Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4. Konfuzius Der Name Konfuzius ist die durch die jesuitischen Missionare latinisierte Form von K'ung fu tse, »der Meister K'ung«. Die Latinisierung ist so allgemein gebräuchlich geworden, daß sie hier beibehalten werden mag.

Im Gegensatze zu Lao tse haben wir in dessen jüngerem Zeitgenossen Konfuzius eine unzweifelhaft historische Persönlichkeit vor uns, deren Lebensgang im wesentlichen feststeht [R49]. Selbst die Ahnenreihe, welche ihm gegeben wird, scheint haltbarer zu sein als so mancher Stammbaum, den ähnlich hervorragende Gestalten (z. B. Muhammed) in der Tradition ihrer Anhänger bekommen haben. Freilich bis auf Huang Ti, den sagenhaften »gelben Kaiser« des dritten Jahrtausends vor Christo, ist das Vorgeschlecht des Konfuzius im Ernst wohl nicht zurückzuführen, wenn es auch oft so heißt; wohl aber bis in den Ausgang der Yin- (oder Schang-) Dynastie, d. h. bis in das 12. Jahrhundert. Durch den zweiten Kaiser der Tschou-Dynastie bereits war ein Vorfahr mit der Herrschaft Sung belehnt, die fünf Generationen hindurch dem Regimente der Familie verblieb. Im 8. Jahrhundert kommt für die Linie des Geschlechtes, aus der Konfuzius entstammen sollte, der Familienname K'ung auf, aus Gründen, die bei den chinesischen Autoren verschieden angegeben werden [R50]. Mit dem ersten Träger dieses Namens aber, K'ung-fu Tchiâ, der die Stellung eines Herzogs von Sung nicht mehr innehatte, gerät das Geschlecht in einen verhängnisvollen Streit mit einem andern vornehmen Geschlechte von Sung, infolge dessen der Enkel des K'ung-fu Tchiâ aus Sung in den Lehnstaat Lu auswanderte. Er wurde hier Gouverneur einer Stadt. Sein Enkel sollte der Vater des Konfuzius werden.

Dieser Enkel, dessen persönlicher Name Schu-liang Hê war, ein gewaltiger Haudegen, von dem ein kriegerisches Bravourstückchen bis heute in der Ueberlieferung lebt, hatte sich früh verheiratet, wurde aber von seiner Gattin nur mit Töchtern beschenkt. Ein Sohn, den er von einer Konkubine hatte, war verkrüppelt. Daher heiratete Schu-liang Hê in seinem höheren Alter (über 70 Jahre) noch einmal ein junges Mädchen (von 15 Jahren) aus der Familie Yen [R51]. Sie gebar ihm im Jahre 551 den Sohn, der einen Weltruhm erwerben sollte [R52]. Er erhielt den Eigennamen »Tch'iû«, dazu den Beinamen »Tschung-ni« Ueber die wahrscheinliche Bedeutung dieses Namens läßt sich Chavannes (Se-ma Ts'ien V 290 f.) eingehend aus. Der Eigenname Tch'iû wird von den Literaten bis auf den heutigen Tag aus Ehrfurcht nicht in den Mund genommen (man sagt » mou« »ein Gewisser« statt dessen) und auch beim Schreiben ein wenig geändert.. Der Ort der Geburt war das Städtchen Tsou, dessen Gouverneur der Vater war; es lag im Gebiete des heutigen Yen tschou fu, Provinz Shantung [R53].

Konfuzius' bejahrter Vater starb zwei Jahre danach [R54]. Die Verhältnisse, unter denen der Knabe aufwuchs, waren ärmlich. In einem Gespräch (Lön yü 96) spielt Konfuzius selbst auf die Beschränktheit seiner Jugend an und bemerkt, daß sie ihm ein Anlaß gewesen sei zur Erwerbung von allerlei Fertigkeiten in Dingen des gewöhnlichen Lebens, die jedenfalls der Bestreitung seines Lebensunterhalts dienen mußten. Uebrigens kennen wir kaum irgendwelche Einzelzüge aus seiner Jugend, obgleich Szï-ma Tch'ien einiges darüber erzählt, was aber wenig Wert und Sicherheit besitzt. Nach des Konfuzius eigener gelegentlicher Bemerkung (Lön yü 24) war er mit 15 Jahren auf Lernen erpicht; es scheint also schon früh ein starkes Interesse für die damals betriebenen Studien und für die damit zusammenhängenden Fragen in ihm erwacht zu sein. Als Neunzehnjähriger verheiratete er sich mit einem Mädchen aus dem Lehnstaate Sung, was wohl zu der späteren Vermutung einer Reise nach Sung in diesen Jahren Anlaß gegeben hat. Seine Frau gebar ihm im folgenden Jahre einen Sohn (dessen Eigennamen Li und Po yü waren); er ist der einzige geblieben, doch hat Konfuzius noch mehrere (mindestens zwei) Töchter gehabt. Seinen Sohn sah er vor sich sterben, wie auch eine der Töchter. Um die Zeit seiner Verheiratung wurde ihm ein (untergeordnetes) öffentliches Amt, die Aufsicht über staatliche Getreidevorräte, dann über einen landwirtschaftlichen Betrieb, übertragen, doch blieb er nur kurze Zeit dabei, wahrscheinlich weil seine eigne Neigung ihn immer mehr zu Studien und zur Lehrtätigkeit unter den ihm allmählich zuströmenden Schülern hinzog. Mit 22 Jahren hat er diese Tätigkeit, die fortan der Nerv seines Lebens blieb, begonnen. Durch den Tod der Mutter (528), an deren Beerdigung die Ueberlieferung einige ziemlich unwahrscheinliche Geschichten knüpft, wird die Lehr- und Lernarbeit freilich eine starke Unterbrechung erfahren haben, da die 27 Monate dauernde Trauer vielerlei besondere Pflichten auferlegte und manche Beschäftigungen, z. B. Uebung der Musik, nicht gestattete. Mit 30 Jahren (521) »hatte ich einen festen Standpunkt«, sagt Konfuzius von sich selbst (Lön yü 21). Er wird damals also mit seinen Studien zu einer gewissen Klarheit seiner Ziele und Ideale gekommen sein [R55]. Doch hat er darin noch eine wesentliche Förderung und Befestigung bekommen durch ein Ereignis, das erst im Jahre 517 stattfand. Damals nämlich unternahm der Vierunddreißigjährige mit zwei vornehmen jungen Leuten aus Lu, deren Unterweisung ihm übertragen war, eine Reise nach der Residenz der Tschou-Dynastie Lo yang (Provinz Honan) [R56]. Der damalige Kaiserhof hatte zwar politisch längst alle Bedeutung verloren, bot aber doch in den dort bestehenden Einrichtungen und Bauanlagen sowie in den dort heimischen Ueberlieferungen einen unschätzbaren Anschauungsunterricht für den, der an Chinas Geschichte und Altertümern ein Interesse nahm [R57]. Konfuzius schöpfte diese Quelle der Belehrung gründlich aus. Damals soll er auch mit Lao tse zusammengetroffen sein, der in Lo yang lebte (vgl. o. S. 53).

Bald nach seiner Heimkehr von dieser Reise findet (516) in Lu eine Umwälzung statt, durch die der Herzog gezwungen wird, in den Nachbarstaat Tch'i zu flüchten. Konfuzius begleitet seinen Landesherrn dahin; doch ist er nicht lange dort geblieben: schon 514 finden wir ihn wieder in Lu. Hier verweilt er nun ununterbrochen achtzehn Jahre lang. Die ersten vierzehn Jahre dieser Frist sind nur privater Tätigkeit, dem Studium und der Unterweisung der immer zahlreicheren Schüler, gewidmet. Dem Staatsleben und den Aemtern hält er sich fern, weil die mächtigsten Persönlichkeiten unsaubere Charaktere waren. Im Jahre 501 trat jedoch ein Umschwung ein, und die politischen Verhältnisse wurden besser. So findet sich Konfuzius jetzt bereit, in den Staatsdienst zu treten, in dem er doch am ersten den Wert seiner Ideen praktisch beweisen konnte. Er wird im Jahre 500, nunmehr 51 Jahre alt, Gouverneur der Stadt Tschung tu, bald danach Leiter der öffentlichen Arbeiten (unter dem Minister), schließlich Minister der Justiz. Natürlich weiß die Ueberlieferung allerlei von den gewaltigen Erfolgen seiner Amtstätigkeit zu berichten, was wir als zweifelhaft beiseite lassen.

Diese seine Wirksamkeit als hoher Staatsbeamter in Lu erreichte schon nach drei bis vier Jahren (497) ein plötzliches Ende. Der Grund lag darin, daß der Herzog Ting, der damalige Regent von Lu, sich von Konfuzius' Weisungen und überhaupt von den Staatsgeschäften abwandte und einem trägen Genußleben verfiel. Das soll veranlaßt worden sein durch den Herrscher des Nachbarreiches Tch'i, welcher mit Besorgnis gesehen habe, wie das Land Lu unter dem segensreichen Einflusse des Konfuzius und seiner Staatsklugheit immer mehr in die Höhe kam, und dadurch überflügelt zu werden fürchtete; er habe deshalb eine Anzahl schöner Mädchen und edler Pferde an den Herzog Ting gesandt und ihn damit auf liederliche Wege gelockt. Als Konfuzius gesehen habe, daß sein Fürst sich gar nichts mehr um die Staatspflichten bekümmere, sondern dauernd hinter Vergnügungen herjage, habe er sein Amt niedergelegt und sein Land verlassen.

Die historische Glaubwürdigkeit dieser Darstellung mag auf sich beruhen. Jedenfalls verlor Konfuzius seinen Einfluß auf den Herzog von Lu und ging deshalb außer Landes. Er handelte ebenso, wie sein berühmter Zeitgenosse Yen Ying, Minister am Hofe des Fürsten von Tch'i, dem erwähnten Nachbarreiche, zweimal handeln wollte, als er mit seinem Herzoge Tching in Zwiespalt geriet; doch wurde die Sache bei Yen Ying durch die Nachgiebigkeit des Landesherrn gut gemacht [R58]. Etwas Aehnliches erwartete auch wohl Konfuzius: sein Fortgehen sollte den pflichtvergessenen Fürsten zur Besinnung bringen, daß er den Philosophen zurückriefe und sich seiner Leitung wieder hingäbe. Aber nichts dergleichen geschah. Vielmehr war das Ueberschreiten der Grenze von Lu für Konfuzius der Beginn einer dreizehnjährigen Exil- und Wanderzeit, schwer und entbehrungsreich, zumal für einen Mann, der im Uebergang zum Greisenalter stand (es waren die Jahre 55 bis 68 seines Lebens).

Diese Wanderzeit ist für die Ueberlieferung von Konfuzius' Person und Gedankenwelt sicher besonders wichtig geworden. Begleitet von einer Anzahl von Schülern durchzog er die Nachbarlande von Lu. Kein Zweifel, daß die Schüler, welche ihn bei diesem meist mühseligen Umherschweifen zu begleiten den Mut und die Ausdauer hatten, ihm sehr zugetan waren. Ebenso war es nur natürlich, daß er, mit ihnen täglich und stündlich vereint und auf Unterhaltung mit ihnen angewiesen, über seine philosophischen Ideen wieder und wieder sprach, auch aus seinem früheren Leben manches mitteilte. Zugleich konnten die Jünger den Meister bei allerlei Vorfällen in seinem praktischen Verhalten beobachten. Das Bild seiner Person und seiner Geisteswelt wird sich den Begleitern darum in diesen dreizehn Jahren lebhaft eingeprägt haben, so daß die spätere Ueberlieferung, vor allem das Material des Buches Lön yü, zumeist auf dieser Wanderzeit beruhen mag.

Die Feudalstaaten, welche Konfuzius durchzog, und in denen er sich zum Teil lange aufhielt, waren hauptsächlich Tch'i (der Nachbarstaat nördlich von Lu), Wei (im Westen von Lu), Tsch'ên (südlich von Wei), und Tsch'u, ein bedeutender Staat im Süden, der den Yangtsekiang berührte. Auch der Staat Sung (südlich von Lu) wird von Szï-ma Tch'ien genannt. Obwohl man dem Wanderlehrer, da sein Name bekannt genug war, öfters mit Auszeichnung begegnete und über seine Anstellung verschiedentlich verhandelt wurde, gelang es ihm doch nirgends, Fuß zu fassen. (Wohl aber gewann damals einer seiner Schüler, Yen Yu, in seiner Heimat Lu einen einflußreichen Posten.) Zeitweise bedrohte den umherziehenden Philosophen sogar persönliche Gefahr, und gelegentlich bedrängte ihn bittrer Mangel am Nötigsten. Auch die Sehnsucht nach der Heimat lastete schwer auf ihm, und es schien ihm wichtig, die Unterweisung seiner Schüler in geordneten Verhältnissen daheim zum Abschluß zu bringen [R59]. Dennoch ertrug er sein Los mit Stärke und Ergebung, und das Bewußtsein, eine höhere Sendung zu erfüllen, befestigte sich ihm nur immer mehr: er hat diese seine Prüfung wohl bestanden.

