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3. Lao Tse und das Tao tê tching

Ueber die Person und das Leben des Lao tse besitzen wir eine alte Nachricht von dem Historiker Szï-ma Tch'ien, dessen großes Geschichtswerk bald nach dem Jahre 100 v. Chr. abgeschlossen ist [R36]. Die Gültigkeit dieses historischen Zeugnisses ist viel umstritten. Es gibt offenbar eine damals bestehende Ueberlieferung wieder (eingeleitet durch: »Es geht die Rede«), die aber in den Augen jenes nicht unkritischen Historikers einen gewissen Wert gehabt haben muß. Nach ihr trug der Philosoph den Familiennamen Li, den Eigennamen Oerl; sein Mannesname ( tse) war Po yang, sein posthumer Name Tan. Sein Heimatort hieß Tchü jên und lag im Staate Tsch'u, im Distrikte K'u (in der heutigen Provinz Honan). Dazu fügt der Historiker die Bemerkung, daß er am Hofe der Tschou-Dynastie das Amt eines Bewahrers der Dokumente bekleidet und lange bei dem Tschou-Herrscher (also in Lo yang, bei dem heutigen Ho nan fu) gelebt habe; doch sei er, als er den Verfall der Dynastie bemerkte, fortgegangen und habe die Grenzen des Reiches überschritten. Wo er dann geblieben und wo er gestorben sei, wisse man nicht. Als den Inhalt seiner Lehre nennt Szï-ma Tch'ien die beiden Begriffe Tao und Tê; dazu bemerkt er, daß Lao tse bemüht gewesen sei, verborgen und unbekannt zu bleiben. Nur auf Bitten eines Grenzwächters, Yin Hsi, der ihn beim Ueberschreiten der Reichsgrenze kennengelernt, hätte er seine Ideen schriftlich ausgedrückt, indem er über Tao und Tê ein Buch in zwei Teilen, ungefähr 5000 Wörter umfassend, geschrieben habe.

Außer diesen nüchtern und glaubwürdig klingenden kurzen Angaben enthält der Bericht des Szï-ma Tch'ien noch die Erzählung eines Zusammentreffens von Lao tse mit Konfuzius, wobei Lao tse dem ihn besuchenden jüngeren Zeitgenossen wegen seines Wesens und Bestrebens arg den Kopf wäscht und Konfuzius danach an seine Jünger Worte des höchsten Staunens über den unbegreiflichen Mann richtet. Es läßt sich nicht leugnen, daß diese Geschichte historisch unglaubwürdig klingt. Sie gleicht zu sehr den mancherlei taoistischen Tendenzerfindungen, die wir sonst lesen [R37]. Man sieht also am besten von ihr ab.

Wann Lao tse geboren ist, erwähnt Szï-ma Tch'ien nicht. Die Tradition bezeichnet 604 v. Chr. als sein Geburtsjahr. Auch was die Bedeutung des Namens Lao tse, offenbar eines Beinamens, sei, geht aus den Worten des Historikers, der ihn doch selbst gebraucht, nicht hervor. Die einfachste Erklärung ist: der alte Philosoph.

Mit Szï-ma Tch'ien's Angaben über Lao tse stehen wir auf der Grenze des zweiten und ersten Jahrhunderts v. Chr., also um Jahrhunderte entfernt von der angeblichen Lebenszeit des Weisen selbst. Aber dieser wird auch schon früher erwähnt. Die Werke des Lieh tse und des Tschuang tse, die dem vierten Jahrhundert v. Chr. angehören, erwähnen Lao tse (meist mit seinem posthumen Namen Lao Tan) häufig, und zwar als einen höchst angesehenen wandernden Weisen und Lehrer. Er wird als älterer Zeitgenosse des Konfuzius hingestellt, und mehrere Gespräche zwischen beiden werden mitgeteilt. Auch das Auswandern des Lao tse nach dem Westen wird bei Lieh tse schon berührt.

Eine bestimmte Ueberlieferung über die Person des Lao tse ist also bis hoch hinauf bezeugt, und es wäre übertriebene Skepsis, an der Geschichtlichkeit des Mannes zweifeln zu wollen.

Eine besondere Frage ist allerdings nun weiter, ob und in welchem Maße jener Lao tse des sechsten Jahrhunderts an der Abfassung des Buches Tao tê tching beteiligt war, das heute unter seinem Namen geht.

Zur Zeit des Szï-ma Tch'ien ist die Existenz dieses Buches ungefähr in seinem heutigen Umfange bezeugt und dem Lao tse zugeschrieben. Vorher liegen die Dinge recht seltsam. Von den älteren taoistischen Schriftstellern Tschuang tse und Lieh tse werden gelegentlich Texte angeführt, die wir heute im Tao tê tching finden; aber sie werden nicht als Zitate aus einem Buche des Lao tse bezeichnet, sondern tragen meist an ihrer Spitze den Vermerk: »Darum heißt es«, vereinzelt auch: »Lao Tan sagte« oder: »Lao Tan sagte im Gespräch mit – –« [R38]. Ferner aber finden wir Worte des Lao tse zitiert, welche in unserm Tao tê tching nicht zu finden sind [R39]. Endlich noch finden wir eine Stelle aus unserm Tao tê tching angeführt als entnommen aus dem »Buche des Huang Ti« [R40]. Die späteren taoistischen Schriftsteller Han fei tse (gestorben 233 v. Chr.) und Huai nan tse (Liu An) (gestorben 122 v. Chr.) geben in ihren Schriften eine große Zahl von Aussprüchen des Lao tse wieder, die mit dem Texte unseres Tao tê tching übereinstimmen, und mehrere dieser Zitate lassen keinen Zweifel darüber, daß sie einem vorliegenden Buche entnommen sind. Ein Buch der Aussprüche des Lao tse hat also zur Zeit des Han fei tse wohl schon bestanden, wenn wir auch nicht wissen, ob es unserm Tao tê tching gleich war.

Dieser Tatbestand läßt vermuten, daß eine schriftliche Sammlung von Aeußerungen des Lao tse nicht von Anfang an dagewesen ist, daß man aber Worte dieses Weisen durch mündliche Ueberlieferungen festhielt. Diese Ueberlieferungen wurden in der Zeit zwischen Tschuang tse und Han fei tse zu einem Buche verarbeitet, wobei jedoch weder alle überlieferten Sprüche des Lao tse restlos aufgenommen wurden, noch auch Erläuterungen und Zusätze seiner prägnanten Dikta ausgeschlossen blieben, sei es, daß diese Fremdstoffe schon früher mit dem echten Text zusammengewachsen waren, sei es, daß sie jetzt erst hinzutraten.

