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Erster Zeitraum: Die Philosophie in freier Bewegung

1. Die Grundlagen des Denkens

Für den Ausgangspunkt und die Richtung des philosophischen Denkens hat der Charakter der Religion des betreffenden Volkes immer eine gewisse Bedeutung. Denn es ist der gleiche Volksgeist, der in beiden arbeitet, so daß die Auffassung der philosophischen Fragen häufig mit religiösen Gedankengängen parallel läuft und man hier wie dort mit denselben Begriffen arbeitet. Es wird darum angebracht sein, einen kurz orientierenden Blick auf die Grundzüge der chinesischen Religiosität zu werfen.

Die älteste uns zugängliche Gestalt der chinesischen Religion lernen wir kennen aus den sogenannten kanonischen Schriften ( tching), und zwar vor allem aus dem I tching (»Kanon der Wandlungen«), dem Schï tching (»Kanon der Lieder«), dem Schu tching (»Kanon der Dokumente«) und dem Tschou li (»Bräuche der Tschou-Zeit«). Diese Quellenschriften müssen freilich mit kritischem Urteile benutzt werden, da sie durch die Hände des Konfuzius und seiner Schule gegangen sind und dadurch eine gewisse Zustutzung erfahren haben. Noch vorsichtiger muß man mit der kanonischen Schrift Li tchi (»Darstellung der Bräuche«) verfahren, weil diese Schrift, so wie wir sie kennen, erst sehr spät Gestalt gewonnen hat, wenn auch viel Uraltes in ihr steckt.

Die Chinesen waren zu der Zeit, da wir ihre Religion kennen lernen, im wesentlichen bereits ein Bauernvolk. Die Bestellung des Ackers und alles, was damit zusammenhing, war somit der Schwerpunkt auch ihres religiösen Lebens. Ihre Jenseitsmächte, mögen sie nun in noch älterer Zeit gewesen sein, was sie wollen, hatten sich nach den Aufgaben und Bedürfnissen des Ackerbaus gestaltet, es waren Naturmächte, speziell solche Naturmächte, die sich im Wachsen und Reifen der Ernte kundgaben. Daneben her lief als eine Sonderlinie die Verehrung der Ahnen, die zwar mit dem Ackerbau nicht direkt zu tun hatte, die aber im Familien- und Sippenleben, der sozialen Stufe jener Ackerbauer, ihre tiefen Wurzeln hatte und ihm seinen Halt gab. Aus Naturdienst und Ahnendienst wob sich also das religiöse Leben zusammen. Unter den Naturmächten finden wir neben der hochwichtigen Gottheit des Erdbodens und der Ernten weiter Gottheiten der Berge, der Wasserläufe, des Windes, der Wolken, des Regens, des Feuers, der Himmelsrichtungen, der Sonne und des Mondes sowie der wichtigsten Sterne (der fünf bekannten Planeten und einiger Fixsternbilder), dazu wohl auch noch allerlei kleinere Naturdämonen, wie sie auf dem Grunde des heutigen Volksglaubens noch immer in Menge zu spüren sind. Die bunte Mannigfaltigkeit dieser Naturmächte ordnete sich unwillkürlich in einer Art Stufenfolge: die imponierendsten und unentbehrlichsten Gewalten nahmen höheren Rang ein. Als Gipfelpunkt und Abschluß galt der »Himmel«. Er wurde mit der »Erde« (einer Verallgemeinerung der lokalen Erd- und Fruchtbarkeitsmächte) zu einem Paar verbunden, das wie in Ehegemeinschaft das Wachsen, Blühen und Reifen der irdischen Natur hervorbringt und beherrscht.

Die hiermit angedeuteten Umrisse des altchinesischen Pantheons sind jedoch für unsern Zusammenhang nicht das Wichtigste. Aehnliche Objekte der religiösen Verehrung finden wir anderswo auch. Was aber vor allem zu beachten ist, das ist die Art und Weise, wie der Chinese schon in jener alten Zeit das Göttliche mit dem Menschlichen in Verbindung brachte, und worauf er bei dem Verhältnis zwischen dem Jenseitigen und dem Diesseitigen den Ton legte.

Dem chinesischen Geiste erscheint die Welt des Jenseitigen zusammen mit der des Diesseitigen als ein großes gemeinschaftliches Ganze. Ein Teil dieses einheitlichen Organismus ist verborgen (übersinnlich), ein andrer Teil ist bekannt (sinnenfällig). Beide Teile stehen in einem festen Verhältnisse zueinander und reagieren in ganz bestimmter Weise aufeinander. Freilich ist dies Verhältnis und diese Reaktion für den Menschen nicht ohne weiteres klar und verständlich, weil ein Teil der organischen Verbundenheit jenseitig, das heißt verhüllt ist. Doch kann der Mensch tastend und forschend, unterstützt durch gewisse Methoden und Hilfsmittel, über die verborgenen Gleichungen zwischen dem Jenseits und Diesseits allerlei ausfindig machen. Er muß in religiöser Scheu und Hingebung den gleichen Pulsschlag der irdischen Vorgänge und des verborgenen Lebenshintergrundes zu erspüren suchen. Dieser geheimnisvolle Zusammenhang des Phänomenalen mit dem Ueberphänomenalen ist für unser irdisches Dasein von höchster Wichtigkeit. Denn nur in dem Maße, wie wir seiner inne werden, finden wir den rechten Weg, den wir zu gehen haben. Jener Zusammenhang hat daher früh im Chinesischen gradezu den Namen »Weg«, chinesisch Tao, bekommen. Das Wort Tao, das später ja zum Schibboleth einer besonderen Lehre, des Taoismus, wurde, ist von Hause aus ein allen Chinesen gemeinsamer Begriff, der darum ja auch im Konfuzianismus und selbst im Buddhismus seine Geltung behält. Tao ist der Schlüssel zu dem geheimnisvollen Ineinander von »Himmel und Erde«, Tao bedeutet den Weg und die Methode, um die Harmonie zwischen Jenseitigem und Diesseitigem zu bewahren, indem das irdische Handeln durchaus dem entspricht, was die jenseitige Welt verlangt.