Endlich wird er im Jahre 483, nun 68 Jahre alt, ehrenvoll nach Lu zurückgerufen, angeblich auf eine empfehlende Aeußerung seines Schülers Yen Yu, der, wie eben erwähnt, dort ein höheres Amt bekleidete. Die Regierung war von dem Herzog Ting schon seit einer Reihe von Jahren auf den Herzog Ai übergegangen, doch scheint der eigentliche Betreiber der Rückberufung einer der »Hausmaier« gewesen zu sein, die praktisch die Macht in Händen hatten, nämlich Tchi K'ang.

Vier Jahre noch durfte der Greis der wiedergeschenkten Heimat genießen. Er ging mit frischem Eifer an das Studium der alten Literatur, ohne durch ein öffentliches Amt behindert zu sein. Die Riten, die Urkunden, die Lieder, die Musik waren Gegenstände seiner Untersuchungen; besonders angezogen fühlte er sich von dem »Buche der Wandlungen« (I tching), auf das er erst jetzt näher aufmerksam geworden zu sein scheint. In allen diesen Gegenständen unterwies er auch beständig die Schüler, die sich zu ihm fanden. Es waren ihm aber noch einige harte Schläge für seine letzten Lebensjahre aufgespart. Er verlor im Jahre 483 seinen Sohn Li (Po yü), im Jahre 481 seinen Lieblingsjünger Yen Hui, und im Jahre 480 seinen bedeutenden Schüler Tse Lu. Besonders der Tod des Yen Hui ging ihm tief zu Herzen. Er begleitete ihn mit dem resignierten Worte: »Der Himmel will meinen Tod.« Und so war es. Kurz vor seinem Ende kam sein Jünger Tse Kung noch einmal zu ihm. Da sprach er von einem todbedeutenden Traume der letzten Nacht und rezitierte in wehmütiger Bewegung ein Verslein:

»Der T'ai schan dauert nicht,
Des Bauwerks Balken bricht,
Des Weisen Kraft versiegt.«

Eine Woche darauf war er gestorben (479 v. Chr.). Noch heute ist sein einfaches Grab bei der Stadt Tchü fou zu sehen [R60].

 

Schriftliche Aufzeichnungen seiner philosophischen Gedanken hat Konfuzius nicht hinterlassen. Obwohl er es als seinen Lebensberuf empfand, durch seine Unterweisung das Staatswesen und die Gesellschaft zu reformieren, so fühlte er sich doch nicht gedrungen, schriftlich eine Lehre niederzulegen, ein deutliches Zeichen, daß der Philosoph der damaligen Zeit mit Bücherschreiben noch nichts zu tun hatte [R61]. Vielmehr war die mündliche Unterweisung von Schülern das allgemein benutzte Mittel, und nur auf tüchtige überlebende Schüler gründete man die Hoffnung, daß die Lehre bleiben werde [R62].

Dennoch sind drei Bücher auf uns gekommen, in denen die Lehre des Weisen niedergelegt ist, nämlich die »Gespräche« (Lön yü), die »erhabene Unterweisung« (T'ai hsiô) [R63] und das »Beobachten der Mitte« oder, wie Ku Hung ming lieber übersetzen will, die »allgemeingültige Regel des Rechten« (Tschung yung). Alle drei sind spätere Aufzeichnungen, beträchtliche Zeit nach Konfuzius (in der ersten oder zweiten Generation nach ihm) niedergeschrieben. An Wichtigkeit für uns steht das Lön yü weit obenan. Auf die andern zwei Schriften werden wir späterhin noch zurückkommen. Das Lön yü wird aus vielerlei Ueberlieferungen des ganzen Jüngerkreises zusammengeflossen sein, zeigt übrigens deutlich an verschiedenen Stellen, daß es erst die Schüler der Schüler des Weisen gewesen sind, die das Material definitiv fixiert haben, und zwar in sehr einfacher Zusammenstellung, ohne das Bestreben einer organischen Verarbeitung [R64]. Die Nachwelt mag wohl dankbar sein für dies kunstlose Verfahren. Denn auf diese Weise sind die Worte des Meisters selbst in ihrer ursprünglichen Form ziemlich unverändert erhalten geblieben. Freilich sind es nur isolierte Aussprüche, ohne nähere Umstände, selten mit Andeutung der Veranlassung, völlig unsystematisch aneinander gereiht. Aber es ist doch ein sehr bedeutendes Material, das uns in direkten Kontakt bringt mit dem Innern des großen Mannes. Ein ganzes Buch darunter (das zehnte) ist auch den Einzelheiten seiner Person und Lebensweise gewidmet. Im Lön yü besitzen wir somit eine reiche, echte Quelle für unsre Kenntnis der Ideen des Konfuzius.

Tritt man von Lao tse herkommend an Konfuzius heran, so findet man sich mit einemmal wie in einer andern Welt. Dort gleichsam ein zeitloses Schweben über den Erscheinungen, ein tiefer Drang zum Transzendenten, eine selbstverständliche Gelöstheit von der historischen Umgebung und den historischen Beziehungen, ein gelassenes Sichabwenden von der Bühne des politischen Treibens, ja des irdischen Hastens und Jagens überhaupt, ein akzentuiertes Verneinen der sogenannten Werte und Ziele des Daseins, ein Zurückgehen in sich selbst, ein stilles Lauschen auf den feinen Pulsschlag eines letzten Rätsels, – und nichts von alledem bei Konfuzius. Er ist zeitgeschichtlich und historisch gebunden, der Welt zugewandt in den Formen, die seine Welt eben hat, selten und nebenbei einmal mit leiser Gebärde seine Stellung zum Uebersinnlichen andeutend; Volk und Fürst, Fürst und Volk sind die engen Pole seines Gedankenkreises, Menschenleben, so wie es um ihn her gelebt wird, ist ihm Arbeits- und Interessengebiet – »mit Vögeln und Vierfüßern kann ich nicht als mit Gleichen Gemeinschaft haben; wenn ich meine Bahn nicht vereinen kann mit der dieser Menschen, mit wem soll ich Gemeinschaft haben?« – dabei ohne Frage nicht frei von Ehrgeiz und irdischem Streben, durchdrungen von der Achtung vor Amt und Thron, vor Herkunft und Ueberlieferung, durchdrungen von der Wichtigkeit, die Regel und Richtschnur für den Menschen haben, eine in die bürgerliche und staatliche Sphäre eingesponnene Natur und von da aus sich seine Ziele setzend: so steht Konfuzius vor uns.

Gleichwohl finden sich Berührungspunkte in den Lehren der beiden Großen. Die Grundbegriffe des Lao tse, Tao und , spielen auch bei Konfuzius eine wichtige Rolle. Nur nehmen sie bei ihm ein anderes Gesicht an. Das beruht auf der Beschränkung seines philosophischen Gesichtskreises.

Konfuzius bezeichnet einmal (nebenher, aber sehr treffend) als seine Lebensaufgabe, daß er das Tao des Reiches herzustellen habe. »Wenn das Tao im Reiche bestände, so hätte ich nicht nötig, Aenderungen vorzunehmen« [R65]. An einer andern Stelle sagt Konfuzius von seiner Lehre, daß sie sich drehe um ein Einziges, das in allem wirksam sei. Der Schüler Tsêng erläutert das so, daß des Meisters Lehre es mit pflichtbewußter Gegenseitigkeit zu tun habe [R66]. Er nennt ihn damit also einen Moralphilosophen. Das Tao des Reiches und – Pflichtenlehre; in der Tat ist damit das Wesentliche getroffen.

Ohne Zweifel hat Konfuzius so gut wie Lao tse den Begriff des Tao als einen in seiner Zeit gängigen übernommen. Aber während das Tao bei Lao tse eine transzendent-erhabene Gestalt annahm und die Grundlage einer tiefsinnigen religiös-philosophischen Spekulation wurde, erleidet der Begriff des Tao bei Konfuzius eine Beschränkung und Vereinseitigung, wie das ganze Gebiet, welches die Gedanken des Weisen von Lu bestreichen, beschränkt und einseitig ist. Ein spekulativer Kopf war Konfuzius ganz und gar nicht. Ueber die letzte tragende Kraft der Welt, über Ur-Sache und Erscheinungen, über alles, was der irdischen Beobachtung nicht unmittelbar vorliegt, hat er keine besonderen Gedanken; auch sein Interesse versagt hier. Dies geht soweit, daß er selbst für religiöse Fragen, die ja durch ihr Ausschauen nach dem Jenseitigen der philosophischen Spekulation immer etwas verwandt sind, keine rechte Teilnahme aufzubringen vermochte. Seine Aeußerungen über das Religiöse hat man oft zitiert. Wohl kennt er göttliche Mächte, die »Geister der Berge und Flüsse« [R67], die »Geister des Erdbodens« [R68], die Seelen der Vorfahren [R69], die guten und bösen Wesen des Jenseits überhaupt (die Kuei und Schên); er kennt vor allem die höchste Macht des »Himmels«, den er in manchen Aeußerungen stark persönlich faßt [R70], wenn er ihn auch nie mit dem mehr persönlich klingenden Namen des »Herrschers in der Höhe« oder des »höchsten Herrschers« ( Schang Ti) benennt, sondern immer das unpersönlichere »Himmel« ( T'ien) vorzieht. Auch gibt Konfuzius »Gott, was Gottes ist«. Die Pflichten des Götterdienstes, einschließlich des Dienstes der gestorbenen Vorfahren, gehören durchaus in den Kreis seiner Pflichtenlehre, und er beobachtet gewissenhaft, was darüber Brauch und Sitte war. Gleichwohl beschäftigt das Jenseitige seine Gedanken nicht tiefer. Man muß sich in des Himmels Geschick, das über uns waltet, ergeben, darf wider den Himmel nicht murren, nicht sündigen; aber der Himmel ist eine dunkle Größe. »Ueber das Tao des Himmels in seiner Beziehung zu des Menschen Natur vernahm man von dem Meister nichts«, sagte sein Schüler Tse Kung [R71]. Als Tchi Lu den Konfuzius fragt nach dem Dienst der Dämonen und Geister, erwidert dieser: »Wenn du noch nicht einmal Menschen recht dienen kannst, wie kannst du da den Geistern dienen?«, und als derselbe weiter nach den Gestorbenen (und ihrer Verehrung) fragen will, schneidet der Meister die Frage ab mit der Gegenfrage: »Wenn du noch nicht einmal das Leben kennst, wie willst du von den Toten etwas wissen?« [R72] Einem andern Schüler rät er, wenn er weise sein wolle, sich von Geisterwesen (und den Fragen danach) in aller Ehrerbietung fern zu halten [R73].

Das Gebiet des Konfuzius ist das klar erkennbare Gebiet der irdischen Wirklichkeit im engeren Sinn. Und das bedeutete für ihn China, die chinesische Volksgemeinschaft, den chinesischen Staat.

Hier nun bekommt das Tao seine eigene Geltung. Ausgehend von der Bedeutung »Weg, Bahn«, nämlich rechter Weg, richtige Bahn, sieht Konfuzius in dem Tao die Triebkraft, welche eine Lebensgemeinschaft regiert und auf der bestimmten Bahn ihrer Entwicklung vorwärts führt. Das größte und wertvollste Gemeinwesen, der Staat, steht so unter einem Tao –, wir würden (mit einer kälteren Nuance des Ausdrucks) sagen: unter einem Entwicklungsgesetz. Alles hängt von der Bewahrung dieses Tao ab; es zu erhalten ist die eigentliche Regierungskunst. Die drei Dynastien des Altertums, die berühmten Idealkaiser Yao, Schun und Yü, befolgten das rechte Tao [R74]. »Das Tao der großen Vorbilder Wen und Wu aus dem Beginn der Tschou-Dynastie ist noch nicht völlig dahin«, sagt Tse Kung einmal, und er ist überzeugt, daß Konfuzius es erneuert hat [R75]. Es gibt Länder und Staaten, die das Tao haben, und solche, die es nicht mehr haben [R76]. »Da die Hochstehenden ihr Tao verloren haben, ist das Volk seit langem in Auflösung«, sagt Tsêng tse einmal [R77], und ähnlich spricht der Grenzwächter von I, mit dem Konfuzius im Beginn seines Wanderlebens zusammentrifft: »Das Reich ist schon seit langem ohne Tao, da gebraucht der Himmel den Meister als Warnruf« [R78].

