses beigelegter Ehrenname war; mit dem Zusatz »tschên« (»wahr«, »heilig«), den der Taoismus, bei jeder Gelegenheit verwendet, heißt es »Nan huâ tschên tching«, »heiliger Klassiker des südlichen Blumenlandes«. Ohne Zweifel enthält es viel spätere Zusätze und Erweiterungen [R276], insbesondere haben die Abschreiber allerlei Erzählungen des Lieh tse in Tschuang tses Buch aufgenommen. Dieser letztere Umstand wird daraus zu erklären sein, daß die beiden Autoren in ihrer Darstellungsweise einander sehr ähneln und Reminiszenzen wecken, indem beide ihre Gedanken gern in Geschichten einkleiden und an Geschichten anknüpfen. Doch wird man bei näherem Zusehen einen bemerkenswerten Unterschied finden: bei Lieh tse herrscht wirklich die meist sehr geschickt erzählte Anekdote mit erkennbarer Pointe, so daß eine lehrhafte Erläuterung überflüssig ist; bei Tschuang tse dagegen dient die Erzählung gewöhnlich nur zur Anknüpfung und Einleitung; sie wird bald auf ein Gespräch hinausgeführt, und das Ganze trägt dann doch viel mehr einen symbolisch-lehrhaften abstrakten Charakter. Als Erzähler steht Tschuang tse dem Lieh tse unfraglich nach. Vielleicht haben jene Ergänzer, die dem Buche des Tschuang tse eine Reihe von Anekdoten des Lieh tse, und zwar einige der feinsten, hinzufügten, diesem Buche damit für den Durchschnittsleser etwas aufhelfen wollen. – Die Einteilung, in welcher wir das Buch des Tschuang tse besitzen, scheint darauf zu deuten, daß der Philosoph selbst einen Ansatz dazu gemacht hat, seine Gedanken schriftlich darzustellen, und daß dies der Kern wurde, an den seine Schule allerlei Weiteres aus mündlicher Ueberlieferung anschloß. Denn das Buch wird in drei Teile geteilt. Der erste, Abschnitt 1-7, heißt der »innere« Teil; der zweite, Abschnitt 8-22, der »äußere«, der dritte Abschnitt 23-33, der »gemischte«. Nun tritt deutlich hervor, daß die Abschnitte 1-7 am tiefsten graben und den meisten inneren Zusammenhang zeigen, und man darf darin vielleicht eine schriftliche Gestaltung des Philosophen selbst sehen. Der zweite Teil würde dann mündliche Mitteilungen an seine Jünger aus der Tradition wiedergeben, wobei gutes und echtes Material sich mit unsicherem vermengte. Der dritte Teil wäre eine Nachlese, die an ihrem Ende völlig in fremdes Gut ausläuft. Doch mag dies Fremde sich schon sehr früh angeschlossen haben, denn zwei der Gegenstände, die in dem meistens für unecht gehaltenen Stücke (Kap. 28 [oder 29] bis 33) behandelt werden, finden wir schon von Szï-ma Tch'ien erwähnt als charakteristische Schöpfungen des Philosophen [R277]. Wenn der erste Teil den Tschuang tse selbst zum Autor hat, so würde dazu gut stimmen, daß die Titel, welche hier den einzelnen Abschnitten gegeben sind, in dem Inhalt wurzeln und durchaus zweckentsprechend gewählt sind, was für den Rest des Werkes nicht mehr zutrifft; denn da sind sie rein äußerlich dem Anfang der Abschnitte entnommen.

Verfolgen wir nun die Gedanken des Philosophen, indem wir vorwiegend den ersten Teil, bestehend aus den Abschnitten 1-7, berücksichtigen.

Die aus den sinnlichen Eindrücken hervorgehenden Vorstellungen, in denen wir für gewöhnlich wie in objektiven Wirklichkeiten leben, sind relativ und subjektiv. Was ist groß oder klein? Das kommt auf den Standpunkt und Gesichtskreis des Urteilenden an. Was ist wichtig oder unwichtig? Es bestimmt sich nach individueller Lage und Fähigkeit. Was ist lange oder kurze Zeit? Das hängt von der Dauer der schätzenden Wesen selbst ab. Was ist nützlich oder unnütz? Es fragt sich, wer darüber urteilt und was er nötig hat oder wünscht. Was ist Ehre oder Schande? Es fragt sich, wie darüber von der Umwelt oder vom eigenen Ich geurteilt wird. Sogar derselbe Mensch erlebt die stärksten Wandlungen in seinen eigenen Vorstellungen: Dinge sind ihm bis zum Weinen schrecklich, die er dann doch nachher als höchst angenehm empfindet.