Man könnte demnach sagen: der chinesische Geist war von altersher überwiegend eingestellt auf eine verborgene Proportionalität zwischen dem Irdischen und dem Unendlichen. So kam es denn, daß sich die Aufmerksamkeit mehr auf die Jenseits welt im ganzen als auf einzelne persönliche Exponenten derselben richtete. Mit andern Worten: man war mehr sachlich als persönlich interessiert an religiösen Fragen. Die Götterwelt hat daher in der chinesischen Religion keine kräftige Gestaltung erfahren, dagegen machte immer die scheue Aufmerksamkeit auf die geheimen Beziehungen zwischen Irdischem und Ewigem den Lebensnerv der Religion aus. Die chinesischen Gottheiten haben niemals eine individuelle persönliche Ausprägung bekommen (erst der Buddhismus bringt darin eine Aenderung hervor). Selbst die höchste Gottheit, der »Himmel«, ist immer etwas sehr Vages und Schattenhaftes für die Vorstellung geblieben. Zwar liegen bei ihm Ansätze zu persönlicher Auffassung vor und erhält er mit der Bezeichnung Schang Ti, »oberster Herrscher« oder »Herrscher da droben«, gleichsam einen persönlichen Titel und die Anwartschaft auf eine lebendige persönliche Erfassung. Aber er wird dennoch niemals ein voller, echter Gott. Er bleibt eine »Macht«, dem Begriffe des Schicksals (chinesisch Ming, das häufig seine Stelle einnimmt) mehr verwandt als dem eines Gottes.

Daß die Ahnenverehrung nicht eingewirkt hat auf persönlichere Vorstellung der Gottheiten, darf nicht wundernehmen. Die Verehrung bestimmter Ahnen erlischt nach einigen Generationen, und immer neue treten an die Stelle der alten. Dieser stete Wechsel hindert die Steigerung zur Gottheit. Nur über den Weg des Heroenkultus können Ahnen zu Göttern werden, und auf diesem Wege sind in der Tat auch in China einige der anschaulicheren Göttergestalten entstanden, z. B. der »Kriegsgott« Kuan Ti.

Die Sachlage ließe sich übrigens auch umgekehrt ansehen, das heißt, man könnte in der Unfähigkeit der chinesischen Psyche, das Abstrakte plastisch konkret vorzustellen, den Grund finden, weshalb das Göttliche bei ihnen so wenig Fleisch und Blut besitzt und der Akzent vielmehr auf eine sachliche Formulierung der Beziehungen zum Jenseitigen gefallen ist. Die Chinesen ständen dann ihrer Anlage nach etwa als ein Gegentyp den Griechen gegenüber. Sei dem, wie ihm wolle. Tatsache ist, daß die chinesische Religion sich von Anfang an, was die persönlichen Träger des Uebersinnlichen angeht, mit sehr matt umrissenen Größen begnügt hat, daß dagegen das religiöse Interesse sich viel brennender konzentrierte in dem Achten auf das Zusammenwirken übersinnlicher und irdischer Kräfte, in dem Spüren nach höheren Weisungen und Winken, die dem menschlichen Leben den »Weg« zeigen. Tief verankert herrscht in diesen Gemütern die Ueberzeugung, daß alles sichtbare Dasein einen verborgenen Hintergrund hat, mit dem es in fest geordnetem Zusammenhange steht. Widerstrebt man – wissentlich oder unwissentlich – den Ordnungen dieses Zusammenhangs, dann tritt man in Gegensatz zum Weltganzen, man lehnt sich auf gegen das Höchste und Mächtigste. Das bedeutet natürlich Schaden und Leid für den Menschen, es bedeutet zugleich Verletzung der Ehrfurcht vor dem erhabensten Geheimnis, Frevel, Sünde.

Es war darum für den chinesischen Frommen eine Frage von großer Wichtigkeit, wie man die tiefsten Forderungen des Daseins, den rechten »Weg« erkennen könne. Dieser »Weg« zieht sich ja auch durch unsre Welt der Sichtbarkeit hin, doch nur in Andeutungen, in einer Geheimsprache. Durch welche Mittel kommt man an den Sinn dieser Andeutungen, dieser Geheimsprache, heran? Die Antwort lautet, allgemein formuliert: durch die Kunst der Divination, durch das Mittel des Orakels.

Orakel gewann man im alten China, soweit wir davon wissen, hauptsächlich auf zweierlei Weise, nämlich durch die Schale der Schildkröte und durch die Stengel der Schafgarbe. So bemerkt der Philosoph Wang Tsch'ung noch im ersten Jahrhundert nach Christo: »Die Welt glaubt an Wahrsagung durch Schildpatt und durch (gewisse) Kräuter. Mit ersterem erkunden die Wahrsager angeblich den Willen des Himmels, mit letzteren den der Erde« [R9]. Die weiteren Ausführungen des Wang Tsch'ung zeigen, daß neben dem Gehäuse der Schildkröte auch allerlei andere Knochen, neben der Schafgarbe auch andere Pflanzen verwendet wurden. Diese Hilfsmittel waren uralt. Schon das alte Schu tching spricht von ihnen an verschiedenen Stellen und bemerkt gelegentlich, daß bei der Wahrsagung sieben verschiedene Weisen befolgt seien, fünf mit Hilfe des Schildpatts und zwei mit Hilfe der Schafgarbe [R10]. Obwohl wir die Einzelheiten nicht mehr kennen, so ist doch unzweifelhaft die Hauptsache gewesen, daß man das Schildpatt und auch gewisse Knochen andrer Tiere erhitzte und die dabei entstehenden Risse beobachtete und auslegte, daß man ferner die Stengel der Schafgarbe (oder andere Pflanzenstengel) in Stücken von bestimmter Länge hinwarf und aus ihrer Lage Schlüsse zog.