Dies Tao des Staates hat im Grunde etwas Metaphysisches, das sich auch bei Konfuzius trotz seiner nüchtern-diesseitigen Art nicht ganz verleugnet. Es ist eine geheimnisvolle Macht, deren Wirken in dem Schicksal des Reiches zum Ausdruck kommt. Ob diese geheimnisvolle Macht sich ausbreitet oder aber verschwindet, das ist Schicksal ( Ming). Der Einzelne steht dem ohnmächtig gegenüber [R79]. Das Tao wird nun aber besonders konzentriert gedacht in den Herrschern und von ihnen aus wirkend. Hat es bei ihnen eine Stätte und macht es in ihnen sich geltend, dann ist das segenbringend für das ganze Volk. Da nun die großen Idealkaiser des Altertums als vollkommene Träger des Tao galten, so mußte unter ihnen der Zustand des Reiches auch ein idealer sein und konnte so ohne besondere Anstrengung, wie von selbst, aufrecht erhalten werden. Hier ist ein Punkt, an dem sich Konfuzius einen Augenblick eng mit Lao tse, speziell mit dessen Wu-wei-Lehre berührt. Was Lao tse von den Herrschern des höchsten Altertums sagt, daß sie durch ihr bloßes Dasein das Volk aufs trefflichste regierten (vgl. S. 68), dasselbe preist auch Konfuzius an jenen Idealkaisern. »In welch majestätischer Art haben doch Schun und Yü die Herrschaft des Reiches geführt, und es machte ihnen keine Mühe!« »Groß war wahrlich Yao als Herrscher! wie majestätisch! Der Himmel allein ist groß, aber Yao entsprach ihm! Etwas Gewaltiges war es! Die Leute hatten keine Worte dafür!« »In Yü kann ich keinen Makel finden.« »War Schun nicht einer, der regierte, ohne viel Aufhebens machen zu müssen? Was tat er denn? Ehrfurchtgebietend und untadelig nahm er den Thron ein« [R80]. Aehnlich denkt er auch noch von den Anfängern der Tschou-Dynastie: »Die Tüchtigkeit (Tê, Betätigung von Tao!) des Hauses Tschou darf man den Gipfel der Tüchtigkeit nennen« [R81]. Dem entspricht es ganz und gar, wenn Konfuzius die Wirkung, welche von den Tao-erfüllten Herrschern ausstrahlt, wie automatisch das Volk gestaltend schildert: »Der Meister sagte: Der, welcher einen Staat regiert, gleicht dem Polarstern: der steht fest an seinem Orte, und alle Sterne wenden sich ehrerbietig ihm zu.« Tchi Kêng sprach einst bekümmert über Räuberunwesen zu Konfuzius. Dieser erwiderte: »Wenn du, o Herr, selbst ohne verkehrtes Verlangen wärest, so würdest du sogar durch Belohnungen die Leute nicht zum Stehlen bringen können.« Er hält deshalb nichts von harten Bestrafungen: »Was braucht man als Regent zu töten? Wenn deine Neigungen, Herr, gut sind, wird dein Volk auch gut sein. Vornehmer Mann und niedriger Mann verhalten sich zueinander wie Wind und Gras: das Gras muß sich neigen, wenn der Wind darüber fährt.« »Wenn ein Fürst in seiner Person untadelig lebt, so wird es unter ihm ohne alle Gebote richtig gehen; ist er aber in seiner Person nicht untadelig, so wird man auch guten Geboten nicht folgen« [R82]. Als ausgeprägtes Dogma tritt diese Anschauung hervor in folgendem Worte der »Erhabenen Lehre«, dem Echo der Schule auf des Meisters Weisung: »Nie ist es vorgekommen, daß der Herrscher Menschlichkeit liebte und die Untertanen nicht das Rechte liebten. Nie ist es vorgekommen, daß, wenn er das Rechte liebte, des Herrschers Arbeit erfolglos blieb. Nie ist es vorgekommen, daß solchen Landes angesammelter Reichtum nicht in des Herrschers Händen blieb« [R83].

Dieser Glaube an die von den Herrschern notwendig ausstrahlende Macht ihres Tao stellt Konfuzius, wie gesagt, ganz in die Nähe des Lao tse [R84]. Auch bei ihm sehen wir hier das mythische Denken wirken, dessen starken Einfluß wir bei Lao tse konstatierten. Es ist mythisches Denken, wenn das Reich als ein geheimnisvoller Organismus aufgefaßt wird, innerhalb dessen bestimmte zauberhaft zusammenhängende und ineinander fließende Vorgänge und Größen den Gang der Dinge bestimmen; von solcher mythischen Auffassung hat sich bei Konfuzius in dem Glauben an das Tao des Reiches und an die automatische Einwirkung des Herrschers noch etwas erhalten. Und auch in einigen andern Richtungen spürt man das mythische Denken bei ihm noch; so in seiner Einschätzung der Musik.

Die Musik mit ihren fünf Grundtönen gehört für das mythische Denken der Chinesen, wie wir oben sahen, unter die geheimnisvollen Mächte, deren Entsprechungen das menschliche Gemeinschaftsleben wie auch die Naturvorgänge eigenartig durchwalten und bestimmen. Die Töne sind ein Etwas, das sich einflußreich, oft verhängnisvoll geltend macht im Dasein; die Art, wie sie hervorgebracht werden, und der Charakter der Musik, die man macht, haben daher große Wichtigkeit für die Allgemeinheit. Kein Wunder, daß man daraufhin aus der Musik eines Volkes und Zeitalters den höheren oder tieferen Stand der allgemeinen Entwicklung meinte ablesen zu können. Kein Wunder, daß die Ueberwachung und Regelung der Musik eine Staatsangelegenheit war, und daß die Einführung neuer oder die Umgestaltung alter Musik eigentlich nur vom Kaiser ausgehen durfte [R85].

Dieser Auffassung ist auch Konfuzius zugetan. Es scheint wohl, daß er von Natur eine starke Empfänglichkeit für Musik besaß [R86], aber seine Schätzung der Musik wird doch nicht sowohl von dem ästhetischen Empfinden der Tonschönheit bestimmt, als umgekehrt die musikalische Schönheit für ihn getragen wird von einem gewissen metaphysischen Charakter der Musik. Die Musik des alten Kaisers Schun, die sog. Schao-Weisen, stand ihm darin obenan; er charakterisiert sie als »vollkommen schön und vollkommen gut« [R87]. Als er sie im Staate Tch'i kennen lernte, war er gewaltig von ihr ergriffen und soll sie drei Monate lang mit Vernachlässigung alles andern studiert haben. Das »Gute« dieser Musik lag darin, daß sie eine Verkörperung der Güte des Kaisers Schun war und diese Güte ausbreitete und mitteilte. Eine andere Musik, die des von ihm gleichfalls hochverehrten Königs Wu von der Tschou-Dynastie, schätzt er dahin ein, daß sie allerdings vollkommen schön, aber nicht vollkommen gut sei, und zwar nach den Kommentaren deshalb nicht vollkommen gut, weil die kriegerische Natur des Wu darin Gestalt gewonnen habe und kriegerisch erregend wirke. Andere ältere Musik, die des Staates Tschêng, nennt Konfuzius »wollüstig« und warnt vor ihr [R88]. In seinem Urteil kommt er zu der für uns zunächst unbegreiflichen Bemerkung: »Wenn die (öffentlichen) Angelegenheiten nicht gedeihen, so können Zeremoniell und Musik nicht blühen; wenn diese beiden nicht blühen, so werden die Strafen (die Gesetze) nicht richtig vollzogen« [R89]. Eine unvollkommene Musik beeinflußt den Gang der Justiz nachteilig.

In der letzterwähnten Aeußerung ist das Zeremoniell ( Li) mit der Musik zusammen genannt. Diese beiden Begriffe stehen einander auch sonst bei Konfuzius sehr nahe. Und es ist wieder das mythische Denken, das die beiden so eng verbindet. Denn auch in des Philosophen hoher Einschätzung des Li wirkt deutlich genug das mythische Denken nach. Das Li ist ein ebenso wichtiger wie schwer zu übersetzender Begriff in der Konfuzianischen Gedankenwelt. Li umfaßt das äußere Zeremoniell sowohl in dem Auftreten des Individuums wie in der Beziehung der sozialen Gruppen zueinander, ferner in der Ausführung der öffentlichen Handlungen, wie sie vom Kaiser herab bis zum geringsten Untertan bei Anlässen von Wichtigkeit (Opfern, Hochzeiten, Beerdigungen) vollzogen werden. Hierbei regelt das Li Großes wie Kleinstes, Kleidung, Körperhaltung, Worte, Gebrauchsgegenstände, Gesichtsausdruck usw. Aber mit diesem äußeren »Zeremoniell« ist der Begriff des Li nicht erschöpft. Es gehört richtige innere Haltung und Gesinnung dazu. Die äußeren Formen müssen mit respektvollem, anständigem, unter Umständen ehrfurchtsvollem Empfinden, mit einem Sinn für das gebührende Verhältnis der Menschen zueinander verbunden sein. Li bedeutet also ein äußerlich-innerliches Rechtverhalten in allem, was repräsentativ ist [R90]. Abendländer haben für die Wertung des Li bei Konfuzius gewöhnlich sehr wenig Verständnis. Sie sehen hier nur den Formalisten, den Kleinigkeitskrämer, den unnatürlich Gespreizten. Erkennt man aber die Quelle, aus der die Li-Verehrung entspringt, so wird man unsern Philosophen hierin wohl etwas anders beurteilen. Die Quelle ist das mythische Denken. Die Formen nämlich, in welchen die wichtigeren Handlungen des menschlichen Gemeinschaftslebens sich abspielen, sind für das mythische Denken durchaus nicht etwas Gleichgültiges oder Nebensächliches, sie bedingen vielmehr wesentlich den Erfolg, des Menschen Schicksal. Jede Kleinigkeit des »Zeremoniells« hat wirkende Wichtigkeit, eine Vorstellung, die sich zu unsern Zeiten im Abendlande noch auf dem engen Gebiete bestimmter religiöser Handlungen hie und da erhalten hat [R91]. Vor allem gilt das für die Vornahme der Handlungen, die der Kaiser als Inbegriff von Staat und Volk zu vollziehen hat. Aber von da aus gewinnt die gleiche Vorstellung auch Boden bei allen irgend repräsentativen Handlungen, bei allen formulierten Beziehungen der Stände und der Familien und der einzelnen Volksglieder untereinander. In dem Zeremoniell, das dieses alles regelt, äußern sich sehr wesentliche Einflüsse der Wohlfahrt oder des Nachteils. Es ist daher von eminenter Wichtigkeit, alle hierher gehörigen Einrichtungen genau zu kennen und zu beurteilen. Die minutiöse Achtsamkeit, welche Konfuzius bei seinem Aufenthalt in Lo yang dem Studium der Altertümer daselbst zuwandte, tritt so in ein ganz anderes Licht, ebenso wie seine sonstige Aengstlichkeit in Fragen des Zeremoniells. Es waren die Grundlagen des öffentlichen Wohles, um die es sich bei dem Li handelte. Daher war für Konfuzius der Kaiser, dieser mystische Gipfelpunkt des Staates, auch der rechte Ursprungsort des Li und dieses ein Ausfluß der kaiserlichen Hoheit [R92]. Unter den Kaisern aber sind es wieder die alten, die der ersten Dynastien, die hierbei eine hervorragende Geltung haben. Denn damals war das Tao des Staates noch ungebrochen stark.

Wenn nun Konfuzius das Li doch auch innerlich versteht und sozusagen ethisch vervollständigt, indem er rechte Gesinnung als seine Grundlage verlangt, so mischt sich da in das mythische Denken eine andere Strömung seiner Gedanken ein, von der wir bald näher zu reden haben. Ehe wir aber dazu schreiten, sei noch ein Zug kurz erwähnt, in welchem sich auch etwas von mythischer Denkweise andeutet, nämlich die Wertschätzung rechter Benennung.

Als Konfuzius am Ende seiner Wanderjahre stand, hatte es eine Zeitlang den Anschein, als ob der Fürst von Wei, bei dem er sich befand, ihn in seine Dienste nehmen wollte, und der Jünger Tse Lu, der schon in Diensten des Fürsten stand, legte dem Meister (wohl auf Wunsch des Fürsten) die Frage vor, was er als Leiter der Regierung für die erste und wichtigste Aufgabe halten würde. Konfuzius antwortet: vor allem wichtig sei, die Benennungen (Namen, Ming) richtig zu gestalten [R93]. Er entwickelt dann weiter, wie auf der Richtigkeit der Bezeichnungen die Wahrheit der Rede beruhe, auf dieser aber das Gedeihen der öffentlichen Angelegenheiten, hierauf wiederum die Blüte von Zeremoniell und Musik und damit die Rechtspflege. In diesem Gedankengange scheint auch mythische Denkweise nachzuwirken. Die Namen sind eben für das mythische Denken wichtige wirkende Qualitäten, deren Versäumung und Verwirrung sehr schädliche Folgen hat. Wir erinnern uns, wie schon Têng Hsi Gewicht legte auf die Korrektheit der Namen, und schon bei ihm könnte darin ein Rest mythischen Denkens sich äußern, obwohl seine Darlegungen mehr rational scheinen. Auch bei Konfuzius haben die meisten Ausleger der angeführten Stelle eine rationale Begründung zu geben gesucht [R94]. Vielleicht aber entfernt man sich damit von dem ursprünglichen Sinne der Aeußerung.

