Emil Gött
Die Wallfahrt
Emil Gött

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Wallfahrt

Die »Zinken-Marei«, wie sie wegen ihrer wider Wunsch und Willen ganz aus der Richtung getretenen Nase vom teilnahmsvollen Dorfe genannt wurde, trottete im tiefsten Mißmute die Landstraße dahin, die von der schönen Stadt Freiburg im Breisgau das Dreisamtal aufwärts nach Zarten führt.

Es war unerhört heiß. Die unbarmherzige Julisonne, die seit Wochen sich bemühte, die schöne harte Straße zu Staub zu brennen, goß heute ihre Gluten in heißen Wellen nieder; man sah die Hitze förmlich, denn die Luft zitterte über dem grellweißen, sengenden Boden.

Die Marei litt doppelt darunter. Sie hatte an dem einen Auge, über dem sie aus diesem Grunde eine Binde trug, ein äußerst schmerzhaftes Gerstenkorn, das bei der verzehrenden Hitze und dem feinen, bei jedem Schritt aufwirbelnden Staube unerträglich brannte.

Alle möglichen und unmöglichen Sympathiemittel hatte sie schon versucht, und die unsinnigsten am beharrlichsten; allein auch die allerunfehlbarsten hatten, diesmal wenigstens, nichts genützt. Mit allen geweihten Wassern, gebrannten und ungebrannten, hatte sie äußerlich Umschläge und innerlich Berieselungen angestellt. Mit Todesverachtung hatte sie unter anderem volle drei Tage lang einen Absud von Hobelspänen eines für eine reine Jungfrau bestimmten Sarges getrunken; und erst gestern noch schlug sie einen Sargnagel, einen echten rostigen, mittags um drei Uhr in die Kirchtür – der alte Matthes, der 10 Totengräber, hat ihn ihr für ein Päckle »Kronprinz«, den er am Sonntag raucht, am vorigen Freitag extra ausgegraben, wenigstens behauptete er's. Aber beides (und ebenso zwanzig andere gleich ausgezeichnete Mittel) war bis jetzt fruchtlos geblieben, was ihr gewiß Grund genug bot, öffentlich die Reinheit jener Jungfrau und die Ehrlichkeit des Matthes anzuzweifeln.

Nebenbei gesagt, wegen des ersten Punktes hat sie auf nächsten Mittwoch eine Vorladung vors Schöffengericht. »Die Menschen sind halt zu schlecht«, meinte sie dazu, »und eine alte schutzlose Wittfrau, an der wird halt herumgezwackt und geplackt, wie und wo und was man kann.«

Heute war sie sogar – was der Bauer in halbwegs richtigem Instinkt nur im Zustand der letzten Verzweiflung tut, weil ja dann nichts mehr zu verderben ist – zum Doktor gegangen. Aber natürlich nicht zum Physikus nach Kirchzarten, denn bei dem ist nicht einmal der Tod umsonst, sondern nach Freiburg in die Poliklinik, wo es nix kostet, nachdem sie zuvor auf dem Markt ihr Bälleli Butter, die achtzehn Eier und vierzig Kuhkäsli verkauft hatte. Aber da hatte man sie nicht übel vergellstert; die Herren kamen gleich mit dem Messer: Die Kaiben, ja, wenn die nur schneiden können! Aber das hatte sie denn doch nicht gelitten, sondern war fortgelaufen; denn vor dem Messer, vor dem hat sie die gleiche Scheu, wie vor dem frischen Wasser. Da nahm sie lieber das schmerzende Auge wieder mit heim, auch wenn es schier zum Verzwazzeln war auf dem sengenden, blendenden Wege. ›O du mei Jemerle, was ist das doch für ein Schindleben! Nicht einmal flennen darf man, auch wenn man's Augenwasser kaum verheben kann, sonst brennt es nur um so ärger. O du liebs Herrgöttle! Hast du denn gar kein Herz oder keinen Heiligen für so ein elendes, geplagtes Weibervolk?‹

Bei diesem Gedanken blieb sie betroffen stehen und blinzelte hinüber auf die linke Talseite. Wo hatte sie nur die Zeit über ihren dummen Kopf gehabt, daß sie daran nicht gedacht? Dort 11 drüben öffnet sich ein Dobel in der dunklen, schön bewaldeten Bergwand des Roßkopfes. Wild und anmutig zugleich schwingt er sich hinauf, und zuhinterst oben, da steht eine weit und breit berühmte Kapelle, geweiht der allzeit hilfreichen, wundertätigen heiligen Ottilia, der gottseligen Tochter des weiland Herzog Elicho im Elsaß drüben, der ein gar arger Wackes und Heide im Gegensatz zu seinem gottseligen Kinde gewesen sein soll. Heute zwar denkt man nur noch wenig an ihn, und nur mit Gruseln und Grauen. Dagegen aber wallen zu seiner Tochter von überall aus der Umgegend die bresthaften Leute, besonders die mit Augenleiden beschwerten. Schon mancher ist in die kühle Felsengrotte unter der Kapelle niedergestiegen, hat sein schlimmes Auge in der heilsamen Quelle gebadet, die da unten sprudelt, und ist geheilt nach Hause gewandelt. Wenigsten sind die vielen wächsernen Votivaugen, welche die frommen Pilgrime vor der Kur hinter dem Hochaltar aufhingen, gewiß die untrüglichsten Zeugen für die muntre und erfolgreiche Konkurrenz, welche die heilige Ottilia den gescheiten Hofräten und Professoren in Freiburg drunten bereitet.