Solche Vorstellung stimmt sowohl zu dem, was uns heute vorliegt, wie zu dem Charakter des Lao tse, den uns das Buch selbst andeutet und den Szï-ma Tch'ien bestätigt. Lao tse betont nämlich wieder und wieder, daß der Weise nicht nach Anerkennung und Berühmtheit strebe, sondern sein Gedankengut verborgen halte, und so kennzeichnet ihn auch Szï-ma Tch'ien als einen, der geheim bleiben und keinen Namen erwerben wollte. Ein solcher Mann überlieferte seine Lehre schwerlich in einem eigens dafür verfaßten Buche der Mit- und Nachwelt. (Die Sage von dem Grenzbeamten Yin Hsi, der ihn zur Abfassung seines Buches bestimmt habe, kann dagegen nicht sehr ins Gewicht fallen.) Dazu kommt, daß jenes Zeitalter in China überhaupt noch keine schriftliche Lehrdarstellung der Denker gekannt zu haben scheint, sondern daß man seine Lehren nur mündlich vortrug und dem Gedächtnis von Schülern übergab. So lag die Sache bei Têng tse, bei Konfuzius, bei Mê Ti und anderen noch lange Zeit. Wie könnte es da bei Lao tse anders gewesen sein? Und wenn wir nun andrerseits das Tao tê tching, so wie wir es heute besitzen, auf seinen literarischen Charakter hin ansehen, so entspricht es durchaus der vorgetragenen Auffassung von seiner Entstehung. Die ausgesprochenen Gedanken sind gänzlich ungeordnet, isolierte Bemerkungen, die bei dieser oder jener Gelegenheit gemacht wurden und sich erhielten, ohne systematischen Zusammenhang oder Übersichtlichkeit, wie durch Zufall fixiert. Dazu läßt sich nicht verkennen, daß an vielen Stellen neben den originellen Sätzen des alten Denkers allerlei flache, banausische Bemerkungen herlaufen, zuweilen so deutlich die Form eines Kommentars annehmend, daß ihr sekundärer Charakter wie mit Händen zu greifen ist [R41]. Sondert man diesen Stoff ab – was freilich ohne eine gewisse Subjektivität nie möglich sein wird –, so bemerkt man in den Grundideen, mögen sie auch ordnungslos da liegen, eine einheitliche, gleichgestimmte Welterfassung von jener Herbheit und Kühnheit, wie sie nur einem tiefblickenden Denker mit rücksichtsloser Originalität eigen ist. Der geschlossene Kreis dieser eigenartigen Gedanken ist es mehr als alles andere, der den nachdenklichen Beurteiler immer wieder zwingt, eine bestimmte menschliche Persönlichkeit, den Lao tse der Ueberlieferung, hinter der Schrift zu suchen.

Wir werden also annehmen dürfen, daß ein Lao tse in der von Szï-ma Tch'ien festgehaltenen biographischen Bestimmtheit dem sechsten Jahrhundert vor Christo angehört hat, der seinen Ideen über Welt und Leben vor den Ohren von Jüngern und Freunden aphoristisch Ausdruck gegeben hat, ohne damit als ein Lehrer und Weiser vor der Welt auftreten zu wollen, und daß wir eine spätere Aufzeichnung seiner Worte, vermengt mit allerlei fremden Zutaten, in dem Werke Tao tê tching noch heute vor uns haben. Es wird sich darum handeln, die Aussagen des Lao tse von dem Beiwerk zu sondern und im Zusammenhange auf ihren Gehalt zu untersuchen.

 

Die Welt der Erscheinungen entstammt dem »Leeren«. Hinter allem Wahrnehmbaren steht ein nicht-wahrnehmbares Etwas, von dem alles, was Gestalt besitzt, entsprungen ist.

Keine der Eigenschaften, die wir an existierenden Wesen kennen, findet Anwendung auf jenen Ursprungsgrund. Er ist für uns ebenso unbegreiflich wie unbenennbar. Sein bezeichnendstes Bild in der Welt der Erscheinungen sind die Stellen, wo nichts ist, also das Leere, der Hohlraum, die Kluft, das Nächste bei dem Erscheinungslosen.

Unablässig entströmt der unbeschreiblichen »Leere« das Existierende: »Der Geist der Kluft stirbt nicht« (Kap. 6). Indem aber das Weltwerden aus dem Leeren hervortritt in unsere Realität, gibt jene an sich verborgene Macht sich hin an die irdische Erscheinung. Dabei schlägt sie eine bestimmte »Bahn« ein, denn das, was in sichtbare Existenz eintritt, muß irgendwie seine Bahn verfolgen, seinen Weg gehen. Die Macht des Leeren teilt also dem Werdenden seine Bahn, seinen Weg mit, sie wird sein »Tao«.

Tao bedeutet den Weg. Es ist für Lao tse die Bahn, auf der das Existierende sich kraft des tiefsten Existenzgrundes bewegen muß. Indem aber das Jenseitige, das Leere, von dem sich, als von einem Ueberphänomenalen, nicht sprechen läßt, als der Weg des wahrnehmbar Vorhandenen zu fungieren beginnt, wird aus dem ewigen Tao ein irdisches Tao. Es ist das Konstituierende alles Geschehens, das was die Dinge formt, den Wesen ihr Schicksal gibt, die Kräfte, feinste wie kolossalste, in Bewegung setzt.