Wir sind bisher dem nachgegangen, was bei Konfuzius mehr oder weniger deutlich dem sog. mythischen Denken entspringt, dem also, worin dieser Philosoph eben auch Kind seiner Zeit war. Das Eigentümliche an der Lehre des Konfuzius ist nun aber, daß seine Individualität in ihren stärkeren Zügen jener mythischen Denkweise entwuchs und eine Auffassung von den Pflichten anstrebte, die man als rational bezeichnen muß. Er selbst empfindet dies Streben in sich als etwas Besonderes. Es ist seine Mission, die der Himmel ihm auferlegt hat und um derentwillen der Himmel seine schirmende Hand über ihm hält. Allerdings ist das, was wir in dem Lön yü lesen, kein richtiges System rationaler Pflichtenlehre; ein organischer Aufbau der Gedanken liegt nicht vor, vielmehr nur Einzeläußerungen, hervorgerufen von gelegentlichen Anlässen und Impulsen, die gegenseitig hie und da Widersprüche und Unausgeglichenheiten zeigen [R95]. Doch spürt man wohl, daß Konfuzius sich immerfort müht, den Fragen der Pflicht nachdenkend beizukommen, und daß seine Gedanken auch bis zu einem gewissen Grade feste Gestalt angenommen haben. Man kann daher aus seinen Aussprüchen wohl eine Art Lehrsystem konstruieren, wenn man darin auch ein wenig über ihn hinausgeht. Wir lassen bei dieser Heraushebung der rationalen Pflichtenlehre unsres Philosophen jene Ansätze mythischen Denkens, die wir bisher ins Auge faßten, ganz bei Seite; sie kreuzen sich inkommensurabel mit seinem rationalen Denken und müssen deshalb hier außer Acht bleiben, wenn auch der »Mensch mit seinem Widerspruch« sie zu vereinen wußte.

Der große Gegenstand von Konfuzius' philosophischem Bemühen war, wie wir oben schon bemerkten, das chinesische Volk als staatliche Lebensgemeinschaft. Er erfuhr in seinen Tagen mit tiefstem Kummer, daß diese Lebensgemeinschaft sich in gefährlicher Auflösung befand (vgl. oben S. 43 ff.). Mit aller Macht versucht er, sich dem Verfall entgegenzustemmen, und dies ist der höchste und letzte Zweck aller seiner Lehren. Gelegenheit, diese Lehren in Wirklichkeit umzusetzen, hat er selbst wenig bekommen, denn seine Tätigkeit als niederer Beamter spricht hier kaum mit, und als höherer, leitender Beamter erfreute er sich nur einer kurzen Wirksamkeit; aber in der Heranbildung von Jüngern konnte er für die Zukunft säen. So fällt aller Akzent auf die Unterweisung seines Schülerkreises, innerhalb dessen er lebendig zu machen sucht, was ihm die Rettung zu sein scheint.

Der Zustand des Staates hängt davon ab, wie regiert wird. Was bedeutet Regieren? Tchi K'ang, das Oberhaupt einer der drei mächtigen Familien im Staate Lu, denen faktisch die Herrschaft gehörte, fragt den Konfuzius eines Tages danach. Konfuzius antwortet: »Regieren heißt die rechte Richtung geben.« Der kurze Ausdruck Tschêng, in den hier alles zusammengefaßt ist, der übrigens auch in dem chinesischen Schriftzeichen für »regieren« steckt und dessen Bedeutung bestimmt, bezeichnet das Gerade und Rechte, oder (als Verbum) gerade und richtig machen, in Ordnung bringen. Die Antwort war, wenn sie kurz und einfach sein sollte, sehr gut. Aber es entspringen daraus doch wieder unmittelbar zwei neue Fragen, nämlich: worin besteht die rechte Richtung? und: wie bringt man die Menschen in diese Richtung? Beiden Fragen geht Konfuzius nach.

Worin besteht die rechte Richtung? Was ist das Rechte?

Ein Jünger (Tse Kung) stellte dem Meister einst die Frage, ob es wohl ein einziges Wort gebe, wonach man sein ganzes Leben regeln könne? In dieser Frage liegt deutlich ein Tasten nach einem Grundprinzipe der Pflichtenlehre. Der Meister antwortet darauf: »Ist das nicht Gegenseitigkeit ( Schu)? Was du dir selbst nicht wünschest, das füge auch andern nicht zu« [R96]. Demselben Tse Kung, der einmal meint, er habe dies Ziel sittlichen Strebens erreicht, entgegnet Konfuzius mit Entschiedenheit: »Soweit bist du noch nicht!« Er hält die Aufgabe offenbar für eine sehr schwere. Im Tschung yung stellt der Meister dieselbe Maxime der Gegenseitigkeit auf [R97]. Hier wird solche Handlungsweise nicht einfach » Schu« genannt, wie in der vorhin erwähnten Stelle, sondern » Tschung schu«, »pflichtbewußte Gegenseitigkeit«. Nun erinnern wir uns, daß wir früher (S. 77) einem Ausspruch begegneten, wonach »pflichtbewußte Gegenseitigkeit« den einen beherrschenden Inhalt der ganzen Lehre des Konfuzius ausmachte. Wir dürfen die » Gegenseitigkeit« also sicher als den prinzipiellen Ausgangspunkt der Konfuzianischen Pflichtenlehre annehmen.

Der Mensch findet sich vor als ein Gemeinschaftswesen; er lebt mit anderen und durch Hilfe anderer. Es ergibt sich daraus als naturgemäße erste Forderung an jeden, daß er als Gemeinschaftswesen handle und Gegenseitigkeit zur Regel seines Verhaltens mache: »Benimm dich gegen andre so, wie du es von ihnen wünschest.«

Diese Grundregel wird von unserm Philosophen freilich negativ formuliert: »Füge andern nicht zu, was du selbst dir nicht wünschest.« Aber es wäre verkehrt, darauf viel Gewicht zu legen. Wir werden bald sehen, daß Konfuzius der näheren Darlegung des Inhalts seiner Maxime durchaus positive Fassung gibt.

Gegenseitigkeit; also Verpflichtung, den andern zu leben so gut wie mir selbst, da ich auch von ihnen Hilfe für mein Leben beanspruche. Man sieht, daß solche Haltung sich sehr der Menschenliebe, der Nächstenliebe nähert. Man hat Schu auch öfter geradezu so übersetzt [R98]. Doch tut man nicht gut daran. Dem Begriffe der Gegenseitigkeit fehlt die Gemütswärme, die mit »Nächstenliebe« verbunden ist, es ist ein kühlerer, mehr rationaler Begriff, eine logische Ableitung aus dem Verhältnis des Menschen als eines Gemeinschaftswesens. Zudem aber hat die Lehre des Konfuzius für Nächstenliebe einen besonderen Ausdruck und Begriff, der sehr unsere Aufmerksamkeit verlangt, das ist » Jên«.

Indem nämlich die Pflicht der Gegenseitigkeit im Menschen lebendig wird, indem sie gleichsam im Gemüte zündet, einen Affekt hervorruft, entsteht daraus die Menschenliebe oder Menschlichkeit, Jên. Während von der Gegenseitigkeit, obwohl ihr deutlich der grundlegende Platz in der Gedankenwelt des Philosophen gegeben wird, wenig die Rede ist, so tritt dagegen die Menschenliebe in Konfuzius' Aeußerungen bedeutend hervor [R99]. Er definiert sie sehr bestimmt: »Fan Tch'ï fragte, was Menschlichkeit sei? Der Meister sagte: Die Menschen lieben!« [R100] Ein andermal sagt er: »Menschlichkeit besteht darin, daß ich ebensowohl das Bestehen anderer wie mein eigenes wünsche, daß ich ebenso das Vorwärtskommen anderer wie mein eigenes wünsche.« Unmittelbar daran schließt er das sehr bezeichnende Wort: »Die Kunst der Menschlichkeit liegt darin, daß wir das, was uns zunächst ist (d. h. unsre eigenen Regungen), zum Verständnis anderer gebrauchen« [R101]. Aus solchen Aeußerungen ergibt sich klar, daß unser Philosoph die Gegenseitigkeit nicht nur negativ versteht, obwohl wir sie oben so formuliert sahen, sondern daß er ihr den vollen Inhalt positiver Menschenliebe gibt. Denn in der Menschlichkeit wird die Gegenseitigkeit eben lebendig, und das Feld der Tätigkeit deckt sich bei beiden.

Menschenliebe ist das Grunderfordernis aller Sittlichkeit. Sie erst ist es, die andere Fähigkeiten krönt, ohne sie ist alles andre nahezu wertlos. Daher: »Ein Mensch ohne Menschenliebe, was soll ihm feines Benehmen (Li)? Ein Mensch ohne Menschlichkeit, was soll ihm Musik?« [R102] Umgekehrt aber gilt: »Wer entschieden nach Menschlichkeit strebt, der begeht nichts Böses« [R103]. Die Menschenliebe gibt die Kraft der Ausdauer und Beständigkeit sowohl im Angenehmen wie im Unangenehmen, man kann auf ihr »beruhen«. Daher tut man gut, wenn man einen Wohnplatz unter Menschen sucht, vor allem darauf zu achten, daß man unter Leuten wohne, die Menschlichkeit besitzen [R104]. Für den »vornehmen Charakter« ( Tchün tse), den Typus des edelsten Strebens, von dem wir weiterhin noch mehr zu reden haben werden, ist Menschlichkeit das Unentbehrlichste. »Wollte ein vornehmer Charakter die Menschlichkeit fahren lassen, wie würde da diese Bezeichnung noch auf ihn passen? Ein vornehmer Charakter handelt auch nicht einmal für die kurze Zeit eines Mahles der Menschlichkeit zuwider; im Drunter und Drüber, in Not und Tod hält er fest an ihr« [R105].

Es ist aber nicht leicht festzustellen, ob Menschenliebe im Herzen eines Menschen herrscht. Im fünften Buche des Lön yü wird eine Art Revue abgehalten über eine Anzahl von Schülern des Konfuzius und andere Männer von Ruf. Der Meister wird veranlaßt, über diesen oder jenen sein Urteil abzugeben, wobei offenbar die Absicht dahin geht, herauszufinden, wem der höchste Besitz, Menschlichkeit, eigen sei. Der Meister erkennt allerlei Gutes bei den Genannten an, aber die volle Menschlichkeit spricht er mit Sicherheit keinem zu. »Ich weiß es nicht«, ist immer wieder sein Urteil. Man sieht dabei deutlich, wie hoch die Menschlichkeit auch über vielerlei seltene Begabungen und Charaktereigenschaften gestellt wird. Man kann ein tüchtiger militärischer oder bürgerlicher Beamter sein, ein geschickter Repräsentant, ein Staatsdiener voll Selbstbeherrschung und Hingebung, ein fleckenloser Charakter, und doch, – ob man Menschlichkeit besitzt? »Ich weiß es nicht.« An andrer Stelle [R106] spricht Konfuzius offen aus, daß er noch nie jemanden getroffen habe, der Menschlichkeit (im vollen Sinne) liebe und das, was nicht der Menschlichkeit entspreche, hasse. Es sei doch wohl möglich, meint er, wenigstens einmal einen Tag lang seine ganze Kraft an die Verwirklichung der Menschenliebe zu setzen. Aber – wo ist der Mann? Aehnlich lautet die sarkastische Bemerkung [R107], daß die Leute Menschlichkeit mehr als Feuer und Wasser fürchteten; denn »ich habe Menschen sich in Feuer und Wasser stürzen und umkommen sehen, aber noch nie sah ich jemand sich auf Menschenliebe stürzen und umkommen«. Gelegenheit, um Menschlichkeit zu üben, ist überall vorhanden, man hat nicht weit danach zu suchen [R108]. Aber die Aufgabe ist so schwer, daß selbst ein Mann, der wohl schwere Dinge durchzusetzen weiß, sie noch nicht bewältigt [R109]. Und doch ist es die Last, die der (rechte) Beamte auf seine Schultern zu nehmen bereit sein muß [R110]. Und wenigstens aus dem Altertum kann Konfuzius gelegentlich von zwei Prinzen zugeben, daß sie nach Erfüllung der Menschlichkeit gestrebt haben [R111]. Sich selbst wagt Konfuzius nicht als im vollen Besitz von Menschlichkeit zu bezeichnen; nur das sagt er von sich, daß er sich darum bemüht und andere dahin weist [R112], wie man ähnlich auch wohl im allgemeinen von dem vornehmen Charakter ( Tchün tse) sagen muß, daß er die volle Menschlichkeit zwar noch nicht erreicht haben mag [R113], aber doch nach ihr strebt.

Auf eines muß noch besonders hingewiesen werden: Jên, die Menschlichkeit oder Menschenliebe, ist nicht etwa eine bedingungslose und unterschiedslose All-Liebe. Es gilt vielmehr der charakteristische Satz: »Nur der Mann der Menschlichkeit ist es, der andere lieben oder hassen kann« [R114]. Daß dabei an das Lieben und Hassen von Personen zu denken ist, zeigt der Zusammenhang der Stelle im T'ai hsiô, wo dies Wort zitiert wird. Eine allgemeine Liebe zu allen Menschen, etwa auch zu Bösewichten, lehnt Konfuzius bewußt ab; als jemand ihn nach dem Rechte des (im Tao tê tching aufgestellten) Satzes fragte, daß man Unbill mit Güte vergelten müsse, erwiderte Konfuzius: »Womit willst du dann Güte vergelten? Vergilt Unbill mit Gerechtigkeit, und vergilt Güte mit Güte« [R115].