Daß man grade die Schildkröte und die Schafgarbe für die Divination bevorzugte, hat nach einer Bemerkung des Philosophen Tschu Hsi (aus dem zwölften Jahrhundert nach Christo) seinen Grund darin, daß beide ein so langes Leben besitzen. Denn die Schildkröte lebt nach chinesischer Ansicht 3000 Jahre, und auch die Schafgarbe »bringt mit hundert Jahren noch hundert Stengel aus einer Wurzel hervor«, sagt Tschu Hsi. Solch langes Leben zeugt von besonderer Anhäufung der geheimnisvollen Lebenskraft, zugleich ist mit ihm natürlich ungewöhnliche Erfahrung und Einsicht verbunden. Doch mag daneben auch an anderes zu denken sein, bei der Schafgarbe an ihre offizinellen Wirkungen, welche die Achillea seit dem Altertum bekannt gemacht haben [R11]; bei der Schildkröte an die sonderbare Gestalt, die in dem Oberschild auf den Himmel, in dem Unterschild auf die Erde zu weisen schien.

Neuerdings hat man in der Provinz Honan (und dann auch in Shantung) bei Grabungen im Erdboden eine Menge alter Knochen und Schildpatt gefunden, die unzweifelhaft in der Vorzeit zur Divination gebraucht sind. Sie wurden danach mit primitiven Schriftzeichen versehen, die in ihrer Form älter sind als die ältesten uns sonst bekannten Schriftzeichen Chinas. Viele von diesen Ueberresten tragen noch die Brandspuren der Erhitzung an sich, der sie bei der Divination unterworfen wurden.

Die erwähnten Methoden der Divination haben nun den Anlaß gegeben zur Entstehung eines der merkwürdigsten Bücher der Weltliteratur, das zu gleicher Zeit für den religiösen Charakter des Chinesen wie für die ersten Ansätze des philosophischen Denkens große Bedeutung hat. Das ist das I tching, der »Kanon der Wandlungen«. Insbesondere mit der Wahrsagung durch Schafgarbenstengel hängt das I tching eng zusammen, indem aus den Stengelstückchen jene Linienfigurationen gebildet wurden, um die sich im I tching alles dreht.

Das Material der Pflanzenstengel (übrigens auch die Risse in Schildpatt und Knochen) brachte es mit sich, daß man von der Linie als Handhabe der Wahrsagung ausging. Linien sind darum auch im I tching das Objekt der Auslegung. Man unterscheidet zunächst zwei Arten von Linien, nämlich die ganze, ungeteilte Linie und die in der Mitte zertrennte, zweigeteilte Linie, also: ———— und ——   —— (ursprünglich eine hohle und eine volle Linie: . und .). Welches der uranfängliche Gesichtspunkt war, unter dem man diese zwei Arten von Linien einander gegenüberstellte, läßt sich heute nicht mehr nachweisen. In der Zeit, da wir das I tching kennen lernen, fand man in ihnen etwas wie ein Doppelprinzip alles Daseins angedeutet. Zwei große kosmische Kräfte sah man in allem Existierenden wirken und zur Erscheinung kommen, die Träger jener auffallenden Gegensätze, von denen uns Natur- und Menschenleben unaufhörlich so viele vorführen: Männliches und Weibliches, Licht und Dunkel, Wärme und Kälte, Himmel und Erde, Höhe und Tiefe, Sonne und Mond, Wachsen und Welken, Trockenes und Nasses, Härte und Weichheit, – dies u. dgl. m. wurde in der ganzen und gebrochenen Linie als angedeutet wieder erkannt. Um nun für die Mannigfaltigkeit der empirischen Vorgänge, in denen jene zwei Kräfte hervortraten, auch eine entsprechende Mannigfaltigkeit von Paradigmen zu bekommen, mit deren Hilfe man der Einzelerklärung nachgehen könnte, bildete man aus jenen zwei Linien eine Anzahl von Gruppen, indem man sie verschieden kombinierte. Solcher Kombinationen sollen ursprünglich acht bestanden haben, zusammengesetzt je aus drei Linien, die sog. »acht Zeichen« ( pa kua) oder die acht Trigramme, die folgendermaßen aussahen:

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
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Es sind, wie man sieht, alle Kombinationen, welche bei Verwendung von drei Linien möglich werden. Diese acht Trigramme müssen aber den Bedürfnissen der Divinationspraxis nicht genügt haben. Die Wirklichkeit des Lebens war eben zu reich an Vorfällen und Erscheinungen. Daher schritt man weiter zur Bildung von Hexagrammen, indem man die Linien zu sechs verdoppelte und nun eine viel größere Zahl möglicher Kombinationen erzielte, nämlich 64, die so aussahen:

1. 2. 3. 4. 5. 6. usw.
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Mit diesen 64 Hexagrammen hatte man eine hinreichende Menge von Schematen, nach denen die Vorgänge des Lebens gruppiert und charakterisiert werden konnten. In den Hexagrammen mischten sich 64 mal auf verschiedene Weise die ganze und die gebrochene Linie, d. h. jene zwei erwähnten Doppelkräfte des Lebens und bildeten allerlei verschiedenartige Produkte oder vielmehr Abspiegelungen wirklicher Produkte. Indem man nun bei gegebenem Anlaß mit Stengeln der Schafgarbe auf besondere Weise manipulierte, erhielt man ein Resultat, welches auf eines der 64 Hexagramme hinwies. Das betreffende Hexagramm aber deutete durch seine Bildung den Sinn der Situation an, über die man Auskunft haben wollte. Für die Auslegung, bei der ja zunächst eine grenzenlose Willkür möglich scheint, hatte sich durch feste alte Traditionen eine Art System gebildet, das allmählich weiter entwickelt wurde und dessen verschiedene Phasen wir im I tching niedergelegt finden. Schon für die ursprünglichen acht Trigramme gilt, daß jedes von ihnen, wie es seinen besonderen, charakterisierenden Eigennamen trägt, auch mit bestimmten Eigenschaften und Objekten in enger Verbindung steht. So hat das erste Trigramm, benannt »das Schöpferische«, die Eigenschaft der Stärke und steht in näherer Verbindung mit dem Himmel; das zweite, genannt »das Empfangende«, besitzt die Eigenschaft der Hingebung und steht in Beziehung zur Erde; das dritte (»das Erregende«) ist mit Bewegung verbunden und hat Beziehung zum Donner; das vierte (»das Abgründige«) ist von Eigenschaft gefährlich und steht in Beziehung zum Wasser. Und so geht es weiter. Damit kommt eine gewisse Methode in das Verfahren der Auslegung, und auf dem Wege geht man weiter und weiter.

Nach chinesischer Meinung verläuft die Entwicklung dieses Systems über vier berühmte Namen hin, nämlich über Fu Hsi, Wên wang, Tschou kung und Konfuzius. Fu Hsi ist eine sagenhafte Herrschergestalt der Urzeit, ein »Heilbringer«, »Kulturheros«, dem grundlegende Erfindungen, wie der Gebrauch des Feuers, Fischfang und Jagd, zugeschrieben werden. Er soll die acht Trigramme aufgestellt haben. Wên wang (gestorben 1135 vor Christo), der Vater des ersten Souveräns der großen Tschou-Dynastie, wird als Urheber der heutigen 64 Hexagramme genannt. Sein Sohn, bekannt als Tschou kung (»Herzog von Tschou«), gilt als Autor des Textes zu den einzelnen Linien der Hexagramme. Konfuzius, zu dessen Zeiten das I tching schon als ein wertvolles Vermächtnis des Altertums dastand, soll nach dem Zeugnis des Historikers Szï-ma Tch'ien in seiner späteren Lebenszeit dies Buch so anhaltend studiert haben, daß die Lederriemen, mit denen die Tafeln seines Exemplars umwunden waren, dreimal sich abgenutzt hätten. In seinen Gesprächen wird von dem Meister der Ausspruch berichtet: »Wären mir noch weitere Jahre gegeben, so daß ich fünfzig dem Studium des I tching widmen könnte (oder nach andrer Lesart: wären mir noch einige Jahre mehr zur Durchführung des Studiums des I tching gegeben), so würde ich frei werden von ernstlichen Vergehen« [R12]. Er selbst soll dem Werke neue Erläuterungen hinzugefügt haben, was freilich historisch schwerlich haltbar ist; jedenfalls rühren die uns vorliegenden zehn angehängten Erklärungen, die sog. zehn Flügel, die man chinesischerseits ihm zuschreibt, von verschiedenen Händen her und verraten zum Teil deutlich spätere Zeit. Aber manche Ansicht des Konfuzius und seiner Zeitgenossen dürfte sicher darin stecken.

Daß das I tching für den Charakter der altchinesischen Religion ein sehr wichtiger Zeuge ist, liegt auf der Hand. Doch können wir dem hier nicht weiter nachgehen; für uns kommt es nur als Beleg der ältesten philosophischen Regungen jenes Volkes in Betracht. Welche Grundauffassung von Welt und Leben ergab sich für den Chinesen aus jenen religiösen Vorstellungen, die das I tching bezeugt?

Achten wir zunächst auf den Namen: I tching, Kanon der Wandlungen. Dieser Name soll die Aufmerksamkeit von vornherein auf eine bestimmte Eigentümlichkeit des empirischen Daseins lenken, die als charakteristisch betrachtet wird: auf die beständige Veränderung. Ob der ewige Wandel der Dinge sich den alten Chinesen zuerst aufgedrängt hat durch die Wahrnehmungen an Sonne und Mond (manche Forscher leiten das Schriftzeichen für Verwandlung, i, von den Zeichen für Sonne und Mond ab), mag auf sich beruhen; jedenfalls aber ist das Nachdenken über die Welt früh haften geblieben an dem Vorgange des beständigen Wandels, der ewigen Veränderung. Man findet in der Welt eine Fülle von Verschiedenheiten vor sich, die unablässig wechseln und von einem Zustande in den andern übergehen. Der beständige Wandel der Konstellationen am Himmel, die Abwechslung der Temperaturen und Jahreszeiten, die verschiedenen Phasen der Vegetation, die Lebensalter des Menschen, – dies und anderes dergleichen war wohl geeignet, den Blick und das Nachdenken festzuhalten bei den »Wandlungen«. Dabei mußte sich leicht der Gedanke einstellen, daß der Wandel des Irdischen nicht regellos sei, daß er in einer gewissen Gesetzmäßigkeit verlaufe. Die Jahreszeiten folgten einer regelmäßigen Ordnung, ebenso die Tageszeiten, ebenso der Vegetationsprozeß und der Ablauf des Menschenlebens. Die Regel, welche hier herrschte, suchte man mit jenem dem Menschen angeborenen Streben nach Einheitlichkeit zu verstehen als eine gleichmäßige, alles durchwaltende Macht. Diese Macht mußte eine Doppelmacht sein, da sie ja Veränderungen regieren sollte und da Veränderung nur als Aeußerung einer Zweiheit, als Hervortreten eines Zweiten aus einem Ersten begriffen werden kann. Man gab dieser Doppelmacht die Bezeichnung: Yin und Yang [R13].