Das irdische Tao nimmt also an der Welt der irdischen Erscheinungen teil. Seine Existenz und Wirkungsweise bleibt aber auch jetzt eine stille, verborgene. Das Tao, sagt Kap. 21, ist gänzlich unaufspürbar, nicht auszudrücken. In ihm beruht das Wesen der Dinge, die Erscheinung der Dinge; aber wie das vom Tao ausgeht, ist für uns verborgen. Immer wieder legt sich nur das Bild der Leere nahe. Wie man bei irdischen Gebrauchsgegenständen (dem Rad, dem irdenen Gefäß, der Tür und dem Fenster) feststellen kann, daß eine Leere an bestimmter Stelle das ist, was dem Dinge seine Brauchbarkeit gibt, so ist das Tao auch in und an den Dingen gleichsam eine leere Stelle, die doch für die Existenz grade von ausschlaggebender Bedeutung ist (Kap. 11). Alle Aussagen von ihm sind daher notwendig negativ: es ist farblos, tonlos, ausdehnungslos, Form ohne Form, körperlose Größe. Es ist von überströmender Fülle, indem der ganze Reichtum des Geschehens ihm entquillt; und doch ist es unbemerkbar, wie durchsichtig, vollkommen still und ruhig; es ist eben nur da, macht sich aber in keiner Weise geltend (Kap. 4. 14. 21.25). Diese Unbemerklichkeit wird aufgefaßt als ein entsagendes Zurücktreten. Mit seiner Riesenmacht will es nichts gelten; in seiner Riesengröße will es winzig sein. Das Wasser ist darin sein Abbild, denn dieses, obwohl von so unersetzlichem Werte für alle Wesen, sucht doch immer die Tiefe, nicht die Höhe, es nimmt den niedrigen Platz ein, den alle Menschen verachten (Kap. 8; vgl. Kap. 78 und den Anfang von 66). Auch ohne Bild preist Lao tse die edle Selbstlosigkeit des Tao: »Wie alldurchdringend ist das große Tao! Rechts wie links (zugleich) vermag es zu wirken. Die Wesen alle sind für ihr Leben darauf angewiesen, und es läßt sie nicht im Stich. Ist sein Werk vollendet, so will es keine Anerkennung dafür haben. Es liebt und hegt alle Wesen, wirft sich aber nicht zum Herren auf. Da es immer ohne Eigensucht ist, so könnte man es als etwas Kleines bezeichnen; aber da es sich nicht zum Herrn aufwirft, obschon die Wesen alle von ihm abhängen, so muß man es als ein Großes bezeichnen« (Kap. 34). An andrer Stelle wird sein Wirken charakterisiert als ein »Hervorbringen, aber nicht haben wollen, ein Tun ohne Selbstgefälligkeit, ein Auferziehen ohne Tyrannei« (Kap. 51). Wiederum wird es (Kap. 62) genannt »eine Zuflucht aller Wesen, ein Schatz des Guten, ein Halt für den, der nicht gut ist«. Und im Schlußkapitel heißt es von ihm: »Es bringt nur Gewinn, keinen Schaden« [R42].

Hier drängt sich uns die Frage auf, ob Lao tses Vorstellung vom Tao zu tiefst eigentlich persönlicher Art sei oder ob wir es sachlich (etwa als eine letzte Lebenskraft) verstehen sollen. Sprachlich ist das nicht zu entscheiden, da das Chinesische den Unterschied der Geschlechter und damit auch das Persönliche oder Sachliche nicht ausdrückt. Doch ist in dem Ausdrucke Tao zunächst ja das Sachliche sicher vorherrschend, und viele Aeußerungen über das Tao tragen deutlich sachlichen Charakter. Aber grade aus den zuletzt erwähnten Wesenszügen blickt das Menschlich-Persönliche doch stark hervor. Denn Anspruchslosigkeit, Freiheit von Selbstgefälligkeit, edles Zurücktreten, Liebe und Fürsorge, Teilnahme für die Wesen, all das setzt etwas wie die menschliche Persönlichkeit voraus. Wir werden später noch sehen, daß in diesen persönlichen Zügen dem Menschen geradezu ein Vorbild aufgestellt wird, dem er nacheifern soll. Auch die Wärme des Empfindens, die öfter unwillkürlich hervorbricht, wo der Verfasser sich, einsam unter Menschen, eng mit dem Tao zusammenschließt, bei ihm gleichsam seine Zuflucht sucht, deutet auf ein persönliches Verhältnis. Der Ausdruck »Mutter«, der mehrfach für das Tao auftaucht (Kap. 1. 6. 20. 25. 52), ist gleichfalls in diesem Zusammenhang bemerkenswert.

Indes von der anthropomorphischen Vorstellung, die etwa den Gottesbegriff durchweg beherrscht, sind wir hier doch offenbar weit entfernt. Es ist bezeichnend, daß Lao tse das Tao an einer Stelle deutlich von der Gottheit unterscheidet und ihr überordnet: »Ich weiß nicht, von wem es stammen könnte, es erscheint ursprünglicher als Gott (oder die Götter)« (Kap. 4). Uebrigens wird Gottes oder göttlicher Wesen im Tao tê tching sonst nirgends Erwähnung getan, so daß man diese vereinzelte Stelle darum als verdächtig angesehen hat (H. Giles). Jedenfalls liegt die Welt des Götterglaubens dem Lao tse völlig fern, und sein Tao steht auf einem ganz andern Niveau. Daß die überwiegende Mehrheit der Stellen, die von ihm handeln, an eine sachliche Größe, an eine Art Kraft oder Prinzip denken läßt, ist unbestreitbar. Wenn nun doch Kennzeichen der Persönlichkeit ihm beigelegt werden und eine persönliche Auffassung sich hie und da vorschiebt, so darf man das wohl damit erklären, daß das Tao für Lao tse gewissermaßen über der Alternative: sachlich oder persönlich, steht. Wie sich bei allen Versuchen der Beschreibung schließlich immer nur Negatives, Undefinierbarkeit ergibt, so ist auch mit den Bestimmungen »persönlich« oder »sachlich« nicht eigentlich an sein Wesen heranzukommen; beide sind schon zu konkret geschöpflich. Darum wird von ihm sowohl sachlich als persönlich geredet, ohne daß es bestimmt auf die eine oder die andere Seite zu stellen wäre. Als der »Ahnherr aller Existenz« (Kap. 4) steht es eben auch jenseits solcher Qualitäten.