Wenn Menschlichkeit sich in Handlungen äußert, so tragen diese den Charakter von » Tugenden« ( ). Der Begriff der Tugend steht also dem der Menschlichkeit sehr nahe, so daß beide für einander gesetzt werden können [R116]. Doch ist die Tugend das äußerlich Hervortretende (die »Betätigung« wie Tê im Tao tê tching). Daher wird gesagt, daß fernwohnende Stämme, die unbotmäßig würden, durch Einwirkung von »Kultur und Tugend« ( Wên Tê) angezogen werden müßten [R117]. Die Tugend ist hier ein äußerlich hervortretendes Anlockungsmittel.

Wie betätigt sich nun die » Tugend« im Einzelnen?

Wir sahen oben (S. 85), daß Konfuzius die Aufgabe der Regierung darin erkannte, daß sie die rechte Richtung zu geben habe. Wir fragten: was ist die rechte Richtung, das Rechte? Eine vorläufige, allgemein orientierende Antwort ist uns darauf gegeben mit den zwei Prinzipien der Gegenseitigkeit und der Menschlichkeit. Wenn wir nun nach der Auswirkung dieser Prinzipien im Einzelnen fragen, so tritt uns da wieder der Begriff » Tschêng«, die rechte Richtung geben, entgegen und zwar zunächst mit Bezug auf die einzelne Persönlichkeit. Soll das Gemeinwesen die rechte Richtung gewinnen, so muß zuvor der Einzelne bei sich selbst die rechte Richtung annehmen, er muß, wie Konfuzius es nennt, seinem »Herzen« die rechte Richtung geben ( Tschêng hsin), er muß sich selbst für das Rechte erziehen.

Das »Herz« ist vor allem der Sitz der Gefühle und Wünsche, der Neigung und Abneigung. Die rechte Richtung bedeutet hier fürs erste, daß man die Herrschaft gewinnt über Genußsucht jeder Art. »Wenn ein Forscher, der nur nach dem Tao blicken sollte, sich seiner schlechten Kleidung und geringen Nahrung schämt, so ist er nicht der Mann, um mit ihm zu diskutieren« [R118]. »Der vornehme Charakter sucht im Essen keine sinnliche Befriedigung und in seiner Wohnung keine Bequemlichkeit« [R119]. Von sich selbst sagt der Meister: »Grober Reis als Speise, Wasser als Getränk, mein gekrümmter Arm als Stütze, – selbst in solcher Lage bin ich froh« [R120]. Von Yü, dem Kaiser des Altertums, rühmt er: »Aermlich war er in Speise und Trank, – – dürftig in seiner gewöhnlichen Kleidung – – und er lebte in einem geringen Hause!« [R121].

Gleichgültig gegen sinnliche Lebensgenüsse, soll der rechte Jünger dagegen mit voller Entschlossenheit und Aufrichtigkeit den höheren Zielen nachstreben. Pflichtbewußtsein und Wahrhaftigkeit ( Tschung und Hsin) müssen ihn dabei leiten, und zwar so sehr, daß nicht einmal die Rücksicht auf Erfolg für ihn irgend bestimmend sein darf [R122]. Alle nicht zur Sache gehörenden Nebengedanken müssen verbannt werden, damit der Wille allein seiner Aufgabe gehöre. Und zwar ist die nächste Aufgabe » Lernen«, » Studium« ( Hsiô). Von sich selbst bekennt Konfuzius, daß sein Sinn mit fünfzehn Jahren auf Lernen gerichtet war [R123], und wieder und wieder betont er die Wichtigkeit des Lernens. Darunter ist nun freilich nicht ein uninteressiertes, theoretisches Forschen auf allen möglichen Wissensgebieten zu verstehen. Das Lernen des Konfuzius hat ein bestimmtes Gebiet, einen bestimmten Gegenstand im Auge, nämlich den Menschen und seine Verhältnisse, es ist somit völlig praktisch (ethisch) orientiert (vgl. oben S. 78). Will man klare, richtige Einsicht gewinnen in die Probleme des Menschenlebens, so genügt es nicht etwa, darüber nachzudenken; »ich habe«, bemerkte der Meister einmal, »den ganzen Tag nicht gegessen, die ganze Nacht nicht geschlafen, um (über einen gewissen Punkt) nachzudenken, aber es fruchtete nichts: besser ist, die Sache zu studieren« [R124]. Das Studieren oder Lernen geschieht aber vor allem auf einem bestimmten Wege, nämlich mit Hilfe des Altertums und seiner Dokumente.

Die Vergangenheit Chinas ist das große Reservoir, aus dem man Belehrung zu schöpfen hat. Was Konfuzius von sich selbst sagt: »Ich besitze mein Wissen nicht durch natürliche Anlage, ich liebe das Altertum und beeifere mich, es (das Wissen) von dorther zu gewinnen« [R125], – das gilt ihm auch als Regel für die Schüler. Die Beispiele der großen alten Herrscher und der guten Staatsdiener, ihr Verhalten in allerlei Lebenslagen, ihre Aussprüche, die Einrichtungen, die sie getroffen haben, die Bräuche, denen sie folgten, das ist die Quelle der besten Belehrung. Die Geschichte nimmt hier etwa den Rang und Platz ein, den bei andern Völkern eine göttliche Offenbarung behauptet, und die Art, wie Konfuzius den geschichtlichen Stoff behandelt, hat Aehnlichkeit mit der Weise, wie man etwa im Christentum oder Judentum lange die biblischen Berichte behandelte: nicht der kühle historische Blick herrscht hier, sondern eine ehrerbietige Idealisierung, die nach Vorbildern und Warnungsbildern sucht. Diese Art der Geschichtsbetrachtung hat der Meister deutlich veranschaulicht in dem einzigen literarischen Werke, das er der Nachwelt hinterlassen hat, nämlich in dem Tsch'un tch'iû, dem »Frühling- und Herbstbuche«, der Chronik seines Heimatstaates Lu. Der Text dieses Werkes, so wie er uns vorliegt, bietet freilich scheinbar sehr wenig, nichts als allerlei oft sehr unbedeutende Einzeltatsachen, die auf das trockenste in kurzen Sätzen nach Jahren, Monaten, Jahreszeiten aneinander gereiht sind. Doch ist, wie O. Franke unlängst überzeugend nachgewiesen hat [R126], der geschriebene Text absichtlich von Anfang an in einer eigenen Terminologie kurz und verhüllend formuliert, weil er an sich selbst dunkel sein sollte; daran aber war eine mündliche eingehende Erläuterung geknüpft, die zu überliefern Aufgabe der Schüler blieb. Erst die Erläuterung der kurzen Formeln des änigmatischen Textes gab dem Werke seinen hohen Wert. Die Pointe dieser Erläuterung aber war: »Das Tsch'un tch'iû erklärt Recht und Unrecht, darum ist es wichtig für die Regierung« [R127]. Ein Lehrbuch für den Regierenden, das ihn über Recht und Unrecht, über das, was sein soll und nicht sein soll, aufklärt, hat also Konfuzius aus der Geschichte der letzten Jahrhunderte seiner Heimat gebildet. Und in demselben Sinne hat er unfraglich seine Jünger immerfort in der Geschichte Chinas unterwiesen und sie diese Geschichte studieren gelehrt. Aus ihr lernte man die Menschen und ihre Beziehungen und Pflichten, aus ihr sich selbst mit seinen Mängeln und Fehlern kennen.

In diesem Sinne verwertete Konfuzius nicht nur die geschichtliche Ueberlieferung in engerem Sinne, wie man sie damals besaß, sondern ebensosehr die »Lieder« der alten Zeit, die später als das sog. Liederbuch (Shï tching) von ihm redigiert wurden. Den Text dieser Lieder machte er auf eine eigentümliche Weise, die wieder sehr an die Behandlung religiöser Texte in anderen Kreisen erinnert, seinem Zwecke dienstbar, nämlich durch umdeutende Auslegung. Die meisten jener Lieder waren ja naive Volkslieder, die von Liebe und Leid, von Lust und Not des menschlichen Daseins sangen, ohne besondere moralische oder sonstige belehrende Abzweckung. Aber Konfuzius findet in diesen Liedern einen tieferen Sinn, sittliche Warnungen oder politische Winke oder sonstige Fingerzeige für den, der das Leben studiert. Er sagt: »In dem Liederbuch finden sich 300 Lieder, deren Inhalt sich aber in ein Wort fassen läßt, nämlich: hege keine schlechten Gedanken!« [R128]. Das letzte Wort ist selbst ein Zitat aus den Liedern [R129], hat aber dort eine sehr beschränkte Beziehung, nämlich auf den Eifer eines Herrschers von Lu um die Pferdezucht. Konfuzius faßt es tiefer. Und so auch sonst. Von seiner Oden-Auffassung sind uns im Lön yü einige Beispiele erhalten [R130], die alle zeigen, daß er den Text seinen Ideen anzupassen suchte und es als eine besondere Reife bei den Jüngern ansah, wenn sie aus einem Satze der Lieder eine ethische Lehre erheben konnten.

Es ist daher nicht zu verwundern, wenn der Meister seinen Schülern das Studium der Lieder stark anempfahl: »Kinder, warum studiert ihr nicht die Lieder? Die Lieder können euch anregen; sie können euch die Augen öffnen; sie können euch Gemeinschaftsleben lehren; sie können euch Beherrschung des Hasses lehren; sie lehren das Nächstliegende, dem Vater recht zu dienen, und das Fernerliegende, dem Fürsten recht zu dienen; sie machen uns bekannt mit den Namen von allerlei Vögeln, Vierfüßern, Pflanzen und Bäumen« [R131]. Seinem eigenen Sohne (Po yü), den der Meister übrigens nicht unter seine Schüler aufgenommen hat, gab er als einzige nachdrückliche Anweisung den Rat, die Oden, speziell die zwei ersten Sammlungen des heutigen Werkes, zu studieren [R132]. Die Lieder waren zusammen mit der Geschichte (und der Beobachtung des Li) ein besonders häufiger Gegenstand der Gespräche des Meisters mit den Jüngern, wie uns ausdrücklich gemeldet wird [R133]. Freilich finden wir in unserm Lön yü heute nur sehr wenige Spuren davon.

Aus der Geschichte also, die alten Lieder eingeschlossen, gewinnt der Studierende seine Belehrung über das Leben der Gegenwart und seine Pflichten. Auf diesem Wege gelangt er zum Wissen ( Tschï). Denn dies ist das Ziel des Lernens. Auch das Wissen ist rein ethisch-praktisch geartet, es ist das Wissen um den Menschen und seine Beziehungen, seine Pflichten. »Was ist Wissen? Der Meister erwiderte: Menschenkenntnis« [R134]. »Man muß nicht beklagen, daß man den Menschen nicht bekannt ist; wohl aber wäre es zu beklagen, wenn man die Menschen nicht kennte« [R135].

Die Menschen und ihre Beziehung zu einander kennen schließt nun natürlich wieder eine Menge Einzelheiten in sich. Es handelt sich hier um aufmerksame Beobachtung des Lebens, eine Beobachtung, die durch die betriebenen Studien unterstützt wird. »Der Meister sagte: Beachte, womit jemand zu tun hat; merke auf seine Motive; prüfe, womit er zufrieden ist. Wie könnte ein Mensch wohl (solchem Beobachter) verborgen bleiben? Ja, wie könnte er verborgen bleiben?« [R136] Es handelt sich aber auch um klare Erkenntnis dessen, was dem Einzelnen je nach seinem Stande und Verhältnissen zukommt, um die Erkenntnis der rechten Normen des Lebens. Hier wird Verschiedenes bei verschiedenen Gelegenheiten hervorgehoben. Das Wichtigste darunter sind die drei Forderungen: Aufrichtigkeit oder Wahrhaftigkeit ( Hsin), Rechtlichkeit ( I), Ehrerbietung oder Achtung ( Li, seiner inneren Seite nach, als die Gesinnung, die dem guten Benehmen zugrunde liegen muß) [R137].

Wahrhaftigkeit ist ein natürlicher Trieb und unerläßlich für jedermann. »Der Mensch ist von Natur aufrichtig.« »Der Meister sagte: Ich begreife nicht, wie jemand ohne Wahrhaftigkeit auskommen kann. Wenn ein großer Wagen keinen Deichselträger hat oder ein kleiner Wagen keinen Jochhaken, wie können sie sich bewegen?« [R138]. Des Verhehlens der wahren Gesinnung hinter liebenswürdigem Aeußeren sollte man sich schämen [R139]. Aufrichtigkeit ist ein besonderes Erfordernis im Verkehr mit Freunden, wovon weiter unten noch die Rede sein wird. Es gibt aber freilich Fälle, wo die Wahrhaftigkeit hinter einer höheren Pflicht zurücktreten muß. Hierüber wird ein charakteristischer Beleg mitgeteilt [R140]. »Der Herzog von Schê äußerte gegen Konfuzius: In unserer Gegend sind wahrhaft aufrichtige Leute! Jemand, dessen Vater ein Schaf gestohlen hat, legt, obwohl sein Sohn, Zeugnis gegen ihn ab. Konfuzius erwiderte: Die Aufrichtigen in unserer Gegend handeln hierin anders. Ein Vater würde das Vergehen seines Sohnes verhehlen, und ein Sohn würde das Vergehen seines Vaters verhehlen. Darin äußert sich ihre Aufrichtigkeit.«

Die Rechtlichkeit (Gerechtigkeit) stellt Konfuzius der Gewinnsucht gegenüber: »Der vornehme Charakter versteht sich auf Gerechtigkeit, der Niedrige versteht sich auf Gewinn« [R141]; oder mit deutlicherer Beziehung auf das Gesetz: »Der vornehme Charakter hält sich an gesetzliche Bestimmungen, der Niedrige hält sich an Gewinnung von Gunst« [R142]. Es ist also an das strikte und gewissenhafte Beobachten von Rechtsvorschriften und an einen dadurch geschärften Sinn für Rechtlichkeit überhaupt zu denken, der sich durch persönlichen Vorteil und Rücksicht auf Menschen nicht bestimmen läßt.