Solche gewohnte Vorstellungen und Urteile, die aus des Individuums Anlage und Umständen und Gewöhnungen hervorgehen, sind also nicht als Wirklichkeit aufzufassen. Sie sind vielmehr wie eine Musik, welche das individuelle Wesen als Instrument hervorbringt, wenn auf ihm gespielt wird. Die subjektiven Vorstellungen und Urteile bilden nun, weil vom Träger und den Verhältnissen abhängig, allerlei Verschiedenheiten und laufen in zahllose Unterschiede und Gegensätze auseinander. Hängen die Menschen an diesen Vorstellungen wie an etwas Wirklichem fest, so treten sie auch selbst zueinander in feindseligen Gegensatz; ein wirrer wilder Kampf beginnt auf allen Seiten. Das ist das Bild, wie das gewöhnliche Leben es uns bietet.

Hat man aber begriffen, daß all die Gegensätzlichkeiten des Daseins, die verschiedenen vermeintlichen Objekte, die das wirre bunte Kräftespiel der Wesen veranlassen, nur Wirkungen des eigentümlichen Phänomens der Ichheit, der Individuation sind, so erscheint einem die Welt anders. Nicht mehr ist sie eine endlose Masse von Gegensätzen, von verschiedenen Einzelheiten, sondern sie wird zu einer Einheit, die nur, indem sie sich dem Ich kund tut, um des Ichs willen, in eine scheinbare Vielheit zerfallen muß.

Nun kommen wir jedoch erst an das eigentliche Rätsel. Dies Ich, diese eigentümliche Zentrale, die aus der Einheit der Welt eine Vielheit macht, was hat es damit auf sich? Der menschliche Organismus ist offenbar ein Organismus, d. h. in festen Beziehungen zusammengefügt und von einem Etwas, das wir »Seele« nennen, regiert. Aber doch, wer begreift diese Organisation? Wir begreifen sie nicht ihrem Wesen und Entstehen nach. Indes können wir sie begreifen, soweit ihre Aufgabe, ihre richtige Stellung zu den Weltvorgängen in Frage kommt.

Die Individuationen des Daseins, alle Einzelvorstellungen, sind, wie wir sahen, eine Erscheinung (ein Phänomen), jedoch nicht Wirklichkeit. Die Wirklichkeit der Welt ist eine Einheit, die uns allerdings als Scheindasein von räumlich-zeitlichen Relativitäten zum Bewußtsein kommt. In der hinter den Illusionen unserer Auffassungen liegenden Wirklichkeit sind all die Gegensätze der Welterscheinung aufgehoben, einheitlich gelöst. Zu dieser Einheit nun müssen wir hinstreben, ihr müssen wir bei uns selbst Geltung verschaffen.

Diese Einheit, in welcher die Gegensätze des phänomenalen Lebens aufgehoben sind, ist das Tao, der Urgrund des Daseins, den das Buch des Lao tse in den Mittelpunkt gestellt hat.

Man hat von verschiedenen Seiten [R278] geäußert, daß der Begriff des Tao sich bei Tschuang tse einigermaßen verändert habe gegen die Tao-Lehre des Lao tse, indem er das Tao dem Begriffe der höchsten Gottheit annähere, weshalb Giles nicht zögert, das Wort Tao in seiner Tschuang-tse – Uebersetzung häufig geradezu mit »Gott« wiederzugeben. Das kann nicht zugestanden werden, obwohl in unserm heutigen Texte Stellen sind, die man dahin auslegen könnte. Aber sie verschwinden in ihrer zweifelhaften Bedeutung vor einer so klaren, unzweideutigen Aeußerung wie dieser: »Der Mensch blickt auf Gott ( T'ien) wie auf seinen Vater und liebt ihn in gleicher Weise. Wie viel mehr sollte er dann das lieben, was größer ist als Gott« [R279]! Tao ist bei Tschuang tse dasselbe wie bei Lao tse, nur freilich dichterisch reicher und farbiger behandelt. Indes gilt auch hier letztlich von ihm: »Wer vermag zu erkennen die nicht in Worte zu kleidende Darlegung, das nicht auszusprechende Urwort (Tao)?« [R280] Eine Erkenntnis ist dem Tao gegenüber für den Menschen nicht möglich. Nur steht von ihm fest, daß es die große Einheit des Daseins ist, die in dem Schein der auseinander tretenden, widerspruchsvollen, vergänglichen Einzelphänomene uns nahe kommt.