Obwohl nicht zu bezweifeln ist, daß das Tao als der letzte Daseinsgrund alles Seienden betrachtet werden soll – »es existierte vor Himmel und Erde«, »man hat es als die Mutter des Weltalls anzusehen« (Kap. 25) –, so ist doch durchaus nicht klar, wie eigentlich das Verhältnis der realen Welt zum Tao nach Lao tse zu denken sei. Da sind »Himmel und Erde«; da ist »die Fülle der Wesen« ( Wan wu), da ist der Mensch, speziell der führende Mensch, der Herrscher; da ist das bunte Getriebe von Volk und Einzelnen. Alles das ist ausgegangen vom Tao, ist, wie Kap. 40 sagt, geboren aus dem Sein (des Tao), und das Sein (des Tao) ist geboren aus dem Nichtsein. Wenn nun alles Existierende ein Gebilde des Tao ist (Kap. 53: »Daher also erzeugt das Tao die Wesen, zieht sie auf, entwickelt sie, pflegt sie, vervollkommnet sie, bringt sie zur Reife, nährt sie, schützt sie«), so müßte sich der Einfluß des Tao doch auch widerstandslos durch das Ganze der Welt hin zeigen und geltend machen. Vereinzelt heißt es auch so: »Deshalb ist keins unter allen Wesen, das dem Tao nicht huldigte und die ›Kraft‹ (Tê) nicht ehrte« (Kap. 51); und Ende von Kap. 25 heißt es: »Der Mensch regelt sich nach der Erde, die Erde regelt sich nach dem Himmel, der Himmel regelt sich nach dem Tao, das Tao hat seine Regel in sich selbst.« Aber andrerseits tritt doch wieder und wieder deutlich zutage, daß die Welt sich dem Tao eben nicht unterwirft und nachbildet.

Während vom Tao gilt, daß es alle Wesen liebe und für sie sorge, sie fördere und ihnen beistehe, wird von »Himmel und Erde« gesagt (Kap. 4), daß sie keine Güte kennen und die Geschöpfe ihnen nur Mittel zum Zweck seien. Die Kommentare haben freilich den Sinn dieser Aeußerung schon früh dahin umzubiegen gesucht, daß hier von einer parteiischen Begünstigung Einzelner die Rede sei, was aber im Text nicht den geringsten Anhalt hat [R43]. So wenig ferner, wie hier Himmel und Erde »sich nach dem Tao regeln«, so wenig wird von unsrem Autor eine Menschenwelt und eine Menschengesinnung vorausgesetzt, in der das Tao volle Geltung hat. Vielmehr zeigt sich überall Verkehrtheit, Abwendung vom Tao. Einige zwar bemühen sich, dem Tao zu folgen, andere aber schwanken, noch andere spotten darüber (Kap. 41). Lao tse empfindet seine eigene Lage als völlige Isoliertheit (Kap. 20). Die Menschen sind gegen die Wahrheit des Tao blind, taub, geschmacklos geworden (Kap. 12), und zwar im Laufe ihrer Entwicklung mehr und mehr. Denn »die Alten« waren noch bessere Meister des Tao; mit der Zeit hat man das Tao aber verlassen und vergessen (Kap. 15. 18. 65). Damit sind allerlei Laster, allerlei unwürdige Zustände herrschend geworden, eine Entartung ist eingetreten. Und es scheint wohl nach einigen Stellen, als ob sich in dieser allmählich vordringenden Entartung eine Art Gesetz, etwas Unvermeidliches vollziehe: »Wenn die Wesen vollkräftig geworden sind, dann altern sie; das heißt ›Tao-los‹; Tao-los ist schnell dahin« (Kap. 30. 55). Daher predigt denn Kap. 19 Rückkehr zum Tao, denn das »heutige« Treiben ist das Gegenteil vom Tao (Kap. 67. 57. 53. 46). Aber der Leser möchte fragen, ob alle Mahnungen etwas helfen können, wenn diese Entfernung vom Tao ein naturgemäßer Prozeß des Alterns ist; der Leser möchte vor allem fragen, wie dies der naturgemäße Entwicklungsgang sein kann und woher die Abwendung vom Tao zu erklären ist? Muß nicht das Tao als die einzige Macht gelten, die die Welt beherrscht? Ist nicht in ihm die Entstehung des Weltalls begründet? Welcher andere Einfluß kann sich denn noch neben ihm geltend machen und von ihm abziehen, so daß eine allgemeine Verderbnis eingetreten ist?

Auf solche Fragen erhalten wir im Tao tê tching keine Antwort. Ueber die Entstehung der Welt aus dem Tao wird nichts Näheres mitgeteilt. Am meisten kosmologisch orientiert ist noch wohl der Anfang von Kap. 42: »Das Tao erzeugte das Eine; das Eine erzeugte die Zwei; die Zwei erzeugten die Drei; die Drei erzeugten alle Wesen. Alle Wesen wenden sich ab vom Yin und streben dem Yang zu. Durch den immateriellen Hauch wird ihnen Harmonie verliehen.« Hier haben wir also das aus dem rein Jenseitigen (Leeren) hervortretende Tao als das Eine, dann als nächste Stufe die daraus entstehende Doppelheit, Yin und Yang, hierauf eine rein geistige (immaterielle) Kraft, die in den beiden wirkt (sie zur »Harmonie« verbindend) und mit ihnen zusammen eine höhere Stufe der Dreiheit bildet; nun weiter »alle Wesen«. Wenn dieser Abschnitt, der die Grundzüge einer späteren Kosmologie vorwegnimmt, echt ist, so klärt er uns doch nicht auf über die Schwierigkeit, woher bei solch gradliniger Ableitung der Welt aus dem Tao das Versagen dieses Prinzips in der empirischen Welt rührt. – Neben Kap. 42 ist Kap. 21 von besonderem Interesse für das kosmologische Problem. Dort heißt es vom Tao: »Das Wesen des Tao ist einfach unfaßlich und unbegreiflich. Ja, unbegreiflich! ja, unfaßlich! In ihm befinden sich die ›Bi1der‹. Ja, unfaßlich! ja, unbegreiflich! In ihm befinden sich die Wesen. Ja, geheimnisvoll! ja, verborgen! In ihm befindet sich die Lebenskraft; diese Lebenskraft ist echteste Wirklichkeit. In ihm befindet sich die Wahrheit. Von altersher bis heute ist sein Name nicht vergangen. Alle Existenz ist hier hindurchgegangen.« Rätselhaft, wie diese Aussagen klingen, sollen sie doch offenbar etwas wie ideelle Präexistenz alles Bestehenden in dem Tao andeuten. Die Platonischen Ideen ( Hsiang, Bilder, Urbilder) scheinen hier nicht fernzuliegen. Die zum Werden bestimmten Größen ruhen zuvor als Bilder mit vollkommner Wirklichkeit und Wahrheit im Tao, das sie aus sich entläßt (wie durch eine Pforte, sagt der letzte Satz: » yi yüeh tschung fu«) in das phänomenale Dasein. Aber auch hier findet sich kein Hinweis auf einen Grund, warum die phänomenale Welt unreine, mangelhafte Realisierung der Urbilder, der Tao-Ideen, geworden ist.

