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8. Lieh tse

Das Buch, welches unter dem Namen des Lieh tse erhalten ist, macht einen sonderbaren Eindruck auf abendländische Leser. Zunächst wird darin eine philosophische Lehre von dem Urprinzip der Welt im Unterschiede von der empirischen Welt vorgetragen, eine Lehre, die Lieh tse seinen Schülern auf deren Wunsch hinterlassen haben soll, als er im Begriff stand, seiner Heimat, dem Staate Tschêng, Lebewohl zu sagen, um nach Wei überzusiedeln. Diese lehrhaften Erörterungen gehen dann aber allmählich in Erzählungen über, und diese kurzen Erzählungen füllen nun das ganze weitere Buch. In ihnen wird das Anekdotenhafte gelegentlich ausdrücklich auf eine Belehrung hinausgeführt, oft aber bleibt es auch einfach bei der Geschichte, deren Pointe eben für sich sprechen muß. Manchmal steht Lieh tse im Mittelpunkt der Anekdote, dann aber auch ganz andere Männer, z. B. Konfuzius, Têng Hsi, Lao tse, der »gelbe« Kaiser (eine mythische Figur des Altertums) u. a. Ein ganzer Abschnitt des Buches hat es auch, wie wir oben schon sahen, mit Yang Tschu zu tun. Die einzelnen Anekdoten zeigen unter sich keinen Gedankenzusammenhang oder gar Gedankenfortschritt, doch trägt die Pointe meistens eine taoistische Färbung. Einige indes sind auch ganz farblos. So fesselnd und lehrreich sie auch vielfach (sowohl psychologisch wie kulturgeschichtlich) sind, haben sie als Ganzes doch etwas Willkürliches und Verwirrtes. Zuweilen bemerkt man im Inhalt des Buches auch Widersprüche. – Bei solcher Sachlage kann es nicht überraschen, daß sowohl von chinesischer wie europäischer Seite Zweifel an der Authentizität des Buches und selbst an der Existenz eines Philosophen Lieh tse geäußert wurden [R258]. Da er aber bei Tschuang tse, dem weiterhin zu besprechenden Autor des ausgehenden vierten Jahrhunderts, sehr oft erwähnt wird, so suchte man ihn als eine freie Schöpfung der Phantasie des Tschuang tse hinzustellen. Dem widerstreitet jedoch manches, z. B. der gar nicht allegorisch zu verstehende Name Lieh. Die überwiegende Mehrzahl der chinesischen Historiker sowohl wie der europäischen Sinologen haben daher an der Historizität des Mannes und an der Echtheit der von ihm überlieferten Worte festgehalten. Doch wird man freilich das Buch Lieh tse ansehen müssen als eine mit allerlei späterem Gute vermengte Tradition aus der Schule des Philosophen, nicht als ein Werk seiner Hand. Die Ausscheidung des dem Lieh tse fremden Gutes ist unter solchen Umständen für uns natürlich eine schwierige Aufgabe, manches wird wohl immer unsicher bleiben. (Seinen Titel »Wahre Schrift von der [die Welt] durchströmenden Leere [dem Tao]« hat Lieh tses Buch erst im 8. Jahrhundert erhalten.)

Ueber Persönlichkeit und Lebenslauf des Lieh tse wissen wir höchst wenig. Sein voller Name soll Lieh Yü k'ou gewesen sein. Er gehörte dem Staate Tschêng an und muß dort (nach einer Erzählung des Buches) gelebt haben unter einem Minister Tse Yang, der, wie wir sonst aus sicherer Quelle wissen, im Jahre 398 ermordet worden ist [R259]. Genauer läßt sich seine Lebenszeit nicht feststellen.

In seinen Gedanken und Lehren schließt sich Lieh tse offenbar vorwiegend an die Weisheit der Tao-Lehre, speziell an das Tao tê tching an, von welch letzterem viele Stellen wörtlich bei ihm wiederkehren [R260]. Aber eine bewußte Beschränkung auf eine bestimmte Lehrrichtung kennt er nicht. Er nimmt frei von vielen Seiten, er läßt auch ebenso frei sein eigenes Nachdenken und seine eigenen Eindrücke spielen.