Die ursprüngliche Bedeutung dieser Worte läßt sich noch am ersten abnehmen aus dem, was die Schriftzeichen darstellen, denn Etymologie besteht im Chinesischen hauptsächlich in der Deutung der bildlichen Bestandteile des Schriftzeichens. Zufolge chinesischer Philologie stellen die Schriftzeichen für Yin und Yang zwei Flußufer dar, von denen das eine im Schatten, das andere im Sonnenlichte liegt. Europäische Philologie faßt die Zeichen wohl etwas anders auf, aber es ist auch für sie kein Zweifel, daß es sich bei beiden Charakteren um Schatten (Wolken) und Sonnenschein handelt, also um den Gegensatz von Dunkel und Hell [R14]. Finsternis und Licht wird deshalb zum grundlegenden Gegensatz der kosmischen Doppelmacht. Der Wechsel von Licht und Finsternis bot die Voraussetzung der Existenz von Tag und Nacht sowie einer Folge der Jahreszeiten. Es lag also nahe, die Naturvorgänge und auch die allgemeinen großen Gegensätze des Lebens (wie stark und schwach, männlich und weiblich) hierunter zusammenzufassen. Man stellte sich nun diese zwei Gegenmächte in beständig wechselnder Beziehung zueinander vor. Sie bilden verschieden kräftige Komponenten in allen Wesen und Vorgängen, und indem ihr Verhältnis zueinander sich fortwährend ändert, bringen sie die endlosen Wandlungen der Phänomene hervor. Für all diese wechselnden Zustände fand man die Andeutungen in den erwähnten Hexagrammen ausgedrückt je nach der Anzahl und Lage der ganzen oder geteilten Linien.

Die mächtigsten Potenzen, die man im Weltall sichtbar vor Augen hatte, waren der Himmel und die Erde, das Gewölbe droben und die Grundfeste unter den Füßen. Diese beiden scheinen schon sehr früh mit den Mächten Yin und Yang gradezu gleichgesetzt zu sein, indem Yang, die Macht des Lichten, vom Himmel, Yin, die Macht des Dunkels, von der Erde vertreten wurde. Das gilt natürlich nur generell und a potiori, nicht für alle Einzelvorgänge. In Himmel und Erde arbeiten die beiden Schaffensmächte (zeugend) am Werden und Wachsen des Lebens. Aber auch alle Einzelgrößen, die von Himmel und Erde umschlossen werden, nehmen je in besonderer Weise an dem gestaltenden Wirken teil. So die Gestirne, vor allem Sonne, Mond und die fünf Planeten (Merkur, Mars, Venus, Jupiter, Saturn); ferner die Himmelsgegenden; die fünf Elemente (Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser); die Jahreszeiten; die Witterungsarten (Kälte, Hitze, Nässe, Trockenheit, Wind); die Farben; die Töne der Musik; die Sinneswahrnehmungen u. a. m. In Pflanzen, Tieren, vor allem aber in den Menschen liegen Felder gesteigerten Wirkens für Yin und Yang vor.

Die beiden kosmischen Regulatoren dürfen nun aber nicht etwa so aufgefaßt werden, daß das Yin eine unheilvolle Kraft, ein »böses Prinzip«, das Yang dagegen die segnende Kraft, ein »gutes Prinzip« wäre. Der Gegensatz von nützlich und schädlich, gut und böse ist hier nicht bestimmend, sondern der Gesichtspunkt ist rein kosmisch, wie es ja der Ausgangspunkt von Licht und Dunkel schon mit sich bringt. Wenn tatsächlich die Vorstellung von dem Yinprinzip mehr einen nachteiligen, »bösen« Zug annimmt, die des Yang dagegen mehr einen »guten« Charakter, so liegt das lediglich in der Konsequenz davon, daß das Thema Licht für den Menschen unwillkürlich mehr erfreuliche Eindrücke mit sich bringt, das Dunkel dagegen weniger sympathisch berührt. An sich liegt hier nicht der Gegensatz von Gut und Böse vor.

Das Verhältnis des Ethischen zum Naturhaften stellt sich hier vielmehr ganz anders. Man kann sagen: das Ethische ist hier in das Naturhafte eingebettet. Yang und Yin mit ihrer gegenseitigen Einwirkung und beständigen Bewegung des Lebendigen wollen und sollen eigentlich einen großen, harmonisch arbeitenden Organismus darstellen. Diesem Organismus ist das Menschenleben so gut eingeordnet wie das Naturleben. In beiden soll sich das Doppelspiel von Yin und Yang nach wohlbemessenen Verhältnissen auswirken. Die Harmonie des Menschenlebens nun, das durchaus sozial, als Gemeinschaftsleben aufgefaßt wird, läßt sich nur erreichen durch die rechten Beziehungen der menschlichen Individuen und der Menschenklassen zueinander. Diese rechten Beziehungen sind eben auch das Ziel der Zusammenwirkung von Yin und Yang. Nun beruhen aber diese Beziehungen auf dem, was wir sittliches Handeln nennen. Das Sittliche umfaßt ja doch die Forderungen, welche sich im Zusammenleben der Menschen ergeben, je nachdem sich dabei Rechte und Pflichten bilden. Somit richtet die Tätigkeit des Yin und Yang sich ebensogut auf das sittliche Handeln des Menschen wie auf die Vorgänge in der Natur; beide bilden ein untrennbares Ganze.

Das rechte sittliche Verhalten des Menschen bildet demnach einen integrierenden Teil des rechten harmonischen Weltverlaufes. Umgekehrt wirkt verkehrtes, unmoralisches Tun des Menschen störend auf den Gang des Alls ein. Das tritt am deutlichsten zutage an derjenigen Person, in welcher die wichtigsten Aufgaben der Menschengemeinschaft sich vereinigen, nämlich am Volksoberhaupt, am Fürsten. Wenn der Fürst seine hohen Pflichten vollkommen erfüllt, so verläuft auch das ganze Weltleben in Harmonie. Verfehlt er sich aber, so tritt seine Schuld in Störungen des Naturlebens hervor, und um so stärker und andauernder, je schlimmer die Sünden des Oberhauptes sind. Dieser uralte Zug chinesischen Glaubens hat sich bekanntlich wenigstens formelhaft bis in die modernste Zeit hinein erhalten.