Die gesamte Phänomenalität der weltlichen Erscheinungen liegt daher, vom Standpunkt des Tao gesehen, gänzlich auf ein und demselben Niveau. Tschuang tse vergleicht sie in diesem Sinn mit den Schattenformen, die das Licht an den Dingen hervorbringt [R281]. Die Schatten bilden sehr verschiedene Gestalten, je nach den Gegenständen, sie »sehen aus wie etwas, sind es aber nicht«, »sie bestehen und wissen nicht warum«, im Grunde jedoch sind sie nichts, alle gleichermaßen, ob groß oder klein, ob kräftig oder matt, ob gebückt oder aufrecht, stehend oder gehend. So ist es mit den Phänomenen des Daseins. Sie alle, ob wir sie hoch oder gering einschätzen, ob sie greifbarer und derber oder feiner und innerlicher sind, ob sie Materie oder Geist heißen, Körpergestalt oder Weisheit oder Güte oder Pflicht oder wie sonst, – alle sind sie das Schattenspiel des großen Einen, des Tao. Die sogenannte Wirklichkeit gilt hier nicht mehr als der Traum; des letzteren Gestaltungen wiegen so schwer wie die des ersteren. Tschuang tse träumt, er sei ein Schmetterling. Als er aufwacht, denkt er: was ist »wirklicher«? Ich weiß nicht, sagt er, ob dem Tschuang Tschou geträumt hat, daß er ein Schmetterling sei, oder ob dem Schmetterling träumt, daß er Tschuang Tschou sei [R282].

In einem gewaltigen, prachtvoll gemalten Bilde stellt der Philosoph das Phänomenale der Welt dar als die »Musik des Himmels«, die ein das All durchbrausender Sturmwind erregt. Wie der Orkan, über Berge und Wälder dahinfahrend, gleichsam auf tausend Instrumenten, den Höhlen und Klippen und Schluchten, den Baumlöchern und Spalten, seine tausend Weisen bläst, mit Zischen, Schwirren, Schnaufen, Brummen, Paffen, Purren, Schrillen in unzähligen Wandlungen des Tones und der Stärke, so braust und tost die Fülle der Erscheinungen in der Musik des Himmels durch die Welt dahin, ein Riesendurcheinander der verschiedensten Laute, vom weichen Hauche bis zum fürchterlichsten Heulen, vom süßen Singen bis zum wütenden Gebrüll [R283].

Dieser unheimliche Chorus von endlos im Sturmwind der Ewigkeit durcheinander wirbelnden Phänomenen ist aufgehoben im Tao. Da hat alle Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit ein Ende: »Ein Balken ist da soviel wie ein Pfeiler, Häßlichkeit soviel wie Schönheit, Größe soviel wie Gemeinheit, Uebereinstimmung soviel wie Abweichung. Zertrennung ist dasselbe wie Gestaltung, Gestaltung dasselbe wie Auflösung. Nichts ist mehr der Gestaltung oder der Auflösung unterworfen, denn sie sind zur Aufhebung gekommen in der Einheit« [R284]. Von irgendwelchen »ewigen Werten« in dem Irdischen ist also hier keine Rede; alle irdischen Gebilde, vom Höchsten bis zum Tiefsten, sind das vorübergehende Schattenspiel, in welchem unser Ich das Tao erlebt.

An dieses Schattenspiel muß man darum sein Herz nicht hängen.