Das Dritte und Wichtigste ist Li, das »Zeremoniell«, hier aber zu verstehen als die innere Kraft der Ehrerbietung und Achtung gegen den Mitmenschen, aus der die äußeren Anstandserweise fließen sollen. Ueber Li als die Summe der äußeren Verkehrsregeln ist schon oben (S. 82) im Zusammenhange mit dem mythischen Denken des Philosophen gesprochen. Aber Konfuzius erfaßt das Li tiefer. Er sieht hinter den äußeren Formen das Bemühen, dem Mitmenschen die gebührende Achtung zu erweisen, ihn in seiner Sonderexistenz an der Stelle, die er inne hat, anzuerkennen. Weil Konfuzius die Verkehrsregeln auf diese Weise ansah, legte er einen besonderen Wert auf das Li. Es versteht sich leicht, daß das Li bei dieser Betrachtung in engste Verwandtschaft mit seinem allgemeinen ethischen Prinzipe, Jên, Menschlichkeit, treten mußte, es war ja die nächste und weitreichendste Betätigung derselben. Ohne Menschlichkeit ist ihm Li daher wertlos [R143]. Die bloß äußerliche Entfaltung der guten Form, wie glänzend auch immer, ist nicht wahres Li. »Ach, die sogenannten Formen! die sogenannten Formen! Meint man, sie bestehen in Edelsteinen und Seide?« [R144] Solch eine äußerliche Formbeobachtung kommt erst in zweiter Linie, nämlich wenn das Innere des Menschen Ehrerbietung und Achtung gelernt hat [R145]. Wenn aber die gute Form aus innerer Achtung geboren ist, dann ist sie für das Menschenleben von ungeheurem Werte. Sie ist das naturgemäße Gewand, in das sich Respekt und Ehrerbietigkeit kleiden. Besäße man dies Gewand der Formen nicht, so müßte der Erweis der Ehrerbietung zu einer Last werden, Sorgsamkeit würde Aengstlichkeit, Kühnheit würde Aufsässigkeit, Gradheit würde Grobheit [R146]. Beobachtet man dagegen das Schickliche in rechter Weise, so bildet es eine nützliche Grundlage des Gemeinschaftslebens. Die in den Schicklichkeitsregeln sich äußernde Achtung vor dem andern ist dann das rechte Band aller untereinander: »Wenn der vornehme Charakter die Ehrerbietung nicht außer acht läßt, wenn er gegen andre Achtung zeigt und auf diese Weise das Li geübt wird, dann werden innerhalb der vier Seen alle Brüder sein« [R147].

Alle Brüder, – das klingt etwas nach Gleichheit und Brüderlichkeit eines rein demokratisch nivellierten Staatswesens. Aber so meint es Konfuzius keineswegs. Denn sein Li übt zugleich einen andern, ganz entgegengesetzten Einfluß. Die guten Formen sind nämlich ebensowohl feste Dämme, die die Standesgrenzen wahren, sie sind eine Hilfe gegen allgemeine Nivellierung. Jeder Stand hat seine eigenen Formen der Achtung und Anerkennung. Sie müssen sorgfältig gewahrt werden. Leute, die sich Umgangsformen und Einrichtungen anmaßen, wie sie ihnen ihrem Stande nach nicht zukommen, sind gefährliche Elemente im Staate [R148]. Besonders die Hochstehenden müssen das Li in acht nehmen, sie sind seine gebornen Hüter [R149]. Gelegentlich kann Konfuzius alle Pflichten des vornehmen Charakters dahin zusammenfassen, daß er sich zur Ehrerbietigkeit gegen andere erziehen müsse, das heißt zu innerlicher Erfassung des Li; auch Yao und Schun, die alten ruhmreichen Kaiser, hätten es nicht weiter gebracht [R150]. Hier merkt man deutlich die nahe Verwandtschaft des Li mit dem Prinzip der Menschlichkeit, auf die wir vorhin wiesen. Darum wird auch Li als der unentbehrliche Stützpunkt des Charakters bezeichnet: »Besitzt man keine Kenntnis des Li, so fehlt einem jede Grundlage« [R151].

Indem der strebsame Jünger den Wert jener drei wichtigen Grundforderungen: Wahrhaftigkeit, Rechtlichkeit und Ehrerbietigkeit erkennt, kann er sich selbst nach diesen Normen erziehen. Diese Selbsterziehung ( Hsiû shên, Ausbildung der eigenen Person) ist die beständige praktische Aufgabe des Philosophen. Die einzelnen Züge, welche hierbei hervorgehoben werden, sind folgende: Im Reden sei man zurückhaltend und vorsichtig, eher wortkarg als zur Unzeit gesprächig; das Wort muß immer wahr und zuverlässig sein [R152]. Im Handeln bedarf es einer sicheren Entschlossenheit ( Min, Ernst, auf die Sache gerichtet), die in der gesunden Mitte bleibt zwischen hitzigem Uebereifer und scheuer Zurückhaltung [R153]. Ferner ist Mut eine unerläßliche Eigenschaft des Weisen: Furcht, Bangigkeit, ängstliche Rücksicht auf sich selbst darf er nicht kennen [R154]. »Wer das Rechte sieht und tut es nicht, ist ein Feigling« [R155]. Doch muß der Mut an der Gerechtigkeit gemessen werden, sonst entartet er zur Unbotmäßigkeit (Gewalttat) [R156]. Der Entschlossenheit und dem Mut nahe verwandt ist die Zuverlässigkeit, das Pflichtbewußtsein ( Tschung), gelegentlich auch Ausdauer ( Hêng) genannt [R157]. In seinem Auftreten ist der Weise würdevoll und gemessen, beständig der Regeln des Li eingedenk, darum aber zugleich auch ehrerbietig und rücksichtsvoll gegen andere. Die Rücksicht mildert sich, wenn nötig, zur Nachsicht ( Kuan), der Ernst zu gewinnender Freundlichkeit, besonders gegenüber Dienenden [R158].

Wenig und vorübergehend nur wird gesprochen von Bescheidenheit oder Demut [R159]. Doch ist dabei zu bemerken, daß das rechte Gebiet für die Geltung der Demut das Familienleben ist, in dessen näherem Zusammenhange wir sie unter dem Allgemeinbegriffe der »Pietät« suchen müssen; ferner aber darf man nicht vergessen, daß in den starken Mahnungen, begangene Fehler einzugestehen und sich zu bessern, eine demütige Gesinnung unzweifelhaft eingeschlossen liegt. »Hast du gefehlt, so scheue dich nicht umzukehren.« »Nicht umzukehren, wenn man gefehlt hat, das erst heißt wirklich fehlen.« »Sein eignes Böse muß man bekämpfen, nicht aber das der andern« [R160].

Wir haben hiermit einen Ueberblick gewonnen über das, was Konfuzius unter dem Begriffe eines recht gearteten Menschen versteht. Das Bild bekommt aber noch allerlei kräftige Nuancen dadurch, daß wir uns den recht gearteten Menschen nun in verschiedenen Sonderbeziehungen des Lebens stehend denken müssen, durch die unterschiedliche Aufgaben und eine unterschiedliche Ausprägung der Pflichten bewirkt werden.

Der Mensch ist Gemeinschaftswesen (vgl. oben S. 86). Das Gemeinschaftsleben zerlegt sich in verschiedene Gebiete, die wie konzentrische Kreise ineinander liegen. Der innerste Kreis ist die Familie; der nächstweitere die Freundesgemeinschaft; der weiteste ist das Staatswesen. Die in diesen drei Kreisen zu erfüllenden Pflichten wurden von den Schülern des Konfuzius zu der bis auf den heutigen Tag üblichen Formel von den fünf allgemein geltenden Beziehungen ausgebildet: es gibt fünf allgemeine Lebensbeziehungen mit ihren besonderen Aufgaben, nämlich die Beziehung zwischen Fürsten und Staatsdiener, zwischen Vater und Sohn, zwischen Mann und Frau, zwischen älterem und jüngerem Bruder, zwischen Freund und Freund [R161]. Es ist klar, daß sich diese fünf Beziehungen auf drei Lebenskreise, die oben genannten, verteilen. In jedem dieser drei Kreise gewinnt die Uebung der Tugend ihren besonderen Ausdruck, und nur indem das geschieht, indem »der Fürst Fürst ist und der Minister Minister, indem der Vater Vater ist und der Sohn Sohn« [R162], geht das Leben des Ganzen seinen rechten Gang.

Der wichtigste der drei Kreise ist der innerste, das Familienleben. Hier liegt das Fundament des Staates.

Im Familienleben treten drei Beziehungen hervor: die von Vater und Sohn, die von Mann und Frau, die von Brüdern zu einander. Die überherrschende Pflicht auf diesem Gebiete ist die kindliche » Pietät« ( Hsiao). Dieser Begriff, der schwer durch einen deutschen Ausdruck voll wiedergegeben werden kann, umfaßt alle Aufgaben des kindlichen Gehorsams und der kindlichen Hilfe in den Formen vollendeter Ehrerbietigkeit. Und zwar erstrecken sich diese Aufgaben nicht nur durch die Lebenszeit der Eltern (die Mutter wird dem Vater meistens angeschlossen), sondern auch über den Tod hinaus, indem für Bestattung und Verehrung der Abgeschiedenen Sorge getragen werden muß [R163]. Die kindliche Pietät ist die »Menschlichkeit« (Jên) auf dem Boden der Familie, gekleidet in die Formen des Li. Daher heißt es, daß die kindliche Pietät und die Bruderpflicht die »Wurzel der Menschlichkeit« seien [R164]. Die kindliche Pietät verlangt nicht nur die äußerlich zu leistende Pflege und Unterstützung der Eltern, sondern vor allem auch eine ehrerbietige Weise, dies zu tun. Erst durch diese Weise und die darin lebende Gesinnung erhebt sich der Mensch über das Tier [R165]. In den Gesichtszügen soll die Ehrerbietung beständig zu lesen sein. Den Wünschen und Ansichten der Eltern entgegenzutreten, ist dem Sohn nicht gestattet. Zwar mag er leichte Vorstellungen erheben, wo er es für nötig hält; aber wenn er sieht, daß sie auf ihrem Standpunkt beharren, so füge er sich in aller Ehrfurcht und grolle nicht, wenn es ihm Schwierigkeiten macht [R166]. Je höher die Lebenszeit der Eltern steigt, desto achtsamer und fürsorglicher soll der Sohn werden, einerseits froh, daß sie so lange erhalten bleiben, anderseits besorgt, da ihr Ende immer näher kommt [R167]. Sind die Eltern dahingeschieden, so müssen die mancherlei Pflichten einer rituellen Bestattung und der darzubringenden Opfer mit derselben Ehrfurcht und Sorglichkeit ausgeführt werden, die man den Lebenden schuldig war. Die innerliche Anhänglichkeit über den Tod hinaus zeigt sich darin, daß der Sohn wenigstens drei Jahre lang an der Lebensweise des Vaters nichts ändert [R168].

Von den Pflichten der Eltern, insbesondere des Vaters, gegen die Kinder ist nicht weiter die Rede. Konfuzius setzte wohl voraus, daß die natürliche Liebe zu den Kindern und der hohe Wert der Söhne für die Ahnenverehrung die Eltern von selbst alles werde tun lassen, was hier nötig sei [R169]. Doch war Liebe für Konfuzius immer mit Strenge verbunden [R170].

Das Verhältnis von Vater und Sohn wiederholt sich in den Beziehungen des älteren Bruders zu dem jüngeren. Brüder sollen gütig gegeneinander gesinnt sein, doch liegt der Akzent auf der Unterwerfung ( Ti) des Jüngeren unter den Aelteren [R171]. In die Einzelheiten wird das Verhältnis nicht verfolgt.