Den Eingang des Buches bildet, wie schon angedeutet, eine tiefsinnige Betrachtung über das Ursächliche und Beharrende im Wandel des Werdens und Vergehens. Es ist natürlich das Tao, obwohl der Name nicht gebraucht wird. Der dunkle Satz aus Tao tê tching Kap. 6 wird herangezogen: »Der Geist des Tales (der Leere), der nicht stirbt, heißt das Urweibliche; des Urweiblichen Eingang heißt des Weltalls Wurzel; ganz zart ist es, einfach nur daseiend, und mühelos tritt es in Wirkung« [R261]. In allem Entstehen und Untergehen der phänomenalen Welt wirkt also, so sagt der Philosoph, ein unerzeugtes und unwandelbares Ueberphänomenales, das letzte Eine, das uns Unerreichbare. Alles für uns Erkennbare, das grundlegend zu sein scheint für die Weltvorgänge, wie Kraft, Form, Stoff, muß als sekundär angesehen werden gegenüber jenem Ersten. Indem Kraft, Form, Stoff ins Dasein traten, zunächst noch ungesondert voneinander, herrschte eine Art Chaoszustand der Urmaterie. Auf dies Chaos wendet Lieh tse das Wort des Tao tê tching an: »Blickt man danach, so bemerkt man es nicht, horcht man darauf, so hört man nichts, greift man danach, so faßt man es nicht« [R262]. Weiterhin sucht er dann klar zu machen, daß jenes Urletzte das »Nichtseiende« darstelle (so wie ja das Tao auch gern formuliert wurde), denn es liegt jenseits aller unserer positiven Aussagen und Vorstellungen. In dem Nichtseienden liegen alle Gegensätze des Seins undifferenziert vereint, als eine allwissende und allmächtige Potenz. – Man könnte nun hieraus schließen, daß Lieh tse einen zeitlichen Anfangspunkt der phänomenalen Welt annehme, damals nämlich, als aus dem Nichtseienden das Seiende hervorging, und entsprechend dann auch ein zeitliches Ende. Aber in einem fingierten Gespräche zwischen dem alten Herrscher T'ang und dessen Minister Hsiâ Tchi (Anfang von Abschnitt 5) läßt er sich anders aus. Auf die Frage nach dem absoluten Anfang oder Ende der Welt antwortet er agnostisch und meint, daß die Begriffe Anfang und Ende relativ seien. Aehnlich urteilt er über die Grenzen des Räumlichen: Da man über alles Begrenzte hinaus immer noch wieder ein Etwas setzen müsse, so komme man nie ans Ziel und könne sich ein räumliches Abgeschlossensein nicht denken. So spricht er auch an anderen Stellen. Das Leben erscheint ihm als ein beständiges Auf und Nieder der verschiedenartigsten Gebilde. Was entsteht, das vergeht auch wieder. Ob aber ein letztes Ende ist? Das wissen wir nicht. Doch ist wahrscheinlicher, daß der Prozeß ewig weitergeht. Für die Einzelexistenz aber kommt notwendig ein Ende. Es ist töricht, sein Leben erhalten und dem Ende entrinnen zu wollen. Im Gegenteil: der Tod, das »Heimgehen«, ist etwas Tröstliches, Erlösendes. »Leben und Sterben ist ein Gehen und Zurückkehren.« »Wahrlich, groß ist der Tod; die Edlen bringt er zur Ruhe, die Gemeinen zur Unterwerfung« [R263]. An der späteren taoistischen Chimäre, den Tod durch Geheimmittel überwinden und dem Leben ewige Dauer geben zu können, hat Lieh tse also noch keinen Anteil, und wenn derartiges in seinem Buche anklingt, so ist es später hinzugefügt [R264].

Die Welt- und Lebensauffassung des Lieh tse nun weiter in einem wenn auch nur skizzierenden Zusammenhange zu schildern, fällt sehr schwer, da sie in lauter Anekdoten atomisiert erscheint. Wir müssen dem Geiste nachgehen, der manche unter ihnen verbindet.