Hier ist der Angelpunkt für das richtige persönliche Verhalten des einzelnen. Je mehr im Einzelleben das Gewicht fällt auf die Gebilde des Phänomenalen, einerlei wie sie heißen, desto mehr wird der Mensch dadurch verstrickt in diese Schattenbilder und ihr kämpfendes Durcheinander ewiger Unruhe. Je leichter er aber alle irdischen Werte (oder Unwerte) und Vorgänge nimmt, desto mehr nähert er sich der letzten Einheit des Welthintergrundes. Die menschlichen Schätzungen müssen also vor dem Auge des tiefer Blickenden verschwinden. Groß oder klein, lang dauernd oder schnell vorübergehend, freundlich oder schreckend, von schöner oder häßlicher Körperbildung, erfolgreich oder erfolglos, Recht oder Unrecht (sowohl im logischen wie im moralischen Sinne), ja auch Leben oder Tod, Subjekt oder Objekt, all dergleichen muß man aus den Augen verlieren. Es gibt kein wirkliches Ja oder Nein auf der Welt, darum auch kein wirkliches Objekt oder Subjekt, keine wirklichen, durchweg gültigen Maßstäbe, keine wirklichen Vorgänge, kein wirkliches Entstehen und Vergehen, über all dergleichen muß man hinauskommen [R285]. »Geburt und Sterben, Leben und Tod, Erfolg und Mißerfolg, Armut und Reichtum, Würdigkeit und Unwürdigkeit, Lob und Tadel, Hunger und Durst, Hitze und Kälte wechseln in den Ereignissen miteinander ab, wie es dem Gang des Schicksals entspricht. – Es ist nicht richtig, durch diese Dinge den inneren Einklang stören zu lassen; man darf sie nicht eindringen lassen in die Behausung der Seele« [R286].

Mehrfach führt Tschuang tse in kleinen Erzählungen aus, daß eine scheinbare Unbrauchbarkeit bei Dingen und Menschen in Wahrheit sehr nützlich sei [R287]. Der Baum, aus dem man schöne Stäbe und Bretter und Balken herstellen kann für allerlei Gebrauch, geht früh durch Axt und Beil zugrunde. Der krumm und knorrig gewachsene Baum dagegen mit wildem Wurzelgeflecht und unangenehmem Geruch bleibt ungefällt und wächst sich gewaltig aus. Der gänzlich verwachsene Krüppel wird nicht als Soldat ausgehoben oder sonst mit öffentlichen Diensten belastet; er bekommt vielmehr öffentliche Armenunterstützung. So kann er ungestört sein auskömmliches Leben führen. Der tiefere Sinn dieser Gleichnisse ist, daß die »Unbrauchbarkeit« den Menschen davor bewahren kann, in die irdische Betriebsamkeit, in den Wirbel des menschlichen Schattenspiels hineingerissen zu werden. Der »Unbrauchbare« hat es leichter, sich frei davon zu halten und sich darüber zu erheben. Unnütz fürs Leben ist der Weg des Weisen.

»Laß deine Seele wandeln jenseits der Sinnen weit, – laß den Dingen ihren Lauf!« Darum singen auch die zwei Freunde beim Tode des Dritten ihr sonderbares Totenlied [R288], worin sie ihn glücklich preisen und sich beklagen, daß sie noch hier bleiben müssen, wie auch Mêng Sun ts'ai über den Tod seiner Mutter nicht wirklich traurig sein kann, weil Leben oder Tod ihm gleichbedeutende, im Grunde nichts bedeutende Phänomene sind [R289]. In den letzterwähnten zwei Beispielen liegt bereits, daß der rechte Weise auch über die Neigung zu andern Menschen, über die Bande der persönlichen Anhänglichkeit hinausgekommen sein muß. Das ist in der (natürlich fingierten) Geschichte von Lao tses Tod [R290] die Pointe. Der verstorbene Weise wird von Alt und Jung bitterlich beweint. Das aber macht ihm Tschuang tse (in der Figur des Tchin Schï) zum Vorwurf; er habe in seinem Leben eine ungehörige Anhänglichkeit seiner Umgebung an sich hervorgerufen, die nicht sein dürfe. Freude und Trauer dürfen keine Macht über den Menschen haben; er muß Geburt und Tod gleichmütig als inhaltlose Phänomene passieren lassen. Das hätte Lao tse auch seinem Kreise beibringen müssen. Ein rechtes Beispiel der Gelassenheit gegen Krankheit und Tod andrerseits bieten die vier Freunde [R291], deren Grundsatz ist, einfach hinzunehmen, was über sie kommt, ohne zu remonstrieren: ob sie sterben und dann ihr Leibliches in eine Rattenleber oder in einen Insektenfuß verwandelt wird, läßt sie vollkommen kühl.