Noch weniger vernehmen wir über die Beziehungen zwischen Gatte und Gattin. Einmal wird, nur beispielsweise, die treue Anhänglichkeit von Mann und Weib gegen einander erwähnt, die (beim Tode des Einen) den Ueberlebenden zum freiwilligen Tode veranlasse; doch wird diese Anhänglichkeit abfällig beurteilt: sie kann nicht das Vorbild sein für einen hochstehenden Mann bei einem Konflikt zwischen persönlichen Beziehungen und öffentlichen Aufgaben [R172]. Der Vergleich ist ungeschickt; es äußert sich darin aber deutlich eine gewisse Kühle gegen die eheliche Verbundenheit. Ein andermal sagt Konfuzius: »Mädchen und niedrige Charaktere sind schwer zu behandeln; ziehst du sie freundlich heran, so werden sie unbotmäßig, hältst du sie dir fern, so grollen sie« [R173]. Wer hier mit dem Ausdrucke »Mädchen« gemeint sei (viele Kommentatoren sagen, es gehe auf Konkubinen, obwohl der Ausdruck das nicht direkt beweist), bleibt ungewiß. – Jedenfalls aber trat für Konfuzius das weibliche Geschlecht völlig in den Hintergrund, wie er auch der Töchter oder der Schwestern gegenüber den Brüdern nie Erwähnung tut. Von einer sittlichen Vertiefung der geschlechtlichen Verhältnisse redet er nicht. Nur daß ihm sinnliche Freuden und die Lust am Weibe als der Tugend widerstrebend und hinderlich erscheinen, gibt er deutlich zu erkennen [R174].

Soviel über den innersten Kreis, das Familienleben.

Darüber hinaus liegt der Kreis der Freundschaft. Die Menschlichkeit, Jên, sucht naturgemäß auch an Freunden sich zu erweisen: »der vornehme Charakter gewinnt durch seine Studien Freunde und fördert seine Menschlichkeit im Verkehr mit ihnen« [R175]. Als allgemeine Regel gilt, daß man nur seinesgleichen zu Freunden nehmen soll [R176], was jedoch nicht sowohl auf äußeren Besitz, als auf Charakter, Neigungen und Beschäftigungen zu beziehen ist. Der Wert der Freundschaft liegt darin, daß der sittliche Charakter durch sie gefördert wird: Freunde sind gleichsam die Werkzeuge, mit denen man an sich arbeitet [R177]. So ist es denn auch die wesentliche Freundesaufgabe, den Freund nach Kräften zu erziehen: »Tse Kung fragte nach (dem Wesen der) Freundschaft. Der Meister sagte: den Freund soll man pflichtbewußt ermahnen und ihm geschickt den Weg weisen; ist das nicht möglich, dann laß ab und zieh dir selbst keine Schande zu« [R178]. Weil sittliche Förderung der wesentliche Inhalt des Freundesverhältnisses ist, bildet Aufrichtigkeit die wichtigste Pflicht gegen den Freund. Man muß offen sprechen von den Mängeln und Fehltritten der Freunde. So ist des Konfuzius eigenes Ideal in bezug auf Freunde, kurz ausgedrückt, daß er ihnen Aufrichtigkeit beweisen möchte, und zwei der Jünger des Philosophen äußern sich ebenso [R179]. Dementsprechend kennzeichnet der Meister auch als nützliche Freunde vor allem die Aufrichtigen, die Ehrlichen und die Erfahrenen, während er vor der Freundschaft mit Affektierten, Leisetretern und Schönschwätzern warnt [R180]. Man darf sich im Verkehr mit Freunden ja nicht behaglich gehen lassen; vielmehr ist der Weise auch unter seinen Freunden »gemessen und in sich gekehrt« [R181]. Daß ein Freund dem Freunde in Notfällen beistehe und auch sein Vermögen daran wende, galt dem Meister jedenfalls für selbstverständlich. Heißt es doch von ihm, daß er bei dem Todesfall von Freunden, deren Angehörige nicht über die nötigen Mittel verfügten, selbst das Begräbnis auf sich zu nehmen pflegte. Doch hielt er Gaben und Geschenke unter Freunden für etwas Unwesentliches und zeigte keine besondere Dankbarkeit bei solchen Gelegenheiten (»verneigte sich nicht«); nur bei Uebersendung von Opferfleisch (Totenopfer) dankte er nachdrücklich durch Verneigung, weil es mit der Ehrerbietung gegen die Verstorbenen zusammenhing [R182].

In dem Staatswesen, dem dritten und weitesten Kreise, vollendet sich der Aufbau des gemeinsamen Lebens und bewährt sich erst recht der Unterbau der Erziehung, die am Individuum, in der Familie und im Freundeskreise stattgefunden hat. Regieren, sahen wir oben (S. 85), heißt: »die rechte Richtung geben«. Wie gibt man einem Volke die rechte Richtung? fragten wir. Die jetzt gefundene Antwort lautet: indem man den einzelnen Faktoren des Staatslebens, dem Individuum, der Familie, der freundschaftlich verbundenen Gruppe, die rechte Richtung gibt. Haben diese das Rechte gefunden, so wirkt sich das im Staatsleben wie von selbst aus. Daher konnte Konfuzius auf die Frage, was eine gute Regierung ausmache, die einfache Antwort geben: »Wenn der Fürst Fürst und der Minister Minister ist, wenn der Vater Vater und der Sohn Sohn ist«; das heißt: wenn jeder an seiner Stelle seinen Platz mit voller Einsetzung seiner sittlichen Kraft ausfüllt [R183]. Indes ergeben sich nun doch für die Regierung noch gewisse besondere ethische Fragen, die beantwortet werden müssen. Das wichtigste Erfordernis in dem Verhältnisse von Regierenden und Untertanen ist gegenseitiges Vertrauen. Es ist wichtiger als Verteidigungsmittel, ja selbst als Nahrung [R184]. Das Ziel der Tätigkeit des Fürsten muß sein, daß er sein Volk glücklich mache; gelingt ihm das, so wird er auch auf Fernwohnende Anziehung üben, daß sie sich unter sein Szepter begeben [R185]. Um das zu erreichen, muß er sich freilich der Schwierigkeit seiner Aufgabe bewußt sein und in seiner Stellung nicht einfach die Befriedigung der Willkür und Herrscherlaunen suchen. Er muß Widerspruch ertragen können, denn er ist wahrlich nicht unfehlbar und ohne Tadel [R186]. Doch geht Konfuzius in der Kritik des Fürsten nicht weit und verweilt bei diesem Thema längst nicht so eingehend und nachdrücklich, wie es später sein Fortsetzer Menzius tut.

Seine Beamten muß der Fürst wählen nach ihrer Begabtheit, also nicht nach persönlicher Gunst oder Abneigung [R187]. Das Verhältnis des Fürsten zu seinen Beamten bestimmt der Meister im allgemeinen dahin, daß der Herrscher seine Minister nach den Regeln der Schicklichkeit ( Li) behandeln müsse, daß aber die Minister dem Herrscher mit Gewissenhaftigkeit ( Tschung) zu dienen hätten [R188]. Diese Gewissenhaftigkeit besteht vor allem darin, daß man ehrlich und offen mit dem Herrscher verkehrt und ihm über die Dinge, die er wissen muß, reinen Wein einschenkt. »Kann man gewissenhaft sein, ohne Aufklärung zu geben?« fragt der Meister einmal; und ein andermal antwortet er auf die Frage, wie man Fürsten dienen solle: »Hintergehe ihn nicht und widersetze dich ihm (wenn nötig)« [R189]. Es ist bemerkenswert, daß der Minister hier zu etwas aufgefordert wird, was der Sohn dem Vater gegenüber nicht tun darf. Die Parallele zwischen dem Verhältnis von Vater und Sohn einerseits, Fürst und Beamten andrerseits, die im Prinzipe gezogen wird, verblaßt hier. Der tüchtige Minister muß die Kühnheit besitzen, seinem Souverän entgegenzutreten, wenn er verkehrt handeln will. Zur Gewissenhaftigkeit des Ministers gehört ferner, daß er bei der Erfüllung seiner Pflichten nicht an seinen Vorteil denkt, entsprechend dem, was Konfuzius von der Rechtschaffenheit eines vornehmen Charakters überhaupt gefordert hat [R190].

Die Haltung der Beamten gegen das Volk muß grundsätzlich bestimmt sein durch Menschlichkeit und Liebe, das höchste Prinzip der Gemeinschaft. Aber die Liebe der Regierung befaßt notwendig auch strenge Festigkeit [R191]. Gewarnt wird der Regierende vor Uebereilung und vor Kleinlichkeit. »Suche die Dinge nicht hastig abzutun und fasse nicht kleine Vorteile ins Auge. Wer die Dinge hastig abzutun sucht, der tut sie nicht gründlich, und wer kleine Vorteile im Auge hat, bringt die Hauptsachen nicht zustande« [R192]. Entschlossenheit, Klugheit und technisches Geschick sind insbesondere Eigenschaften, die für einen Beamtenposten geeignet machen [R193].

Im letzten Abschnitte des Lön yü läßt Konfuzius sich etwas eingehender aus über die Art, wie die Regierenden ihr Amt handhaben sollen. Er nennt fünf »Vortrefflichkeiten«, deren man sich befleißigen solle. Erstlich Gütigkeit ohne großen Aufwand, d. h. der Beamte soll dahin wirken, daß die Dinge, welche dem Volke nützlich sind, ihren vollen Nutzen bringen (voll ausgenützt werden); zweitens Heranziehung zu Diensten ohne Erbitterung des Volkes, indem man nämlich das rechte Maß zu halten weiß; drittens Forderungen ohne Habgier, indem nämlich immer die Neigung, dem Reiche zu nützen, nicht aber persönliche Gewinnsucht als Motiv gespürt wird; viertens Hoheit ohne Hochmut; fünftens würdevolles Auftreten ohne verletzendes Wesen. Dem gegenüber stehen vier »Schlechtigkeiten«, vor denen gewarnt wird. Erstlich Gewalttat, nämlich wenn man Leute tötet für etwas, über dessen Verkehrtheit sie nicht unterwiesen waren; zweitens Bedrückung, nämlich wenn man von Leuten auf der Stelle und ohne vorherige Anmahnung etwas Uebertriebenes verlangt; drittens Beraubung, wenn man nämlich einen leicht hingeworfenen und nicht ernst genommenen Befehl auf die Minute ausgeführt haben will; viertens geizige Knappheit in der Auslohnung für erwiesene Dienste [R194]. Besonders die vier »Schlechtigkeiten« lassen einen tiefen Blick tun in die zur Zeit des Konfuzius herrschenden Methoden des gewöhnlichen Beamtentums. –

Das sittliche Ideal des Konfuzius faßt sich zusammen in dem Bilde des » Vornehmen« ( Tchün tse), ein Ausdruck, den wir schon mehrfach berührten. Der Vornehme wird, mehr formal, gekennzeichnet als die rechte Verbindung zwischen Charaktergehalt und feinen Formen (»Bildung«, Wên) [R195]. Näher geschildert ist er eben der Inbegriff all der Tugenden, die der Pflichtenlehre des Konfuzius eigen sind, und die hier noch einmal mit Hinblick auf den Vornehmen anzuführen überflüssig wäre. Doch seien eine Reihe von Stellen hierhergesetzt, an denen der Tchün tse nach mehreren Seiten hin und in ausdrücklicher Weise charakterisiert wird, weil aus ihnen hervorgeht, welche Vorzüge sich für Konfuzius' Urteil besonders eng und naturgemäß mit dem Vornehmen verbanden.

»Der Meister sagte: Der vornehme Mensch hält Rechtlichkeit für das Wesentliche; er betätigt sie unter Beobachtung des Schicklichen; er bringt sie zur Geltung in rücksichtsvoller Weise; er führt sie durch in Wahrhaftigkeit; so ist ein vornehmer Mensch!« [R196] – Konfuzius sagte: »Der vornehme Mensch hütet sich vor dreierlei: in jungen Jahren, wenn sein Geblüt unruhig ist, hütet er sich vor Sinnenlust; ist er kraftvoller und sein Geblüt gefestigter geworden, so hütet er sich vor Streitigkeiten; ist er alt geworden und sein Geblüt abgelebt, so hütet er sich vor Habsucht« [R197]. Konfuzius sagte: »Es sind neun Dinge, auf die der vornehme Mensch bedacht ist: beim Sehen ist er bedacht auf Klarheit, beim Hören auf Verständlichkeit, beim Gesichtsausdruck auf Freundlichkeit, bei seiner Haltung auf Würde, bei seinen Worten auf Zuverlässigkeit, in Berufssachen auf gute Formen, bei Zweifelhaftem auf Erkundigung, bei Anlässen zu Aerger achtet er auf mögliche lästige Folgen, bei Aussicht auf Gewinn achtet er auf Rechtlichkeit« [R198]. Der Meister sprach: »Dreierlei ist es, was der vornehme Mensch verfolgt, und dessen ich noch nicht mächtig bin: Menschenliebe, die sich nicht sorgt, Wissen, das nicht schwankt, Mut, der sich nicht fürchtet« [R199]. »Tse Kung sagte: Kennt der vornehme Mensch auch Haß? Der Meister erwiderte: Freilich kennt er Haß. Er haßt den, der andrer Leute Fehler ausposaunt; er haßt den Mann in niederer Stellung, der seine Uebergeordneten verläumdet; er haßt Leute, die Mut, aber kein Gefühl für das Schickliche haben; er haßt die, welche eigenwillig zufahren und dabei beschränkten Geistes sind« [R200]. »Der Meister bemerkte von Tse Tsch'an, daß er vier Züge besitze, die dem vornehmen Charakter eigen seien: in seinem Umgang würdevoll, im Dienst der Höheren ehrerbietig, in der Sorge für das Volk gütig, in dem, was er vom Volke verlangte, gerecht« [R201].