Ein charakteristisch taoistischer Zug, der feiner oder deutlicher durch allerlei Erzählungen hindurchgeht, ist die Erkenntnis von der Einheit der Lebensvorgänge und Lebensprodukte. Die eine verborgene Kraft des Tao ist aller Dinge Ursprung und Träger und verwebt alles eng ineinander. Die Naturvorgänge stehen alle in einem inneren notwendigen Zusammenhange, so daß, wenn hier eine Verringerung eintritt, dort dafür eine Vermehrung erfolgt, wenn hier ein Leerwerden, so dort eine Anfüllung. Zart und still, meist unbemerkt arbeiten die sich ablösenden Naturkräfte; aber sie halten das Ganze in einer festen Gemeinsamkeit und Ordnung. Das Einzelgebilde, so auch der Mensch, gehört in dem Grade der Gesamtheit an, daß man eigentlich von einem Individuum mit Individualrechten nicht sprechen kann. »Dein Leben ist nicht dein eigen, es ist das Gleichgewicht der Kräfte, das Himmel und Erde dir zugeteilt haben« [R265]. Und so wenig wie das Leben ist das Schicksal, der Besitz, die Angehörigen und alles andre des Individuums Eigentum. Was wir uns in unsrer Lebensarbeit erwerben, insbesondere die Gaben der Natur und die Ausnutzung ihrer Kräfte, ist alles im Grunde Raub und Diebstahl; die Feuchtigkeit der Wolken und des Regens, die Fruchtbarkeit des Bodens, Vögel, Fische, Landtiere, Holz, Korn, Gewächse, Lebensmittel, Kostbarkeiten u. dgl. – es ist alles eigentlich ein Raub des Menschen, dem es in Wahrheit nicht gehört. In der drolligen Geschichte von den zweierlei Räubern (1, 3) setzt der Philosoph diese Auffassung hübsch auseinander. Die Kehrseite solcher Ablehnung individueller Rechte ist ein starkes Gemeinschaftsgefühl, das alle Welt verbindet. Mensch und Tier und Ding, Mensch und Naturerscheinung, Mensch und Elementares ist alles eins. Die Verschiedenheit der äußeren Gestalt darf da nicht irre führen. Dieser Gedanke der Einheitlichkeit aller Wesen ist es auch jedenfalls, der Lieh tse zu Aeußerungen veranlaßt, die ihm wohl den Ehrentitel eingebracht haben, daß er Darwins Lehre (oder doch die Lehre von der Entwicklung der Arten) vorweg genommen habe. Er sagt nämlich [R266]: »Im Samen liegen allerlei Möglichkeiten (so wie Frösche zu Wachteln werden). Im Wasser wird [der Same] zu Algen, am Ufer des Wassers wird er zu Flechten, wächst er dagegen auf trockenen Höhen, so wird er zu Wegerich. Wird der Wegerich der Yü-Pflanze gesellt, so bildet sich Lindera serica. Aus der Wurzel dieses Gewächses werden Larven, aus seinen Blättern Schmetterlinge.« Weiter wird dann aufs wildeste fortphantasiert über allerlei Umwandlungen, aus Würmern in Vögel, aus Vogelspeichel in Mücken, aus Mücken in Fliegen und Käfer, dann aus Falken in Tauben, aus Schwalben in Perlmuscheln, aus Fledermäusen in Wachteln, aus verfaulten Kürbissen in Fische, aus Fischeiern in Würmer und allerlei noch tolleres Zeug. Dabei wird auch die Erzeugung ohne Befruchtung (Parthenogenesis) behauptet und die unglaublichsten Belege dafür vorgebracht. Braucht man auch Lieh tse nicht für all diese Kuriositäten verantwortlich zu machen, so wird doch der Grundgedanke ihm angehören: ein Wesen, Pflanze oder Tier, vermag in ein völlig anderes überzugehen. Daß das aber noch keine Lehre von der Entwicklung der Arten ist, versteht sich von selbst. Phantastische Spielerei, Unkenntnis der Natur, die prinzipielle Annahme der Einheit in der Natur haben zusammengewirkt bei diesen Ausführungen.