Auch Tschuang tse, wie vor ihm Lao tse, Konfuzius und andere, meint, im grauen Altertum eine Zeit zu finden, da das Ideal seiner Vorstellungen mehr Geltung auf Erden hatte als in der Gegenwart. Unter »den Alten«, da gab es richtige Vertreter des Lebens im Tao, die den Namen »wahre Menschen« oder »heilige Menschen« ( Tschên jên) verdienen. Und wie denkt der Philosoph sich diese Heiligen der alten Zeit [R292]?

»Sie nahmen äußerlich im Leben eine unbedeutende Stellung ein. Sie vollbrachten keine gewaltigen Taten. Sie verfolgten keine eigenen Absichten. Mißlingen oder Gelingen ihres Treibens berührte sie weiter nicht. Daher waren sie imstande, in den Naturvorgängen völlig aufzugehen, in die höchsten Höhen furchtlos aufzusteigen, durch Wasser und Feuer zu wandeln, ohne davon berührt zu werden. Träume [in denen die Unruhe des Gemüts sich unwillkürlich geltend macht] kannten sie nicht, so wenig sie wachend sich aufregten über irgend etwas. Ihre Nahrung bedurfte keines Wohlgeschmacks. Ihren Atem holten sie ganz aus der Tiefe. Sie atmeten (gleichsam) von den Fußsohlen herauf. Von Liebe zum Leben oder Abneigung vor dem Tode wußten sie nichts. Daß sie geboren waren, freute sie nicht weiter; abzuscheiden wehrten sie sich nicht. In völliger Gelassenheit kamen und gingen sie. Ihres Ursprungs vergaßen sie nicht, aber ihrem Ende strebten sie auch nicht zu. Solange sie dem Leben gehörten, genossen sie seiner; dann aber kehrten sie ohne Grübelei zurück. Das nennt man: nicht durch Eigenwillen das Tao stören und nicht durch Menschentreiben dem Himmlischen nachhelfen; das nennt man: den wahren Menschen.«

»Da sie so waren, blieb ihr Geist unbeschwert, ihre Züge waren gleichmütig, ihre Stirn unbewölkt. Ihre Gefühlsäußerungen waren unpersönlich wie die Naturvorgänge in den vier Jahreszeiten. Allen Wesen begegneten sie angemessen, niemand drang tief in ihr Inneres ein.«

»Die wahren Menschen des Altertums bewiesen wohl Rechtschaffenheit, schlossen sich aber nicht freundschaftlich an; sie zeigten keine Selbstzufriedenheit, schmeichelten aber auch niemand; sie hatten ihre Eigenart, ohne hartnäckig darauf zu bestehen.«

Diese Aeußerungen sind deutlich genug. Die »rechten Menschen« vollbringen danach ihren Lebenslauf wie Naturmächte, gleichmütig dem hingegeben, was das Tao mit ihnen anfängt. Alle menschliche Schätzung, alle persönliche Abzweckung, alle Neigung oder Abneigung, alles Sicheinlassen auf das Leben hört hier auf. Nicht daß sie die bestehenden Einrichtungen, wie Strafgesetze, soziale Ordnungen, Gelehrsamkeit, Moral, äußerlich aufzuheben trachteten, – derartige Dinge sind im Leben relativ nötig und richtig, – aber: sie hoben das alles innerlich auf! Die Unterschiede des Geisteslebens, auch die scheinbar wichtigsten, wie gut und böse, ehrbar und verbrecherisch, sind ebenso wie die Unterschiede des Sinnenlebens, schön und häßlich, kurz und lang, viel oder wenig, samt und sonders relativ, man kann sich nicht daran halten, man hat innerlich damit zu brechen. So läßt man sich vom Weltlauf dann ruhig dahin tragen, folgend dem Weltgesetze des geringsten Widerstandes, das Selbst möglichst auslöschend im Tao. Dann kennt man schließlich weder Gott noch Mensch mehr, weder Anfang noch Ende, weder Stoff noch Geist. Man nimmt, was kommt, ohne davon überwältigt zu werden. Das ist ein Zustand tiefster Ruhe in einem vollkommenen Gleichgewicht, zu vergleichen der völligen Ruhe eines glatten Wasserspiegels. Und wie in solchem Wasserspiegel sich alle Dinge klar abmalen, so wird auch der Geist des wahren Menschen im Zustande des reinen Gleichgewichts ein Spiegel, in dem das Weltall sich spiegelt.