Der Verfasser hat sich über diesen Punkt offenbar keine Gedanken gemacht. Sein Sinn für systematischen Zusammenhang der Vorstellungen ist noch zu wenig entwickelt, um die hier lauernde Frage zu bemerken.

Das Tao – so nehmen wir den Faden der Lehre des Lao tse wieder auf – ist in der Welt, die ihm sein Dasein verdankt, wirksam. Diese Wirksamkeit wird Tê genannt, das zweite Thema des Buchtitels. Eine Uebersetzung dieses Ausdrucks ist ziemlich ebenso untunlich wie die von Tao. Tê bedeutet lexikalisch die besondere Leistungsfähigkeit, die in einem Wesen schlummert und während seines Daseins hervortritt. Es wird dabei an nützliche, segensreiche Leistungen gedacht, an Werte, die in einem Individuum liegen und aus ihm hervorspringen, und so ist Tê dann häufig der Ausdruck für »Tugend«, »Tüchtigkeit«. Im Tao tê tching aber bedeutet Tê das Wirken des Tao, seine Lebensäußerung in den Wesen.

In allem Existierenden macht sich eine gewisse Bestimmtheit spürbar, die ihm seinen Platz im Dasein und seine Rolle im Leben durch einen natürlichen innerlichen Drang anweist. Dies ist Tê, das wirkende Hervortreten des Tao. Das Tê führt alle den festen Weg ihres Werdens, zieht sie hervor aus dem Nichts, prägt ihnen je eine individuelle Eigenart auf, bringt diese individuelle Eigenart zur Blüte, zur Reife, läßt die Einzelwesen dann wieder zurücktreten und verschwinden, »zurückkehren« in ihren Ursprung (Kap. 16). Dieser Ablauf des Tê macht sich in allen Kreaturen geltend, und es scheint dem Verfasser dabei etwas Gesetzmäßiges vorzuschweben. Die einzelnen Zustände und Fähigkeiten entwickeln sich ordnungsmäßig auseinander nach der Wirkungsweise des Tao in dem Wesen. »Das Schwere ist die Wurzel des Leichten, das Stille ist Herr der Bewegung« (Kap. 26). »Soll etwas sich zusammenziehen, so muß es vorher Ausdehnung besessen haben. Soll etwas schwach werden, so muß es vorher stark geworden sein. Soll etwas vergehen, so muß es vorher zur Blüte gekommen sein. Soll etwas weggenommen werden, so muß es vorher gegeben sein« (Kap. 36). Also: nur auf Ausdehnung folgt Beschränkung, nur auf Stärke Schwäche, nur auf Blüte Verfall, nur auf Besitz Verlust [R44]. Oder, wie man es nun auch mit einem der chinesischen Kommentatoren formulieren kann: sieht man etwas in voller Ausdehnung, so kann man auf bald eintretende Beschränkung rechnen, ebenso bei der Höhe der Kraft auf bald eintretende Schwäche, bei Blüte auf Verfall, bei Besitz auf Verlust [R45]. Diesen Gedanken des gesetzmäßigen Ganges ergänzt der Verfasser nun eigentümlich durch die Vorstellung, daß bei diesem Gange der Dinge das Weiche, Zarte das eigentlich kräftigste Ursprungsstadium sei, während äußere Stärke und Größe in Wahrheit eine innere Schwäche und Erstarrung bedeuten. »Bei der Geburt ist der Mensch zart und schwach; bei seinem Tode ist er fest und hart. Bei ihrem Entstehen sind Pflanzen und Bäume zart und weich; bei ihrem Sterben sind sie steif und dürr. Also sind Festigkeit und Stärke die Begleiter des Todes, Zartheit und Schwäche aber die Begleiter des Lebens« (Kap. 76). Man begreift leicht, wie das gemeint ist: das Zarte und Schwache des Lebensanfangs setzt dem Lebenswillen in ihm noch so gut wie keinen Widerstand entgegen, sondern ist dem Wirken des Tao, dem Tê, völlig und unbewußt ergeben. So strömt das Tê hier aufs ungehindertste und mächtigste hervor. Ist aber das Wesen erwachsen und stark, dann ist es auch selbstlebig geworden, zugleich hart und starr, den Einflüssen des Tê nicht mehr offen und also von dem rechten Lebensquell abgeschnitten. Damit ist der Untergang verhängt. Dieser vollzieht sich dann im Zurückkehren zum Ursprung. Neu aus dem Ursprung entstehend besitzen die Wesen danach zunächst wieder jene Kraft der Schwäche, in der das Tao sich voll äußert. Hiermit erklärt sich eine so merkwürdige Aeußerung wie (Kap. 40): »Rückkehr ist die Bewegung des Tao, Schwachheit ist das Wirkungsfeld des Tao.« Oder (Kap. 43): »Das Zarteste auf der Welt überwindet das Härteste auf der Welt« (vgl. auch Kap. 78). In diesem Zusammenhange wird wiederum das Wasser, früher schon ein Sinnbild des Tao, als ein sprechendes Gleichnis herangezogen. »Nichts auf der Welt ist zarter und weicher als das Wasser; aber nichts ist mächtiger, wenn es gilt, das Feste und Starke anzufallen« (Kap. 78). Es zeigt, wie das Schwache triumphiert über das Starke, das Weiche über das Harte.

Von diesen dem Ganzen des Daseins geltenden Weisungen gehen wir nun über zu dem, was speziell dem Menschen gilt. Wie steht der Mensch zum Tê, zur Auswirkung des Tao?

Auch in dem Menschen wirkt natürlich diese Grundkraft. Sie ist die »Wurzel« seines Wesens. Der Neugeborne steht zunächst, wie alle Wesen bei ihrer Entstehung, in seiner »Zartheit und Schwachheit«, in der unbewußten Passivität und Fügsamkeit seiner Existenz, völlig unter ihrer Leitung. Aber beim Heranwachsen, in der Entwicklung einer eigenlebigen Persönlichkeit, entfernt der Mensch sich meistens weit von seiner Wurzel. Dies geschieht unter dem Drange seiner egoistischen Strebungen. Die Begierde (Sinnenlust) erwacht in ihm, die ungenügsame Habsucht erwacht in ihm, die Herrschsucht erwacht in ihm: nichts ist schlimmer als diese drei (Kap. 46). Nun entflammt sich die ganze böse »Betriebsamkeit« der Welt, die darauf aus ist, jenen Leidenschaften des Menschen Genüge zu schaffen, und die Macht des Tao wird darunter erstickt. Will man diesen Weg des Verderbens vermeiden, so muß man »zurückkehren zu seiner Wurzel« (Kap. 16), man muß der Verwirklichung des Tao in sich seine Aufmerksamkeit schenken.