Insbesondere betont Lieh tse auch den engen Zusammenhang zwischen Mensch und Tier. Obwohl das Aussehen und die körperliche Ausstattung von Mensch und Tier stark abweichen, so ist doch in ihrem Innern ein Gleiches wirksam. Lieh tse zieht hier die Sagen von den mythischen Herrschern der Urzeit heran, die zum Teil mit Tiergliedern vorgestellt wurden und doch geniale Menschheitsführer waren; auch andere Sagen über Tiere als Genossen des Menschen verwendet er, um zu zeigen: »Die Denkart der Tiere ist von Natur gleichartig mit der des Menschen. – In uralten Zeiten wohnten sie mit den Menschen zusammen und wanderten mit ihnen. Später entstand Furcht vor den Menschen, und jetzt verstecken sie sich und laufen davon.« Aber hier und da, meint Lieh tse, wohnen heute noch Menschen, die die Sprache der Tiere verstehen, was früher allgemeiner war [R267].

Sinn und Sympathie für das Leben der Tiere tritt überhaupt bei unserm Philosophen vielfach hervor. So in der klugen Erzählung vom Tierbändigen (2, 7). Nicht zufällig sind eine so große Anzahl der Anekdoten, darunter gerade die besten, dem Leben der Tiere entnommen. Die Tiere zeigen ihre Verwandtschaft mit dem Menschen, indem sie für Musik empfänglich sind (»Wenn Ku Pa die Zither schlug, so kreisten die Vögel über ihm und die Fische sprangen aus dem Wasser hervor« [5, 11, vgl. 2, 19]. Sie verstehen die Gesinnung der Menschen, ob sie ihnen freundlich oder feindlich ist (2, 4).

Wenn der Mensch diese innere Einheit mit der ganzen Natur in sich richtig auszubilden versteht, so kommt er zu merkwürdigen Resultaten.

Von diesen Resultaten erzählt vor allem der zweite Abschnitt von Lieh tse eine ganze Reihe der seltsamsten Beispiele. Da wird von Leuten berichtet, die aus Felsen hervortreten, durch Feuer dahingehen, durch die Lüfte wandeln, ohne Schaden in den tiefsten Abgrund springen, mit wilden Tieren wie mit ihresgleichen verkehren, einen Wasserfall wie den Niagara hinunterschwimmen und sich dann singend das Haar trocknen, als sei das so ihr gewöhnliches Bad. Alle schwierigen Fertigkeiten und Künste gelingen diesen Leuten ohne Mühe, nichts erschreckt sie, nichts behindert sie, nichts verwirrt sie. Diese auffällige Macht haben die Betreffenden dadurch erlangt, daß sie ins innerste Wesen der Dinge eingedrungen sind, in das Tao, mit dem ihr eignes Tao sich vereint hat. Da ist nun kein Wesensunterschied mehr zwischen ihnen und der Außenwelt in allen ihren Erscheinungen. Im Winde sind sie wie Wind, im Feuer wie Feuer, im Wasser wie Wasser. Das Bewußtsein der Verschiedenheit ist auch völlig ausgelöscht bei ihnen. Aeußere Objekte kennen sie nicht mehr. Als solch einer, der wunderbar aus einem Felsgestein hervorgekommen und mit dem Rauch und den Funken eines Feuers hin- und hergeschwebt war, von einem erstaunten Beobachter gefragt wurde: »Wie kannst du in Felsen weilen und durch Feuer gehen?«, antwortet er: »Was ist das für ein Ding, was du Felsen oder Feuer nennst? Ich kenne das nicht« [R268]. Ein anderer hat eine unbegreiflich tiefe Kenntnis von Pferden und findet unter allen das vorzüglichste mit Sicherheit heraus, aber er bemerkt von den Aeußerlichkeiten des Tieres nichts und beschreibt einen schwarzen Hengst als eine gelbe Stute [R269].