Es liegt im Wesen dieses Lebenszieles selbst, daß es nicht erzwungen, nicht mit gewaltsamen Mitteln erreicht werden kann. Aeußerliche Hilfsmittel sind hier nicht anzuwenden, sie würden den Menschen wieder an das Phänomenale heften. Aeußerliches Ankämpfen gegen andere Richtungen und Sichauflehnen gegen Verkehrtheiten würde eben gerade in den Kampf des Lebens verwickeln und ganz verkehrte Folgen haben. Vielmehr muß der Mensch in Stille bei sich selbst durch lange dauernde Uebung das Eingehen auf die Wege und Bahnen des Tao üben und lernen, wobei er das gewöhnliche Getriebe der Welt um sich her so wenig bekämpft, daß er es vielmehr allmählich ganz aus den Augen verliert. Die Uebung, einzugehen auf jeden Wink des Tao (man könnte sagen: der Natur völlig gemäß zu handeln), wird von Tschuang tse in einem eigentümlichen Gleichnis illustriert, nämlich in jener Erzählung von dem Koch des Fürsten Wen Hui, der mit unvergleichlicher Kunst einen Schlachtochsen zu zerlegen verstand, indem er sich gewissermaßen in die anatomische Bildung des Tieres hineinfühlte und den Gelenken, Sehnen und Muskeln überall sicher und sensitiv nachzugeben wußte [R293].

Dagegen ist wohl zu beachten, daß irgendwelche parapsychischen Zustände, wie sie etwa die Heilsmethodik des Buddhismus künstlich herbeizuführen lehrt, bei Tschuang tse keine Stätte haben. Wo von einem ähnlichen Zustande der Entrücktheit gelegentlich gesprochen wird, wie bei Tse Tch'i von Nan kuo (2,1), handelt es sich doch nicht um wirkliche kontemplative Entrücktheit, wenn auch gesagt wird, der Körper sei dabei starr wie dürres Holz und die Gedanken seien ausgelöscht wie tote Asche, sondern es ist einfach das tiefe Verlorensein in Gedanken und innere Bilder, wie sich bei Tse Tch'i deutlich daran zeigt, daß die Frage des Schülers ihn sofort aus dieser Verlorenheit aufweckt und daß er den Inhalt seines Träumens dann diskursiv wiedergibt [R294]. Wohl kannte auch Tschuang tses Weg ein Ziel der Unbewußtheit; aber dies Ziel ist das Resultat einer langen, immer gesteigerten Wegwendung von den Phänomenen und Hinwendung zu dem Tao. Es wird 6,2 (etwas scherzhaft) so beschrieben, daß man zunächst lernt, die gewöhnliche Auffassung der Welt abgetan zu haben, was ein Veranlagter wohl in drei Tagen erreichen könne; dann müsse man die Objektivität der Dinge verlernen, was etwas länger daure; schließlich werde das Leben selbst überwunden und dann komme man zur Klarheit und erblicke die große Einheit; das bedeute die höchste Ruhe, das vollkommene Gleichgewicht. Hier haben wir es mit einer Erziehung zur »Entselbstung« zu tun, die nichts Parapsychisches an sich trägt. –

Es ist leicht einzusehen, welch ein Abstand diese ganze Weltanschauung des Tschuang tse von der Lehre des Konfuzius schied. Hier das Auflösen des Daseins in Relativitäten, in Scheinbestände, das Herausziehen des Geistes aus den Phänomenen, bis man »sogar in dem eigenen Leibe nur ein Gast« ist, das Aufgeben alles bewußten Strebens, die Selbstverlorenheit und das Aufgehen im Ueberphänomenalen, dem großen Einen; dort dagegen eine Skala beschränkter diesseitiger Werte, ein Eingespanntsein in die empirische soziale Gemeinschaft und ein emsiges ängstliches Streben von Stufe zu Stufe aufwärts. Grade indem Tschuang tse den taoistischen Gedanken mit ungemeiner Vertiefung und Erweiterung erfaßte, mußte sich ihm auch viel klarer der Abgrund auftun, der diese Welt von der des Konfuzius trennte. Die Abwendung von Konfuzius bringt Tschuang tse in ganz eigentümlicher Weise dadurch zum Ausdruck, daß er jenen immer wieder zum Vertreter taoistischer Ideen macht, ihn das taoistische Ideal anerkennen und preisen läßt, ihn also kurzerhand in seine Gefolgschaft aufnimmt. Dabei muß sich dann Konfuzius mancherlei Belehrung und Zurechtweisung von Lao tse und anderen gefallen lassen. Auf diese Weise wird Konfuzius vielfach geradezu eine lächerliche Figur und in dieser Lächerlichkeit liegt seine Ueberwindung [R295]. Aehnlich werden auch die angesehensten Jünger des Konfuzius wie Tse Kung und Yen Hui behandelt. Dies Verfahren, das ohne Zweifel stärker wirkt als eine direkte Polemik, hat den Tschuang tse in den Augen der späteren Konfuzianer natürlich in hohem Grade verhaßt gemacht.