Die ganze Weltanschauung, der wir im alten China begegnen, insbesondere die eigentümliche Beherrschtheit des Naturbildes durch die zwei Kategorien Yin und Yang, ruft unwillkürlich ähnliche Einteilungen der Dinge in Erinnerung, die wir bei vielen Primitiven finden und die E. Cassirer jüngst in seinen Untersuchungen über das »mythische Denken« zusammenfassend beurteilt hat [R15]. Bei totemistischen Stämmen z. B. wird die Unterscheidung der Klasse auf das gesamte Dasein übertragen und so aus einem soziologischen zu einem kosmologischen Ordnungsfaktor gemacht. Klan-Unterschiede und -Gegensätze bilden das dualistische Einteilungsprinzip für alle Größen und Erscheinungen des Naturlebens und der Daseinsformen, so daß Regen, Donner, Blitz, Wolken, Hagel, Winter, Sommer usw. je der einen oder andern Gruppe der Klaneinteilung angehören. Diese Unterscheidungen werden dann auch auf das Handeln übertragen, sie werden in der Bildung von Mythen zu einem eigenartig durchgeführten Leitmotiv, nach dem das Mythengewebe sein Muster erhält, kurz sie sind das Grundelement der ganzen geistigen Erfassung der Welt. Der Unterschied des altchinesischen Dualprinzipes tritt freilich darin hervor, daß bei den Chinesen Yin und Yang einander von Anfang an nicht so getrennt gegenübergestanden zu haben scheinen, sondern mit und durcheinander gingen, beide also schon mehr wie ein im Grunde zusammengehöriges Weltprinzip mit doppelter Art der Wirksamkeit auftreten.

Uebrigens aber kann, auch abgesehen von dem Dualprinzipe, kein Zweifel sein, daß die altchinesische Denkweise in vielen ihrer Züge mit dem »mythischen Denken« Cassirers zusammengehört (wie C. selbst sie auch dazu rechnet). Es sei hier von vornherein darauf hingewiesen. Wir werden später noch häufig Gelegenheit haben, uns zur Aufhellung gewisser Eigentümlichkeiten der altchinesischen Philosophie an charakteristische Kennzeichen des mythischen Denkens zu erinnern.

Das deutlichste Merkmal mythischer Denkweise sind die » Entsprechungen«. Das Weltbild, welches vor den Augen liegt, wird statisch, nicht genetisch aufgefaßt, d. h. nicht die Linie des Werdens (damit der zeitlichen Kausalität) wird besonders bemerkt, sondern das Existierende erscheint als ein großes, einheitliches Bei-einander und In-einander. Alle Einzelzüge liegen im Ganzen, und das Ganze liegt in den Einzelzügen, alles lebt und webt in steter Einwirkung aufeinander. Die Formen der Erscheinungen, die physischen und geistigen Qualitäten, der Zeitablauf (Tages- und Jahreszeiten), die Raumbeziehung (Weltgegenden), alles einzelne, was davon abhängt und damit in Beziehung steht, wird in einer Art dauernder, einheitlicher Verkettung gesehen, bei welcher die Einzelerscheinung als aus dem Ganzen und der Konstellation heraus geprägt erscheint, nicht, wie unsere moderne Naturbeobachtung uns immer lehrt, durch den und den kausalen Einfluß hervorgerufen. Eine gleiche Daseinskraft pulsiert durch das Ganze hin. Die Einzelgröße zeigt darum immer eine gewisse Entsprechung gegenüber dem Wesen der Gesamtwelt. Wie bei Drehung eines Kaleidoskops die neuen Formen sich in einer alle beherrschenden gegenseitigen Abhängigkeit bilden, so lebt im mythischen Denken das Einzelne mit dem Ganzen und aus dem Ganzen. Zwischen allem und jedem, was in der Welt Platz findet, spinnen sich bestimmte feine Fäden der Entsprechungen. Darin sind natürlich alle Lebewesen und zuhöchst der Mensch eingeschlossen. Des Menschen Anlage, Schicksal, Erleben und Leiden ist alles herausgeboren aus dem Ganzen des Daseins und flutet zurück in dies Ganze nach fester Entsprechung.

Die Entsprechungen werden in bestimmten Linien besonders nachdrücklich betont. Man ordnet das Vielerlei der Vorgänge nach wichtigen Gruppen zusammen und parallelisiert diese Gruppen. So werden die Himmelsrichtungen, die Jahreszeiten, die »Elemente«, die Farben, die Töne, die Geschmäcke, die Gefühlsregungen, bestimmte Körperorgane, bestimmte Tiere und Pflanzen in feststehenden Reihen zueinander gefügt, nicht etwa durch leichte Gedankenspielerei, sondern mit dem Bewußtsein, dadurch das Geheimnis des Lebens aufzudecken. Obwohl wir in China ausführliche Tabellen solcher Entsprechungen erst aus späterer Zeit (Li tchi) besitzen, so ist doch nicht zu bezweifeln, daß die entsprechende Vorstellung schon im frühesten Altertum vorhanden war. Wir werden in einem der ältesten Bestandteile des Schu tching bald Belege dafür entdecken [R16].

