Emil Gött
Die Wallfahrt
Emil Gött

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Auch eine Bismarckanekdote

Seit der Morgenfrühe war ich von Como durch die unvergleichliche Brianza nach Lecco herübergekommen und wanderte nun, ohne von den Promissi sposi mehr als einen Straßennamen kennengelernt zu haben, die Adda weiter hinunter. Der Mittsommertag war recht heiß geworden, und ich fing an, die Hitze, den Staub und in den Füßen den langen Weg auf der harten Straße zu spüren. Wohl hatte ich eben in der Nähe von Calolzio – wie das Nest wohl heißt – ein erfrischendes Bad genommen, aber dennoch wieherte mein Herz, wie ein Wüstenhengst das gewitterte Grün der Oase begrüßt, als ich auf dem Weitermarsch in der heißesten Nachmittagsstunde in den Schatten eines Hauses trat, das hart an der Straße steht, aber an der einen Ecke noch einen kleinen Grasbord hat. Kurz entschlossen warf ich mein Ränzel ab, zog Stiefel und Strümpfe aus, warf mich hin, schob jenes unter den Kopf und – entschlief, auf dem kurzen Grase und meinem guten Gewissen.

Ich muß wohl zwei, drei Stunden der Sonne, dem Staube, der Müdigkeit, dem ohrenzerreißenden Geschrille der Zikaden – deren Ruhm und Beliebtheit bei den Alten und den heutigen Südländern mir den Beweis liefert, daß Nerven etwas Nordisches und Neues sind – und auch der sonstigen Glorie und Misere des Lebens enthoben gewesen sein, als sich mir eine Fliege oder was Ähnliches auf die Nase setzte und mich kitzelte. Noch schlafend, aber schon beunruhigt, fuhr ich mit dem Ärmel über das Gesicht, vermutlich talpig genug. Aber die Fliege kehrte zurück, einmal – zweimal – dreimal, und immer wiederholte ich die abwehrende Bewegung, jedesmal ein bißchen wacher werdend. Zugleich hatten sich Träume entsponnen, in denen oder durch die hindurch ich jemand kichern zu hören glaubte und endlich 179 auch unzweifelhaft hörte. Auch die verdammte Fliege war wieder da. Brummend schlug ich noch einmal nach ihr und öffnete blinzelnd meine Augen – da tanzte gerade um meine Nasenspitze ein zusammengedrehtes Papierchen, und dieses Papierchen hängt an einem Faden, und dieser Faden läuft hinauf zu einem Fenster im Oberstock, in dem drei lachende Menschen liegen, zwei junge Weiber und ein schwarzbärtiger Mann über ihnen, von denen die eine den Faden lenkt, und an diesem Faden läuft noch das letzte Kichern herab – ich seh's an seinem Zittern, denn auch die Hand kichert mit – und jetzt bricht es über meinem verdutzten Augenaufschlag und langsamen Verstehen der Situation – denn bis ich mich erst besonnen hatte, wo ich eigentlich war, verging mehr als ein Augenzwinkern – in ein unendliches Gelächter aus.

Dieses brachte mich aber nun auf die Beine! Ich sprang auf und drohte lachend hinauf: »Ihr verdammten Racker! – Bona sera!«

Das Lachen machte dem fröhlichen Ernst des Gegengrußes Platz, den der Schwarzbärtige übernimmt.

»Bona sera!« erwidert er und fragt weiter, ohne zu hohe Anforderungen an meine höchst dürftigen Sprachkenntnisse zu stellen: »Ben dormito?«

»Si, si, signor! Tante grazie!« gebe ich zurück.

»Ah, niente! Niente! Che compatriota?« fragt er weiter.

»Tedesco«, sage ich.

»Austriaco o Bismarcko?« fragt er.

Österreicher oder Bismärcker!

Himmeldonnerwetter! Geht da ein Schlag durch mich, heiß und schneidend und – süß! Und »Bismarcko!« ruf ich mit vergehendem Atem, und es ist fast ein Jauchzen – und dann wurde es stille in mir, einen Augenblick nur, eine Stille der Entzückung, in der sich neue Stürme des Jubels sammeln.

In undankbarer Geistesabwesenheit – undankbar gegen den 180 ahnungslosen Wirt dieser schönen Erregung und Erhebung – gab ich mechanisch auf die weiteren kurzen Fragen der Neugier nach woher und wohin und Gewerbe Antwort – oder auch nicht. Denn es ist wohl anzunehmen, daß ich trunken, vielleicht noch ohne Gruß die Straße weitertaumelte, immer und immer wieder das unerhörte Wort wiederholend: Bismarcko! – Bismarcko! Bismärcker!

Ja, es kann so gewesen sein. Wenigstens kann ich mich auf nichts Vergängliches mehr besinnen; so sehr war das starke Gefühl Alleinherrscher der Lage. Und war ich nicht wie geblendet?

Mit jedem ersten Blitz war es gewesen, daß sich jäh und grell in unmeßbar kurzer Zeit ein Gesicht auftat, wie sich auch in nächtlichem Gewitter das dunkle Gewölbe einem blitzlang öffnet und schließt.

Die ganze Geschichte unseres Vaterlandes lag einen Augenblick jäh erleuchtet vor mir, Deutschland, dieses gärende Chaos aller nationalen Erbärmlichkeiten, aus dem sich langsam und schmerzhaft, in immer neuen Fehlblühungen und Verfaulungen ein Volk emporschafft; sich emporquält von Not zu Not, von Kerl zu Kerl, von Schmied zu Schmied, der es zu glühen und zu hämmern und ihm ein Stück Unerz auszutreiben, und, soweit die Glut in der Esse und das Armschmalz reicht, notdürftig eine Waffe aus ihm zu schmieden versteht; und ich sah und durchgriff in einem Augenblick alle Not und alle Lust, die in unserm Volke miteinander ringen – und alles verklang und schloß sich wieder in dem einzigen Tone dieses entzückenden Wortes, halb Jauchzen, halb Seufzer: Bismarcko! – Bismärcker!

Und noch vier- oder fünfmal hatte ich auf dem weiteren Wege bis Venedig die Wonne, jene Frage wieder ebenso gestellt zu hören, und ebenso oft mit einem freudigen »Bismarcko!« beantworten zu dürfen, das sich wie triumphierendes Lachen anhört. Sonst fragte auch wohl der oder jener: Austriaco o Prussiano, und so kräftig ich auch in diesem Sinne bejahte, 181 obwohl ich kein Preuße bin, hatte ich heimlich dabei doch immer Durst nach einem ganzen und vollen Namen und wäre es auch nur endlich – statt der fünfundzwanzig Fasernamen schlichthin Deutscher!

›O, Deutschland, Deutschland!‹ mußte ich dabei immer denken: es ist schon viel für dich getan, wenn du nur einmal erst einen Namen hast! Bei Gott, bei dieser Kindstaufe möchte ich auch sein!

Bis dahin aber, oder doch so lang ich lebe, sonne ich das fröstelnde deutsche Gebein in diesem Namen, den ich im Welschland für uns fand: – Bismärcker! 182

 


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