Diese Aufgabe beginnt damit, daß der Mensch sich seiner selbst entäußert. Nicht umsonst ist gesagt, daß das Tao aus dem Leeren, dem Nichtsein herkommt. Es liegt darin für den Menschen die Erinnerung an Selbstaufgabe, an Selbstentleerung. All das eigensüchtige Streben, welches den Begierden, der Habsucht, der Herrschsucht dient, all die »Betriebsamkeit« muß aufhören. Statt dessen muß man nur achten auf das Tê, die Wirksamkeit des Tao in uns, und sich ihm in stiller Gelassenheit hingeben. Das heißt, man muß das Nichthandeln, die Unbetriebsamkeit, das Wu wei üben.

Der vielerörterte Begriff » Wu wei«, der uns hier begegnet, zentral wie er ist für die taoistische Lebensführung, muß etwas eingehender erläutert werden [R46]. Er bedeutet nicht Untätigkeit, ein passives Sichzurückziehen von der Welt, obwohl allerdings das Meiste, was in der Welt geschieht, dem Wu wei zuwider läuft, indem es nur Aeußerung der »Betriebsamkeit« der menschlichen Leidenschaften ist. Diese Betriebsamkeit muß freilich, wie vorhin schon bemerkt, zunächst völlig abgetan werden. An dem Streben der Leidenschaften und allem, was damit zusammenhängt, nimmt das Wu wei ganz und gar nicht teil. Uebrigens aber ist das Wu wei nicht Untätigkeit, nicht buddhistische Kontemplation oder etwas Aehnliches, sondern die Entfaltung jener geräuschlosen, feinen Art von Tätigkeit, die nur vom Tao getragen und getrieben wird. Um für die Wirkungsart des Tao ein Auge und Ohr zu bekommen, muß man den Bereich der Begierden erst verlassen haben. Dann bemerkt man seinen Zug und gibt sich ihm hin, das Tê erstarkt im Menschen zum Wu wei. »Wer sich dem Studium ergibt, nimmt täglich (an Wissen) zu; wer sich dem Tao ergibt, nimmt täglich (an Begierden) ab. Er nimmt immer mehr ab, bis er beim Wu wei anlangt. Indem er nichts mehr betreibt, ist da nichts, was er nicht vermöchte« (Kap. 48).

Kennzeichen solchen höheren Lebens sind vor allem: Gütigkeit gegen andere, Genügsamkeit in Bedürfnissen, freiwilliges Zurücktreten; »ich besitze drei Kleinode, und die wahre ich mir als Kleinode; das erste heißt Gütigkeit, das zweite Genügsamkeit, das dritte: nicht nach Ehren streben im Reiche« (Kap. 67). Die drei hier als wesentlich gegebenen Kennzeichen werden an vielen Stellen des Tao tê tching wieder berührt und betont, und es sind oft Worte von ewigem Werte, die da ertönen.

»Betreibe die Unbetriebsamkeit, tue das Nichttun, schmecke das Geschmacklose. Großes wie Kleines, Viel wie Wenig (sei dir gleich). Vergilt Unbill mit Wohltun! Beginne mit dem Leichten, wenn du Schweres vollbringen willst, mit dem Kleinen, wenn du Großes tun willst« (Kap. 63). »Der heilige Mensch empfindet nicht nach starrer Regel, sein Empfinden sucht das Empfinden der Volksgenossen. Guten erweise ich Güte; Nichtguten erweise ich gleichfalls Güte; Tê besteht in Güte. Aufrichtigen erweise ich Aufrichtigkeit; Unaufrichtigen erweise ich gleichfalls Aufrichtigkeit; Tê bedeutet Aufrichtigkeit. Der heilige Mensch lebt in der Welt still und geruhig, aber er sorgt sich wohl um der Welt Wirrnisse. Seine Volksgenossen richten Auge und Ohr auf ihn, der heilige Mensch sieht sie an als seine Kinder« (Kap.49). »Hervorbringen, aber nicht besitzen wollen, handeln, aber nicht anrechnen, fördern, aber nicht bevormunden, das nennt man tiefstes Tê« (Kap. 51). »Wer vom Tao durchleuchtet ist, erscheint (gibt sich) wie blöde; wer ins Tao eingedrungen ist, erscheint wie zurückgeblieben; wer den Gipfel des Tao erreicht hat, erscheint wie ein Durchschnittsmensch; das höchste Tê erscheint wie hohl; die größte Reinheit erscheint wie schmachwürdig; das umfassendste Tê erscheint wie unfähig; das unerschütterliche Tê erscheint wie schlaff; Echtheit und Wahrheit erscheint wie verdorben« (Kap. 41).