Schließlich mögen noch einige Bemerkungen über den vornehmen Menschen hier Platz finden, die von singulärer Art sind und dem Bilde einige Züge hinzufügen.

Obwohl auf der einen Seite betont wird, daß der vornehme Charakter nichts darauf gibt, unter den Menschen bekannt zu sein und eine angesehene Stellung einzunehmen [R202], so heißt es doch auf der andern Seite (allerdings eine Aeußerung des Jüngers Tse Yung), daß der vornehme Charakter abgeneigt ist, eine niedrige Stellung in der Welt einzunehmen, also Ansehen unter den Menschen erstrebt [R203].

Die Ausdrucksweise (»er mag nicht einen tief gelegenen Platz einnehmen, wo alles Ueble der Welt zusammenströmt«) erinnert durch das gebrauchte Bild deutlich an das im Tao tê tching im entgegengesetzten Sinne gebrauchte Gleichnis vom Wasser, das die tiefstgelegenen Oertlichkeiten sucht, ein Vorbild des Tao und des taoistischen Weisen [R204]. Konfuzius selbst gibt dem Vornehmen wenigstens das Recht des Ehrgeizes, daß er doch nach seinem Tode genannt und bekannt sein möchte [R205]. Ein eigenartiger Zug des vornehmen Menschen ist ferner, daß er einen freien Blick nach allen Seiten zeigt und nicht parteiisch urteilt, daß er also, will das Wort besagen, nur die Sache selbst sprechen läßt und nicht durch die Stellung zu der Person bestimmt wird [R206]. Hierher gehört jedenfalls auch die Aeußerung eines Schülers, daß er durch Befragung des Po yü, des Sohnes von Konfuzius, gelernt habe, »daß der vornehme Charakter seinen Sohn in einem gewissen Abstand hält«; er zieht den eignen Sohn nicht, weil es sein Sohn ist, in der Behandlung vor, sondern behandelt ihn nach sachlichem Maßstabe, wie irgendeinen andern [R207]. Endlich hebt Konfuzius an dem vornehmen Menschen noch hervor, daß er wohl zu unterscheiden weiß zwischen Reden und Handeln; daß Worte noch keine Taten sind, bedenkt er wohl und wertet daher jedes auf seine Weise, ist aber für sich selbst bestrebt, eher in Taten seine Worte zu übertreffen als umgekehrt [R208].

Der vornehme Mensch ist sich der Bestimmungen des Himmels bewußt, er ist erwacht zu der Erkenntnis, daß ein Gesetz des Himmels, wir würden sagen: eine sittliche Weltordnung, unter uns herrscht. Diese Einsicht ist ihm wesentlich. »Der Meister sagte: Unmöglich ist es, ein vornehmer Charakter zu sein, wenn man die höhere Weisung nicht kennt« [R209]. Von sich selbst bekennt Konfuzius, daß er erst mit fünfzig Jahren die Weisungen des Himmels gekannt habe [R210]. Doch darf man wohl annehmen, daß ein stufenweises Fortschreiten in dieser Erkenntnis vorausgesetzt und bei jener Konstatierung an volle Reife der Erkenntnis gedacht wird. Uebrigens hat der Meister selbst sich nicht eingeschätzt als einen Tchün tse. Seine Selbstbeurteilung war sehr bescheiden, er kannte seine Mängel und Fehler. Aber daß er immer strebend sich bemühte, und daß er das Licht, das ihm strahlte, auch anderen leuchtend zu machen suchte, das nahm er für sich in Anspruch [R211].

 

In mündlicher Unterweisung, die gelegentlich und stückweise erfolgte, hat Konfuzius seine Gedanken den Schülern, die sich um ihn scharten, mitgeteilt, nur in Erinnerungen dieser Schüler lebten sie weiter. Doch haben die Schüler der ersten und zweiten Generation bereits das Bedürfnis gefühlt, ihre Erinnerungen schriftlich zu fixieren oder auch zu verarbeiten. Diesem Streben verdanken wir, wie oben schon bemerkt (S. 74), die Abfassung des Werkes Lön yü, in welchem sich, was man von des Meisters Aussprüchen, seiner Persönlichkeit und Lebensweise im Gedächtnis behalten hatte, niederschlug, naive, zunächst in kleineren Sammlungen zustande gekommene Aufzeichnungen, als deren Urheber noch deutlich eine Reihe von unmittelbaren Jüngern durchschimmern. Außerdem traten zwei andersartige Werke im Kreise der ersten Jüngergenerationen ins Leben, die uns noch einen Augenblick beschäftigen müssen, nämlich das T'ai hsiô und das Tschung yung, beide früher (S. 76) bereits kurz erwähnt. Die zwei Schriften waren ursprünglich dem Li tchi, dem Werke über Formen und Bräuche, einverleibt, von dem sich aber das Tschung yung schon seit dem 6. Jahrhundert nach Chr. loslöste, so daß später (vom 15. Jahrhundert an) in vielen Ausgaben des Li tchi nur noch der Name dieser Abhandlung geführt wurde, der Text selbst aber dort fehlte. Das T'ai hsiô dagegen bildete immer ein Stück des Li tchi. Als Verfasser nennt die chinesische Ueberlieferung für das Tschung yung mit Einmütigkeit, für das T'ai hsiô wenigstens teilweise den K'ung tchi (Beiname Tse szï), den Enkel des Konfuzius [R212]. Am T'ai hsiô werden auch Schüler des Konfuziusjüngers Tsêng ts'an (Tsï yü) beteiligt gewesen sein, wie denn dieser selbst darin lehrend das Wort ergreift.

Jedenfalls sind beide kleinen Werke hervorgegangen aus der Schule des Konfuzius in den ersten Generationen, und zwar bilden sie einen Versuch, die Lehre des Meisters systematisch darzustellen. Daß dieser Versuch gelungen wäre, wird niemand behaupten wollen; aber das Bestreben an sich ist beachtenswert.

Ueber die systematische Behandlungsweise spricht das einleitende Kapitel des T'ai hsiô (angeblich ein Text, der von Konfuzius selber herrührt) mit folgenden Worten: »Alles hat seine Wurzel und seine Verzweigung, alle Dinge haben Ende und Anfang. Wenn man begreift, was Erstes und Letztes sein muß, dann kommt man der Lehre näher.« Eine in der Natur der Sache liegende Ordnung soll also über die Darstellung herrschen und den Gedankengehalt greifbarer machen. Danach wird ein Leitfaden der Darstellung geboten in folgender Weise: »Das Bestreben der Alten, leuchtende Vortrefflichkeit vor aller Welt zu verherrlichen, zeigte sich darin, daß sie vor allem den Staat gut zu lenken suchten. Um das zu erreichen, mußten sie vor allem ihre Familie in Ordnung halten. Um das zu erreichen, mußten sie vor allem ihre eigene Person erziehen. Um das zu erreichen, mußten sie vor allem das eigene Innere recht leiten. Um das zu erreichen, mußten sie vor allem ihrem Ziel aufrichtig nachstreben. Um das zu erreichen, mußten sie vor allem ihre Kenntnis möglichst ausbreiten. Ausbreitung der Kenntnis lag in der Erforschung der Objekte.« Hier wird also ein siebenstufiger Zusammenhang konstatiert, der von der Erforschung der Objekte aufwärts führt bis zur guten Lenkung des Staates. Man erwartet nun, des weiteren eine diesem Zusammenhang nachgehende gründliche Pflichtenlehre entwickelt zu sehen. Aber die Ausführung ist sehr ärmlich. Sie besteht hauptsächlich in der Aneinanderreihung von allerlei Zitaten aus den Klassikern, durch die jene einzelnen Forderungen des siebenstufigen Aufstieges eindrücklicher gemacht werden sollen.

Das Tschung yung besitzt mehr Gehalt selbständiger Gedanken; aber die systematische Entwicklung läßt doch ebenfalls sehr viel zu wünschen übrig. Auch hier deuten einige (aus späterer Zeit stammende) einleitende Worte auf den beabsichtigten systematischen Charakter des Werks: »Diese Abhandlung beschäftigt sich mit den Gesetzen des inneren Lebens, so wie sie in der Schule des Konfuzius überliefert wurden; – das Buch spricht zuerst von dem einen Prinzip; es entwickelt dies sodann und wendet es auf alle Verhältnisse an; zum Schluß faßt es die Vielheit wieder in das eine Prinzip zusammen.« Danach ist an den Anfang des ersten Kapitels eine Art disponierten Themas gesetzt: »Was der Himmel verhängt hat, das heißt unsre Natur; der Natur sich fügen, heißt den rechten Pfad wandeln; die Uebung im rechten Wandel heißt Unterweisung.« Von diesem Thema soll das Folgende handeln. Aber der Gedankengang verläuft dann weiter unklar und willkürlich; er bewegt sich meist in Zitaten, die keinen ersichtlichen Zusammenhang mit dem Thema besitzen und allerlei Konfuzianische Lehren wiederholen. (Doch entfernt sich der Autor auch bisweilen [Kap. 24] von den Wegen des Meisters.) Gegen Ende (Kap. 30-32) wird Konfuzius in den höchsten Tönen verherrlicht, bis im letzten Kapitel unter Anlehnung an verschiedene Zitate aus dem Schï tching eine Art mysteriöser Zusammenfassung der höchsten Vollkommenheit gegeben wird. Das Ganze ist nur äußerlich ein Ganzes; innerlich zerfällt es in Einzelbemerkungen und Einzelbetrachtungen, die locker aneinander gefügt sind.

Wenn wir unsrerseits den Inhalt des Tschung yung uns einigermaßen systematisch zu ordnen suchen und ihn dann vergleichen mit den Aeußerungen des Konfuzius im Lön yü, so ist eine gewisse Erweiterung des Gesichtskreises nicht zu verkennen. Der Mensch wird mehr, als Konfuzius dies tut, im Zusammenhang des Weltganzen betrachtet. Daher wird hier häufig von der »Natur« des Menschen gesprochen, die ja in dem erwähnten vorangestellten Thema als das, was der Himmel über den Menschen verhängt oder ihm zugewiesen hat, bezeichnet ist. Worin aber des genaueren die Natur des Menschen besteht und wie sie sich zum empirischen Wesen des Menschen verhält, wird nicht klar. Nur daß ihr Idealzustand in Gleichgewicht und Harmonie bestehe, tritt deutlich hervor [R213]. Gleichgewicht herrscht da, wo die geistigen Regungen (Lust und Unlust) noch nicht lebendig geworden sind; Harmonie herrscht, wo diese Regungen in ihren richtigen Grenzen wirksam sind. Ohne daß diese »Regel des Rechten« ( Tschung yung) näher untersucht und dargelegt würde, wird sie als der Weg des »vornehmen Charakters« gepriesen. Aber die Handlungsweise des »vornehmen Charakters«, obwohl danach in manchen Einzelheiten beschrieben, findet keine genetische Ableitung von dem Tschung yung. Später wird versucht, den Charakter des »Vornehmen« zu begründen auf »Wahrhaftigkeit« als zentrale Eigenschaft. Die eine oder andere Tüchtigkeit (Einsicht, Energie, Liebe zum Guten) wird auch wohl in eine gewisse Beziehung gesetzt zu jener zentralen Macht, aber die Ausführungen bleiben in großer Vagheit stecken und sind widerspruchsvoll, so daß wir nichts damit anfangen können. Der von Aufrichtigkeit voll und ganz durchdrungene Mensch gilt als der » Heilige« ( Schêng Jên), eine Kategorie, die höher steht als der »vornehme Charakter« ( Tchün tse) des Konfuzius. Von seinen Fähigkeiten heißt es: »Nur wer die höchste Aufrichtigkeit auf Erden besitzt, vermag in die eigene Natur völlig einzudringen; wer in seine Natur völlig eindringen kann, vermag auch in andrer Natur völlig einzudringen; wer in andrer Natur völlig eindringen kann, vermag in die Natur der (sonstigen) Wesen völlig einzudringen; wer in die Natur aller Wesen völlig eindringen kann, der vermag den umbildenden und gestaltenden Kräften von Himmel und Erde zur Hilfe zu kommen. Vermag er aber das, dann mag er eine Dreiheit bilden zusammen mit Himmel und Erde« [R214]. Der »Heilige« trifft das Rechte ohne Anstrengung, er begreift etwas ohne die Mühe des Denkens; er wählt das Gute und hält daran fest. Ebenso durchschaut er die Zukunft und erkennt zuvor kommendes Heil oder Unheil. Solch ein zu Himmel und Erde sich gesellender »Heiliger« ist nach des Verfassers Urteil Konfuzius gewesen, – derselbe Mann, der im Lön yü nicht einmal als ein »vornehmer Charakter« gelten wollte, dessen Bild aber hier am Abschlusse des Tschung yung mit dem Glorienscheine übernatürlicher Vortrefflichkeiten jeglicher Art ausgestattet prangt und dadurch wieder einmal zeigt, wie schnell sich eine historische Gestalt vor den Augen blind ergebener Anhänger in ein Phantom verwandeln kann.


 << zurück weiter >>