Alle diese Gedanken von der Wundermacht gehen ohne Frage von gewissen Stellen des Tao tê tching aus, von Stellen wie Kap. 50: »Ich habe gehört, daß, wer sein Leben zu leiten weiß, auf seiner Straße weder Rhinozeros noch Tiger zu fürchten hat, und daß er in der Feldschlacht weder Panzer noch Waffen braucht. Das Nashorn kann ihn mit seinem Horne nicht treffen und der Tiger kann ihn mit seinen Krallen nicht zerreißen, der Soldat vermag ihn mit seinem Säbel nicht zu durchbohren. Woran liegt das? Er ist jenseits des Todes.« Aber zugleich läßt sich wohl auch nicht bezweifeln, daß man bei solch phantastischen Vorstellungen einen gewissen Anhalt zu besitzen glaubte an Erfahrungen psychologischer Art. Einerseits ist an die Freiheit und Sicherheit der Naivität gedacht im Gegensatz zu den Störungen der Reflexion, durch welche Gemütsaffekte wie Furcht, Scheu u. ä. entstehen. Der naive Mensch ist dem reflektierenden in vielen Leistungen überlegen [R270], und es gibt Gebiete (wie die eigentliche Kunstgestaltung), wo das Vollkommene nur der unbewußten Naivität gelingt. Dieser Gedanke liegt der Erzählung von dem armen Bäuerlein zugrunde, das unter die vornehmen Lebenskünstler gerät und, von ihnen anfangs verachtet, Dinge vermag, vor denen sie staunend stehen; aber wie ers macht, weiß er selbst nicht. Nachträglich, als er durch Unterhaltung mit jenen zum Bewußtsein der Sachlage, zur Reflexion kommt, ists vorbei mit seinen Wunderleistungen (2, 6). Andrerseits scheint die Beobachtung einzuwirken, daß ein völlig hingegebenes einseitiges Versenken in eine bestimmte Aufgabe, wenn genügend lange und intensiv geübt, unglaubliche Fertigkeiten in einer bestimmten Richtung zur Folge haben könne (vgl. die Erzählungen von dem Zikadenfänger, 2, 10; von dem Fährmann, 2, 8; vom Kampfhahn, 2, 20; von den zwei Schützen, 5, 15). Auch das völlige Hingenommensein von einer Leidenschaft, wobei man nichts sieht und hört als das Ziel seiner Wünsche, wird einmal (in der Erzählung von dem Diebe, der am hellen Tage vor aller Augen stiehlt und auf Befragen bemerkt: Als ich das Gold nahm, sah ich keine Menschen, ich sah nur das Gold!) als Illustration herangezogen (8, 34). Solchen Beobachtungen wird unter dem Einflusse der Doktrin vom Tao eine ganz extravagante Tragweite gegeben.

Es bildet sich damit die Vorstellung von einer besonderen Art von höheren Menschen aus, die in der Literatur weiterhin als Hsien bezeichnet werden. Das Schriftzeichen für Hsien ist aus den Bildzeichen Mensch und Berg zusammengesetzt und soll den Hsien als ein in der Bergwildnis einsiedlerisch lebendes Wesen darstellen. Solch ein Hsien ist ein Fremder in den Verhältnissen des gewöhnlichen Lebens; sie bekümmern ihn nicht und sind für ihn nicht da; sein wahres Leben gehört der geheimen Innenseite der Dinge. »Der ans Ziel gekommene Mensch verweilt [unter den Lebenden] wie ein Toter, er bewegt sich wie ein Gefesselter. Er weiß weder, warum er sich irgendwo aufhält, noch warum er sich nicht irgendwo aufhält, weder warum er sich bewegt, noch warum er sich nicht bewegt; er ändert weder aus Rücksicht auf die große Menge sein Auftreten, noch meidet er Aenderung in seinem Auftreten, weil die große Menge es nicht sehen würde; er geht und kommt eben einfach, er tritt eben einfach aus und ein, – wer könnte ihn hindern?« [R271].