In dem Wu wei liegt also eine Tätigkeit beschlossen, die, aus der Einheit mit dem Tao herrührend (aus der »Rückkehr zur Wurzel«), dieselben Charakteristika wie jenes an sich trägt: Stille, Unscheinbarkeit, Zurücktreten, völlige Selbstlosigkeit, dabei aber zugleich unablässiges Verbreiten von Segen um sich her. Es ist eine andere Art von Handeln als das Handeln derer, die etwas erreichen wollen in der Welt. Von den Mitteln der Gewaltsamkeit will es nichts wissen. Natürlich vor allem von jenem Aeußersten der Gewaltsamkeit nicht, das wir Krieg nennen. Krieg ist Fluch (Kap. 30. 31; vgl. 69). Aber auch alles sonstige Getue und Getriebe, womit ein Mensch gewöhnlich es in der Welt zu etwas bringen möchte, hat im Wu wei keinen Raum. Das wichtigste Kennzeichen ist hier vielmehr konzentrierte Innerlichkeit, die auf das Gute gerichtet ist. »Rein und still, so ist man der Lenker des Reiches« (Kap. 45). Sehr bezeichnend wird der Zustand dessen, in dem das Tê zur vollen Entwicklung gekommen ist, in Kap. 55 verglichen mit dem Zustande eines neugebornen Kindes, in dem das bewußte Leben mit seinen Sorgen und Aengsten, mit seinen Anstrengungen und Begierden noch nicht existiert, dessen Lebensäußerungen unbewußt von innen hervorbrechen. Der im Tê Lebende steht auch über Anstrengungen und Begierden, über Sorgen und Gefahren. Selbst in direkten, praktischen Aufgaben gilt zuerst und vor allem Zurückhaltung: »Beim Regieren der Menschen und beim Dienste des Himmels ist nichts so wertvoll wie Zurückhaltung. Uebt man völlige Zurückhaltung, so heißt das: das Wichtigste besorgen« (Kap. 59). »Wissend nicht wissen ist das Höchste. Nicht wissend (zu) wissen (meinen) ist eine Krankheit« (Kap. 71) [R47]. Und in Kap. 50 wird ausgeführt, daß der, in welchem das Tê herrscht, weder das Horn des Rhinozeros noch den Zahn des Tigers noch das Schwert des Soldaten zu fürchten braucht. »Er steht auf einem Boden, wo es keinen Tod mehr gibt«.

Wie sind diese Aeußerungen zu verstehen? Sind es übertreibende Phrasen? Oder soll die Ueberlegenheit der Naivität über die Reflexion, des Genial-Intuitiven über erworbenes Können darin ausgedrückt werden? Oder was liegt sonst darin?

Das richtige Verständnis des Tê und des Wu wei gewinnt man nur, wenn man die Darlegungen in den Zusammenhang jener Denkweise stellt, die wir mit E. Cassirer die » mythische« nannten, und von der wir schon oben (S. 35 ff.) gesprochen haben.

Das mythische Denken erfaßt die Welt im Gegensatz zu der wissenschaftlich modernen Erkenntnis nicht nach den kausalen Zusammenhängen eines Werdeprozesses, sondern nach den »Entsprechungen« eines feststehenden Weltbildes. Diese »Entsprechungen« sind für das mythische Denken keine bloßen Aehnlichkeiten, Analogien oder Gedankenassoziationen, sondern es sind reale Mächte, die einen bestimmten, feststehenden Zusammenhang von Erscheinungen umfassen und hervorrufen. In diesen Entsprechungen nun hat auch der Mensch seine Stelle und Aufgabe. Sein Körperleben, die einzelnen Organe, aber auch sein Geistesleben, die Kräfte des Intellekts, des Gefühls, des Sittlichen, alles wird in die Reihen der Entsprechungen eingeordnet. Des Menschen geistig-sittliches Wesen ist so ein sehr wichtiger Faktor mit in dem Zusammenhang des Weltgeschehens. Aber dieser Zusammenhang wird, was nie aus dem Auge gelassen werden darf, nicht nach unsrer Weise wissenschaftlich kausalen Denkens aufgefaßt, so daß der Mensch nach seinen Fähigkeiten als ein Glied in die Kette des kausalen Werdens eingereiht wäre; sondern für das mythische Denken ist der Zusammenhang ein sozusagen magischer: die Träger der Entsprechungen sind da und wirken durch ihr Dasein an einer gewissen Stelle des Weltganzen ohne Rücksicht auf kausalen Zusammenhang oder »wissenschaftliche« (modern wissenschaftliche) Möglichkeit. Daher der schon oben (S. 34; 46) beleuchtete Gedanke von der sozusagen automatischen Beeinflussung des Staats- und Volksschicksals durch die sittliche Qualität des Fürsten.

Von solcher Grundanschauung aus ist auch der Mensch des Wu wei zu beurteilen. Er ist die eigentümliche Potenz, welche das Tao dem Weltganzen einfügt, die Potenz des Tê, in einer Persönlichkeit auftretend, und dieser Potenz eignen nun natürlich die ihr zukommenden »Entsprechungen«. Solch eine Persönlichkeit wirkt sich also aus durch ihr bloßes Dasein, durch das, was sie an Tao in sich trägt. Jene für uns unglaublichen Wirkungen des »heiligen Menschen«, des »Vornehmen«, ergeben sich für das mythische Denken mit Notwendigkeit als Entsprechungen des Trägers von Tê, der Auswirkung des Tao. Darum wird auch bewußtes Streben und Bemühen hier vollständig ausgeschaltet. Das liegt auf einer ganz andern Linie, das ist Wei, »Betriebsamkeit«; jene Größe des mythischen Denkens aber ist eben nur da, unbewußt wie ein neugebornes Kind, muß jedoch kraft ihres Daseins jene gewaltigen Wirkungen selbstverständlich und unumgänglich hervorrufen. Was man wohl als »Paradoxien« bezeichnet hat im Tao tê tching, jene uns allerdings nach unserm Maßstab wissenschaftlichen Denkens paradox oder überstiegen erscheinenden Worte (wie die des 38. Kapitels), erklären sich auf diese Weise für das mythische Denken als durchaus angemessen. Die Auswirkung des Tao hat mit irgendwelchem praktischen Eingreifen und mit Einzelbemühen nichts zu tun, das Tao ist als solches wirksam. Wir sagen »unbewußt«, aber die Auffassung des mythischen Denkens ist damit nur ungefähr unserm Denken angenähert.

Sowie bewußtes Bemühen und Arbeiten sich geltend macht, ist das eine dem Tao gegensätzliche Strömung, es ist Dekadenz. So wird aus dem Tê als der magischen Potenz des Tao mit der Zeit allerlei Einzeltugend und Einzelbestreben: Menschenliebe, Gerechtigkeit, Sittlichkeit; all dergleichen nur eine Linie des Verfalls! (Kap. 18. 19). Sehr bezeichnend für diesen Standpunkt ist auch Kap. 47: »Ich brauche nicht aus der Tür zu treten, um die Welt kennen zu lernen; ich brauche nicht aus dem Fenster zu gucken, um des Himmels Tao zu erkennen. Je weiter du gehst, desto weniger lernst du kennen.«

Aber wir leben allerdings in einer Zeit des Verfalls, meint der Verfasser des Tao tê tching; in einer Zeit, da Menschenliebe und Gerechtigkeit, Wissen und Weisheit, Familienliebe und Güte, Loyalität und Beamtentreue sich breit machen, hinter denen indes nichts ist. In alter Zeit, da lebten die Menschen, in denen das Tao noch vollkräftig herrschte; ihr äußerliches Kennzeichen aber war Zurückhaltung, Vorsicht, Behutsamkeit, Undurchschaubarkeit. Sie brauchten nichts zu zeigen, zu äußern, zu betreiben, – daß sie da waren, genügte (Kap. 15).