Naturgemäß mußte bei einer solchen Weltansicht ein ganz besonderes Gewicht der Zahl beigelegt werden. Zahlen waren die ideellen Regulatoren der Vorgänge am Himmel wie auf der Erde. Zahlenverhältnisse drängten sich bei der Konstitution des Lebendigen überall als beherrschend in den Vordergrund. Leicht löste das mythische Denken sie als eine besondere Macht von ihren Trägern los, sie bekommen Eigenwert und Eigencharakter. Einige unter ihnen treten als besonders kräftig aus der Reihe der übrigen hervor, auf Grund besonders wichtiger Vorgänge, mit denen sie verknüpft sind. Man summiert allerlei Erscheinungen verschiedener Gebiete unter einem gleichen Zahlhaupte und weiß sie dann durch ein Lebensband verknüpft, wie z. B. die vier Himmelsrichtungen, die vier Jahreszeiten, die vier Grundfarben (blau, rot, weiß, schwarz), die vier magischen Tiere (Drache, Phönix, Tiger, Schildkröte). Die Beobachtung der Zahl- und der Maßverhältnisse wird auf diese Weise zu einem wichtigen Teile der Schicksalserforschung. Hier schließt sich wohl auch die eigentümliche Schätzung der Musik in der altchinesischen Weltanschauung an. Es ist bekannt, daß man der Musik einen starken Einfluß auf den Verlauf gewisser Handlungen (z. B. Opfer), aber auch auf die Wohlfahrt des Reiches, den Charakter des Menschen u. ä. zuschrieb, und daß die Art der betriebenen Musik den Chinesen bezeichnend vorkam für ein aufsteigendes oder absteigendes Zeitalter, für Gesittung oder Verwilderung. Das wird letztlich darauf zurückgehen, daß man bei einer, wenn auch primitiven, Untersuchung der Töne (der musikalischen Elemente) feststehende Zahlenverhältnisse konstatiert hatte, in denen die Schwingungen der höheren Töne zu denen der niederen standen. Zugleich aber befanden sich die Grundtöne (im chinesischen Altertume fünf) mit anderen von der Fünf regierten Grundmächten des Daseins (fünf Planeten, fünf Elementen u. a.) durch die gleiche Zahl in besonderer Gemeinschaft (Entsprechung) und nahmen so an ihrem Wesen und Wirken teil. Man hatte sich also an die rechten, angemessenen Töne und Tonweisen zu halten, wenn nicht allerlei verstörende Erscheinungen eintreten sollten. Demgemäß war die Musik ein wichtiges Gebiet des Soziallebens, das sorgfältig überwacht werden mußte [R17].

 

Ein deutliches Dokument der altchinesischen Weltbetrachtung finden wir in dem Abschnitte des Schu tching, welcher den Titel » Hung fan« (»umfassende Regel«) führt. Dies Stück weicht in seinem Charakter von dem sonstigen Texte des »Kanons der Dokumente« ab; es scheint ursprünglich ein Werk für sich gewesen zu sein. Herstammen soll es von dem großen Yü, dem dritten der drei bekannten sagenhaften Kaiser der Urzeit, der die Hsiâ-Dynastie, die erste der chinesischen Dynastien, um 2200 v. Chr. begründet haben soll. In der Form mag es manche Veränderungen erlitten haben, aber seine Ideen gehören augenscheinlich dem frühesten Denken Chinas an [R18].

Der Inhalt umfaßt die Richtlinien, welche ein Fürst bei der Regierung des Landes im Auge haben muß. Diese Richtlinien aber gehen aus der damals herrschenden Weltvorstellung hervor und bringen vieles von ihr klar zum Ausdruck. Die »umfassende Regel« zerfällt in neun Teile: 1. Die fünf Elementarkräfte; 2. das fünffache Verfahren; 3. die acht Regierungsziele; 4. die fünf Ordnungsmächte; 5. die Vollkommenheit des Fürsten; 6. das dreifache rechte Handeln; 7. die Aufhellung von Zweifelsfällen; 8. allerlei Bestätigungen; 9. die fünf Segnungen (und die sechs Unglücksschläge). Man sieht, daß das Schema völlig von Zahlen beherrscht wird. Im Mittelpunkte der neun Gegenstände (an fünfter Stelle) findet sich die Hauptsache: die Vollkommenheit des Fürsten; alles übrige ist ihm dienstbar.

Betrachten wir die Einzelheiten des eigentümlichen Textes etwas genauer. Als die besondere Bedeutung der »umfassenden Regel« wird einleitend bezeichnet, daß dadurch »die rechte Regulierung der Beziehungen ermöglicht werde.« Die Beziehungen bedeuten das rechte Verhalten der Menschen zueinander nach Maßgabe ihrer Stellung. Sollen diese in Ordnung sein, dann müssen alle »Entsprechungen« richtig verlaufen. Hinter allem, was in der »umfassenden Regel« gesagt wird, stehen schließlich die Entsprechungen.

Die Regel beginnt mit dem Hinweis auf die fünf Elementarkräfte und deren zugeordnete Sphäre. Diese fünf Grundmächte sind: Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser. (Der chinesische Name für Element, hsing, bedeutet: sich bewegen, tätig sein, es sind die Agentia, die die Lebensphänomene in Bewegung setzen.) Jedem wird seine charakteristische Eigenschaft zugewiesen: dem Wasser die des Eindringens und des Sichherablassens; dem Feuer die des Flammens und Emporsteigens; dem Holz die von Krummsein und Gradesein; dem Metall die der Gefügigkeit und Wandelbarkeit; der Erde die der Saat und Ernte. Jedem gehört auch ein besondrer Geschmack: dem Wasser der salzige, dem Feuer der bittre, dem Holz der saure, dem Metall der zusammenziehende, der Erde der süße.

Hierauf folgt die Darlegung des »fünffachen Verfahrens«. Dies umfaßt: Aussehen, Reden, Sehen, Hören, Denken. Dabei soll nämlich so verfahren werden, daß sich zeige: Ehrerbietung (im Aussehen), Angemessenheit (im Reden), Klarheit (im Sehen), Deutlichkeit (im Hören), Genauigkeit (im Denken). Daraus ergeben sich die fünf Eigenschaften: Würde, Gesittung, Einsicht, Besonnenheit, Weisheit.