Die Phantasie aber ging weiter. Man stellte sich vor, daß irgendwo in der Welt, in ferner Unzugänglichkeit, ein ganzes Volk und Reich solch vollkommener Menschen bestehe, deren Gemeinschaftsleben ausführlich geschildert wird. Sie befinden sich geistig in einem eigentümlichen Zustande von Apathie: »Begierden kennen sie nicht, weder Freude am Leben noch Abneigung gegen den Tod, weder Selbstsucht noch Entfremdung gegen die Umgebung, man sucht weder Gleichgesinnte noch wendet man sich ab von Andersgesinnten, man denkt nicht an Nutzen und Schaden, an Vorliebe und Abneigung. Dabei aber lebt man in aller Natur als in seinem Elemente, im Wasser ertrinkt man nicht, im Feuer verbrennt man nicht, Schläge schmerzen nicht, Verwundungen gibt es nicht; man wandelt durch den Luftraum wie auf festem Erdboden, man schläft in der leeren Luft wie in einem Bette; Wolken und Nebel hindern nicht den Ausblick; Donner betäubt nicht ihr Ohr; Schönheit oder Häßlichkeit beeinflußt sie nicht; Berge und Täler hindern nicht den Schritt. Sie wandeln einfach nach Geister Art« [R272].

Der Hauch eigentümlich schillernder Phantastik beginnt sich mit Lieh tse über die alttaoistischen Ideen zu legen, ein Hauch, der sich mehr und mehr verdichtet. Die Welt ist voll von Geheimnis, von verborgenen Kräften, von Zaubermächtigem. Allerlei Bizarrerien, vielfach wohl in Anlehnung an Volkserzählungen ausgesponnen, nisten sich dicht bei tiefsinnigen Gedanken ein, wie die Gestalt des durstigen Sonnenverfolgers (5, 4) oder die des Wunderdoktors, der die Herzen von zwei Männern vertauscht (5, 10) [R273], oder die von den zwei Schützen, die ihre Sehkraft zu einer unglaublichen Vollkommenheit entwickelten und deren Pfeile beim Zweikampfe genau mit den Spitzen einander trafen (5, 15). Bezeichnend ist für die hier herrschende Stimmung, daß man dem Traumleben einen selbständigen Wert neben der Wirklichkeit einzuräumen beginnt. Eins der Fabelvölker, die 3, 5 beschrieben werden, hält das, was man im Traum tut, für wirklich, und das, was in der Wirklichkeit geschieht, für illusorisch. In 3, 4 werden Regeln für die Ausdeutung der Traumvorstellungen mitgeteilt. Die Erzählung 3, 6 liefert ein amüsantes Beispiel der ausgleichenden Gerechtigkeit, die der Traum üben kann (er macht einen gequälten Knecht jede Nacht zum unumschränkten König und seinen tyrannischen Gebieter dafür allnächtlich zum mißhandelten Sklaven). Wie verwirrend für den Menschen Traum und Wirklichkeit durcheinander gehen können, illustriert die Erzählung von dem Reh (3, 7). Hier wird in dem Rechtsfalle, den die Unklarheit, ob Traum oder Wirklichkeit, veranlaßt hat, von dem Höchstentscheidenden ausdrücklich gesagt, daß Traum oder Nicht-Traum, Traum oder Wachen für uns gewöhnliche Leute eigentlich nicht zu unterscheiden seien. In der Tat, für diese Weltanschauung liegt das wirkliche Sein unter einem Traumschleier, so daß der Traum ihm dann täuschend gleicht.

Wundervoll kommt die Erzählerkunst des Lieh tse in den vielen Anekdoten seines Buches zur Geltung. Wir können es uns nicht versagen, ein paar Beispiele davon zu geben, ehe wir diesen Denker verlassen, Beispiele, deren Pointe mit seinen philosophischen Vorstellungen kaum etwas zu tun hat, vielmehr nur auf menschliche Zustände und Schwächen überhaupt zielt.

Ein Mann vermißte seine Axt und hatte den Sohn des Nachbarn im Verdacht des Diebstahls. Er beobachtete ihn nun: die Art, wie er ging, war ganz die eines Axtdiebes; sein Gesichtsausdruck war ganz der eines Axtdiebes; aus allen seinen Bewegungen, aus seinem ganzen Wesen sprach deutlich der Axtdieb. Da grub er zufällig seinen Garten um, und er fand seine Axt! Am andern Tage sah er den Nachbarssohn wieder: alle seine Bewegungen und sein ganzes Wesen hatten vom Axtdieb keine Spur an sich (8, 32).