So auch mit den Herrschern der alten Zeit. »Von den Herrschern des höchsten Altertums wußten die Untertanen nur, daß sie da waren. Die darauf folgenden liebte und pries man. Die darauf folgenden fürchtete man. Die darauf folgenden verachtete man« (Kap. 17). Daß es bei jenen Frühesten genügte, von ihrem Dasein zu wissen, soll ihr völliges Zurücktreten, ihr vollkommenes Wu wei bezeichnen. Sie waren reine Verkörperung des Tao, und ihr Sosein reichte hin, dem Volke alle Segnungen der Regierung zu übermitteln. Es wäre den Regierenden der Gegenwart zu wünschen, meint Lao tse, daß sie die Regierung im gleichen Sinne führten. Diesen Gedanken verfolgend zeigt er mehrfach sehr deutlich, wie das Wirken des Wu wei beim Regenten zu verstehen ist. »Wenn die Könige und Fürsten das Tao bewahrten, so würden alle Wesen von selbst anders werden« (Kap. 37). »Wenn ein Herrscher mit Liebe zum Volk sein Reich regiert, so braucht er weiter nichts zu betreiben« (Kap. 10). »Wer durch allerlei Betriebsamkeit das Reich an sich bringen will, der wird, das weiß ich, es nicht erreichen. Das Reich ist ein Gebilde höherer Art, da nützt keine Betriebsamkeit. Wer es betreibt, zerstört es, wer es fassen will, verliert es« (Kap. 29). »Einen Staat zu regieren, muß man so (vorsichtig) verfahren wie beim Braten eines kleinen Fisches« (Kap. 60). »Durch Nichthandeln bringt man das Reich an sich. Darum sagt der heilige Mensch: ich übe das Wu wei, und die Leute werden von selbst anders. Ich liebe die Eingezogenheit, und die Leute handeln von selbst richtig. Ich tue nichts, und die Leute werden von selbst reich. Ich begehre nichts, und die Leute werden von selbst einfach« (Kap. 57). Darum sind auch Gesetze und Verordnungen unnötig, ja sie bringen ein Volk herunter. In dem Regierenden muß nur die rechte Gesinnung lebendig sein, so wird sie damit auch dem Volke zuteil. Aber, ach, die Fürsten der Jetztzeit sind nicht vom Tao geleitet! Sie betreiben vielerlei, was angeblich das Land vorwärts bringen soll, aber ihr Treiben ist im Grunde Räuberei, und das Volk geht trotz glänzender Hofhaltung und prächtigen Auftretens zugrunde.

Merkwürdig ist nun, wie unser Philosoph sich in einem kurzen Abschnitte (Kap. 80) das Ideal eines vom Tao durchdrungenen Volkes ausmalt als Gegenbild zu den im damaligen China ihn umgebenden Verhältnissen.

Er denkt sich einen Kleinstaat von wenig Bevölkerung und Ausdehnung. Wie es scheint, sieht er da die beste Gelegenheit zur Erreichung seines Ideals. Eine geringe Beamtenschaft ist vorhanden, die doch möglichst nicht in Tätigkeit tritt. Das Leben der Menschen würde so beschaffen sein, daß sie es lieben und die Heimat nicht gern verlassen. Zwar hat man Verkehrsmittel, Schiffe und Wagen, aber sie werden so gut wie nicht benutzt: man haftet an der Scholle. Zwar hat man Waffen, aber man nimmt sie nicht hervor. Krieg wird nicht geführt. Zu Mitteilungen im Verkehr verwendet man die altertümlich-umständlichen Knotenschnüre der Urzeit, keine Schriftzeichen, womit also der Verkehr auf das Notwendigste beschränkt ist. Die Leute finden ihre Speise lecker, ihre Kleidung hübsch, ihr Heim behaglich, ihr gewöhnliches Treiben vergnüglich. Lägen auch Nachbarstaaten in Sehweite, daß man die Hähne krähen und die Hunde bellen hörte, so würden die Leute doch ihr ganzes langes Leben hindurch niemals Verkehr mit den Nachbarn pflegen.

Das kleine Gemeinwesen, welches so in den Hauptzügen seines Aeußeren skizziert wird, steht unter dem Motto: Beschränkung ( , Kap. 59). Eine Art beschränkten Paradieses ist es, Befriedigung in einem kleinen Kreise, der nicht durchbrochen wird, der allen bietet, was das allgemeine Bedürfen nötig und erwünscht findet, der aber von Fortschritt, vom Weiterstreben, vom endlosen Wege des Menschen in unbekannte Fernen nichts weiß. Es ist das Ideal der statischen Weltbetrachtung, die mit dem mythischen Denken gegeben ist. In manchem der noch heute in China bestehenden taoistischen Klöster, im Leben der Mönche dieser Klöster könnte man jenes Ideal einigermaßen verwirklicht sehen [R48].

Zum Schlusse dieser Würdigung des Lao tse mögen noch die Gedanken kurz zusammengestellt werden, die seine Lehre mit der des Têng Hsi gemeinsam hat und in denen gemeinsamer Besitz des damaligen Denkens vorliegen wird, wenn er auch bei Lao tse eine besondere und tiefere Prägung empfangen hat. Dahin gehört die Auffassung des Fürsten als eines magischen Zentralfaktors im Staatsleben (damit zusammen die Idealisierung der Herrscher des Altertums); ferner die Lehre vom Tao, von seiner alldurchdringenden und allerkennenden Kraft, vom Tê, vom Wu wei und von der Leerheit. Auch der Begriff des vollkommenen Tao-Jüngers, des »Heiligen«, gehört hierher. Lao tse sowohl wie Têng Hsi folgen in der Handhabung dieser Begriffe herrschenden Ideen ihrer Zeit; aber es ist augenfällig, wie sehr vor allem Lao tse diese Gedanken vertieft und ausgebreitet hat, so daß sie mit einer ganz neuen Wucht und Tragweite zur Geltung kamen.


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