Hiernach werden die »acht Regierungsziele« aufgestellt. Es sind: Nahrungsmittel, Handelsgüter, Opfer, Leitung der öffentlichen Arbeiten, Leitung des Unterrichts, Leitung des Kriminalrechts, Sorge für die Gäste, Heerwesen.

Es folgen die »fünf Einteilungsmächte«: das Jahr, der Mond (Monat), die Sonne (der Tag), die Sternbilder (des Tierkreises) und andre Sterne, die Kalenderkunst. Nunmehr wird die »Vollkommenheit des Fürsten« definiert. Es heißt darüber, daß der Herrscher auf Grund seiner Vollkommenheit die fünf Segnungen auf sich vereinigt und diese Segnungen dann dem Volke übermittelt. Dadurch wird bewirkt, daß das Volk seinerseits dem Fürsten »Vollkommenheit zurückgibt«. Ehrlichkeit und Einigkeit im Volke ist eine Wirkung der Vollkommenheit des Fürsten. Es folgen eine Reihe von Mahnungen an den Herrscher, die (schon der Form der Rede nach) nicht ursprünglich scheinen. Aber hindurch klingt immer wieder die enge Verbundenheit der Haltung des Herrschers mit der Sinnesweise der Untertanen, ein in der nachfolgenden Philosophie so oft wieder anklingender Ton. Erstes Erfordernis für das Heil des Landes ist, daß der Herrscher den »königlichen Pfad« einhält.

Wie ein Nachtrag zu dem vorigen Thema klingt das folgende: Das »dreifache rechte Tun« ( , Tugend) ist ein dreifaches Handhaben der Fürstengewalt, nämlich durch Redlichkeit und Gradheit (unparteiisches Urteil), durch strenges Regiment, durch mildes Regiment. Das erste gilt für normale Zeiten, das zweite und dritte für abnorme Zeiten, wenn entweder besondere Strenge oder ungewöhnliche Milde den Umständen angemessen ist.

Beim nächsten Gegenstand, »Aufhellung von Zweifelsfällen«, wird auf die Divination mit Hilfe von Schildkröte und Schafgarbe verwiesen. Bemerkenswert aber ist, daß bei Entscheidungen von Gewicht noch andre Instanzen, für uns von völlig verschiedenem Charakter, wie auf demselben Niveau neben die zwei Divinationsmittel gestellt werden, nämlich Erwägungen bei sich selbst, Erwägungen mit den Edlen und Feldherrn, Erwägungen mit dem Volke im ganzen. Die möglichen Entscheidungsfälle werden dann gegeneinander abgewogen, nämlich welche Gruppierung der Instanzen günstig oder ungünstig sei. Wenn der Fürst, Schildkröte und Schafgarbe, die Edlen und Feldherrn, die Volksmenge alle übereinstimmen, so ist das »die große Einmütigkeit«. So sonderbar uns die Gleichordnung der Erwägungen im engeren oder weiteren Kreise mit der Divination auf den ersten Blick erscheint, so steht sie doch im Grunde ganz auf dem Boden der hier herrschenden Weltanschauung. Denn was sich in der Menschenmeinung äußert, ist nicht wesensverschieden von dem, was die Naturzeichen sagen. Ist doch der Mensch nur ein Faktor der großen Weltgemeinsamkeit, und sind doch seine Geistesregungen ebenso von der geheimnisvollen Weltordnung abhängig wie Schildpatt und Schafgarbe.

Der achte Abschnitt handelt von den »verschiedenen Bestätigungen«. Darunter werden fünf Witterungserscheinungen verstanden: Regen, Sonnenschein, Wärme, Kälte und Wind, je nachdem ob sie gemäß der Jahreszeit auftreten oder nicht. Diese Erscheinungen gehen nicht nur den Landbau an, sondern sie erweisen auch Blüte oder Verfall der menschlichen Einrichtungen, sie erweisen, ob die fünf Eigenschaften (oben S. 39) herrschen oder ob sie vor ihrem Gegenteil dahinschwinden. Eine beständige Beobachtung der Witterung, vor allem daraufhin, ob sie nach Jahr, Monat und Tag angemessen ist, muß als wichtige Aufgabe des Herrschers und seiner Beamten gelten.

Zum Schluß werden die »fünf Segnungen« aufgezählt: langes Leben, Reichtum, Wohlbefinden, Liebe zur Tugend, Ergebung in die Verhängnisse des Schicksals. Demgegenüber stehen sechs Unglückschläge: gewaltsamer vorzeitiger Tod, Krankheit, Kummer, Armut, böse Gesinnung, Schwachheit (Unfähigkeit des Ertragens schwerer Verhängnisse).

Aus dem Texte der »umfassenden Regel« blickt deutlich das Weltbild des mythischen Denkens hervor. Die Welt ein geheimnisvolles Gewebe bunter Fäden, die in der gleichen Ebene durcheinander hinlaufen, naturhafte Vorgänge neben sittlichen Werten und persönlichen Qualitäten; alles in einer verborgenen Beziehung aufeinander, die beherrscht wird durch Zahlmächte; jedes einzelne in einer vorgeordneten Eigenart, gemeinsam mit anderm oder gegensätzlich zu anderm; das Ganze auf das Einzelne und das Einzelne auf das Ganze hin eingestellt, so daß nirgends etwas fehlgehen kann, ohne daß alles Weitere in Mitleidenschaft gezogen würde.

Ueber die Entstehung dieses Weltorganismus scheint man sich im alten China noch keine Gedanken gemacht zu haben. Man fühlte keinen Drang, mit seinem Sinnen über die existierende Wirklichkeit in das »Vorher« zurückzugehen. Weder von einer Schöpfungs- noch von einer Emanationslehre ist eine Spur zu finden. Man nahm das Dasein als gegeben und versuchte sich nur in Erklärung des Zusammenhangs der Weltvorgänge.


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