Ein Mann besaß einen dürren Wu-Baum; da sagte sein Nachbarsvater zu ihm: »Ein dürrer Wu-Baum ist von ungünstiger Bedeutung.« Der Eigentümer hieb ihn daraufhin nieder. Das nahm der Nachbarsvater zum Anlaß, sich ihn als Brennholz auszubitten. Jener Mann aber wurde verstimmt und sagte: »Nur Brennholz wollte der Nachbarsvater haben und hieß mich ihn abhauen. Ists möglich, daß ich solches von meinem eigenen Nachbarn fürchten muß?!« (8, 31).

Im Lande Sung war ein Affenwärter, der liebte die Affen und hielt eine ganze Herde von ihnen. Er verstand ihre Gedanken, und auch die Affen begriffen ihn. Er schädigte selbst seine Familie, um die Wünsche der Affen zu erfüllen. Plötzlich wurde es teure Zeit und er mußte ihre Nahrung einschränken. Aus Furcht, daß die Affen wild gegen ihn würden, sagte er erst voll Schlauheit zu ihnen: »Wenn ich euch morgens drei Bündel Heu gebe und abends vier, ist das genug?« Alle Affen sprangen auf und wurden böse. Schnell aber sagte er: »Wenn ich euch denn morgens vier und abends drei Heubündel gebe, genügt das?« Da legten die Affen sich nieder und freuten sich (2, 19).

Ein jüngerer Bruder des Yang Tschu, namens Pu, ging einmal in ein weißes Gewand gekleidet aus. Da es aber regnete, mußte er das weiße Kleid ablegen und ein schwarzes anziehen, in welchem er zurückkehrte. Sein Hund erkannte ihn so nicht und bellte ihn bei der Begegnung an. Yang Pu wurde zornig und wollte ihn schlagen. Aber Yang Tschu sagte: »Verehrtester, schlage ihn nicht, du selbst würdest es nicht besser machen. Gesetzt, dein Hund wäre vorhin weiß weggegangen und schwarz wiedergekommen, sollte das dich nicht auch in Verwirrung gebracht haben?« (8, 23).

Wie in diesen kleinen pointierten Geschichten, so spricht Lieh tse auch sonst noch über mancherlei Fragen und Gegenstände, die mit seinen philosophischen Grundgedanken nicht in Verbindung stehen, wenn auch seine späteren Erklärer es ausgezeichnet verstanden haben, sie damit künstlich in Verbindung zu setzen. Er war offenbar ein prächtiger Lebensbeobachter, der seine Beobachtungen treffend einzukleiden wußte. Zu vielem, was für die Menge galt, setzte er seine Fragezeichen, über andres ergoß er seinen Spott (vgl. die Geschichte von den drei Aerzten und ihrem Gallimathias, 6, 6), das Lächerliche gar zu kurzer Gedanken weiß er schlagend zur Schau zu stellen (vgl. 6, 12: Herzog Tching klagt über die Vergänglichkeit des Menschenlebens, worauf ihm der weise Yen mit sarkastischen Worten zu Gemüte führt, er möge einmal bedenken, wo er jetzt wäre, wenn das Leben und die Herrschaft seiner Vorfahren ewig gedauert hätten; das wehmütige Flennen der zwei Hofkreaturen und das kühle Lächeln des unbefangenen Weisen stehen in einem gar drolligen Gegensatze). Das ganze Dasein samt seinen Mängeln und auch seinen schweren Einbußen nimmt Lieh tse ruhig gefaßt, ja vergnügt hin. Es gibt immer, wenn man sich nur besinnt, noch viel Anlaß, sich zu freuen (der Alte vom T'aischan 1, 5; der alte Lien Lei 1, 6); und selbst das Schlimmste, der Verlust solcher, die uns lieb sind und nahe stehen, wird durch Philosophie bezwungen: Der Vater, dem der Tod den Sohn geraubt hat, sagt: »Es gab früher eine Zeit, da ich ohne einen Sohn war, und damals war ich nicht traurig. Nun wohl, jetzt ist es wieder wie damals. Was sollte ich traurig sein?« (6, 13).


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