Im Vorstehenden sind nur die Grundzüge der Lebensauffassung des Tschuang tse gegeben; viele Seitenlinien konnten nicht näher verfolgt werden. Ueberhaupt hat der Philosoph seine Ideen so eigentümlich gestaltet, daß es sehr schwer hält, sie aus ihrer Form zu lösen und das Einzelne in feste Verbindung zu bringen. Erzählung, Bildersprache, Allegorie, dichterische Ausmalung, dunkle Ausdrucksweise, alles dies sind Elemente, mit denen die Gedanken selbst mehr oder weniger zusammengewachsen sind und hinter denen sie in Halbdunkel verhüllt stehen. Dazu ist Tschuang tse ein atomistischer Denker, der weniger den Zusammenhang des Ganzen als einen besonderen Teilgedanken behandelt, oft mit einseitiger Betonung und Bevorzugung. Gewisse Punkte, die für die Beurteilung von großem Gewicht sein würden, bleiben völlig im Unklaren. So die Frage nach dem, was im Tode aus dem Individuum wird. Hie und da begegnen Aeußerungen, die0 auf eine Fortexistenz zu deuten scheinen, ohne daß deutlich wird, wie man sie sich denken soll. »Das Brennholz verzehrt sich [im Tode], aber das Feuer brennt weiter, und wir wissen nicht davon, daß es aufhört« (3, 4). Eine gewisse Umgestaltung im Tode ist wohl angedeutet (z. B. 6, 4), aber sie darf nicht im Sinne der Seelenwanderung aufgefaßt werden, sondern zielt nur auf die Umgestaltung des Materiellen am Menschen; dies Materielle kehrt in den großen Schmelzofen der Natur zurück, aus dem irgend neue Gebilde hervorgehen, – »eine Rattenleber oder ein Insektenfuß!« Gleichgültig ist es darum, was die Hinterbliebenen mit dem Leichnam anstellen. Sarkastisch und doch großartig spricht der Philosoph darüber mit seinen Jüngern beim Hinblick auf seinen eigenen Tod (32 gegen Ende, in Wilhelms Uebersetzung an den Schluß von 27 gesetzt). Freilich gehört der Abschnitt unter die als unecht verdächtigen Stücke. Dagegen lesen wir 18, 4 eine Erzählung, die sicher echt ist und die einen Glauben an die Weiterexistenz des Geistigen im Menschen vorauszusetzen scheint. Es ist die berühmte Schädelgeschichte, die uns im Anfang einigermaßen an Hamlets Reden in der Totengräberszene erinnert. Tschuang tse findet am Wege einen Schädel und stellt seine Betrachtungen darüber an. Er nimmt den Schädel hernach zur Unterlage seines Kopfes beim Schlafen. Im Traum erscheint ihm der Schädel und hält mit ihm Abrechnung wegen seiner Bemerkungen. Der Tod, sagt er, ist besser als das Leben. Man führt ein wirklich freies Dasein, dahintreibend zwischen Himmel und Erde. Selbst das Glück eines Königs auf dem Throne kommt diesem Glück nicht gleich. Auf die Frage, ob er, wenn er könnte, nicht doch lieber in sein ehemaliges Menschenleben zurückkehren möchte, runzelt der Schädel unwillig die Stirn (!) und sagt: »Wie sollte ich ein Glück, größer als das eines Königs, von mir werfen, um mich wieder auf die Mühsal und Not der Sterblichen einzulassen?« Da die Beschreibung des Zustandes nach dem Tode nur den Zug hervorhebt, daß alle irdischen Unterschiede ausgewischt seien, so scheint es, daß der Tod als Rückkehr in das Tao, das große Eine gedacht ist. Aber Näheres hat Tschuang tse über diese Meisterfrage nie geäußert.


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