Zu ihr nahm nun auch die schwer bedrängte Zinken-Marei von Zarten ihre Zuflucht; und die neue Hoffnung, die augenblicks ihr verzagtes Herz schwellte, machte ihre Bürde um vieles leichter. So schwingt sich der nur noch matt mit der feindlichen Woge ringende Schiffbrüchige auf die rettende Planke, welche ein freundlich Geschick ihm entgegenschwemmt.

Zum guten Angange beschloß sie, sogleich eine kurze Andacht zu Ehren ihrer Heiligen zu halten. Zur Gewinnung der rechten Beschaulichkeit bog sie von der Landstraße ab, wenige Schritte in einen Seitenweg hinein. Da erheben sich nämlich vier alte, dicht belaubte Linden im Geviert, die mit ihren weit ausladenden, tief niederhängenden Ästen einen kühlen, lauschigen Raum bilden, dämmerig wie eine Kirche. Dahin lenkte sie.

12 Wie sie aber den Schatten betrat, sah sie bereits eine weibliche Gestalt neben der Bank im Grase sitzen, die an ihrem Bein herumbastelte.

Eine verdrießliche Wolke zog über Mareis Gesicht.

»Du au do, Seppe?« sagte sie, etwas zäh.

»Hä?« fragte jene, offenbar schlecht gelaunt.

»Ob du au do bisch?«

»Jo!«

Es war die sogenannte ›kalte‹ Seppe, auch aus Zarten. Wie sie zu diesem Übernamen gekommen war, das wußte kein Mensch mehr zu sagen, obwohl unzählige Deutungsversuche im Dorfe umliefen. Man nannte sie halt von jeher so und wird sie noch 13 eine gute Weile so nennen, auch wenn sie schon lange im Himmel sein wird. In diesen kommt sie nämlich, das ist ganz sicher; sie ist fromm und hienieden arg mit offenen Schäden an den Beinen geplagt. Schon lange doktert sie daran herum, und schwerlich könnte jemand ausrechnen, wieviel Blätter von Bärlapp, Katzenbaldrian, Hirschzunge und Hauswurz, wieviel Lilien- und Fenchelwasser, wieviel Wundersalben und Sympathiemittel sie schon gebraucht hat.

Eben legte sie sich zur Kühlung frische Nußblätter auf ihr schlimmes Bein. Die Zinken-Marei setzte ihren Marktkorb nieder, warf aber, bevor sie sich daneben niederließ, rasch ihren Tschoben drüber, ihre Schwarzwälderjacke mit den dicken, wattierten, bauschigen Ärmeln. Sie hatte den hämischen Blick aufgefangen, mit dem die kalte Seppe fünf oder sechs verwelkte Endivienstöcke musterte, welche ihr auf dem Markt niemand abgenommen hatte. Außer diesen lagen aber auch noch zwei Groschenwecken, ein Viertelpfund Zucker und zwei hochrote Zichorienpäckchen darin, und sie wußte den Tschoben so geschickt zu lenken, daß die letzteren kokett darunter hervorsahen. Sie freute sich – durch die boshaften Augen der Seppe schimmerte etwas wie Neid.

Sie waren Schulkameradinnen und Nachbarinnen, als Dorfgenossen natürlich auch miteinander verwandt, allerdings von sieben Suppen ein Tünkchen, und standen zusammen auf dem üblichen Fuße, das heißt, heute auf dem und morgen auf dem andern, gewöhnlich aber, wenn sie gerade über niemand verbündet herfallen konnten, auf sehr hochgradig gespanntem. 14 Katzen können sich nicht schärfer und eifersüchtiger belauern, Todfeinde nicht mitleidloser jede Blöße ausnützen, welche die andere zeigte.

Auch jetzt, wo die Zinken-Marei etwas im Vorsprung war, durfte sie die kostbare Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, der kalten Seppe eins zu versetzen.

»Der Zucker hat schon wieder ufg'schlage«, meinte sie bedauerlich, »es isch schier nümmi z'preschtiere!«

Die kalte Seppe merkte es wohl, doch machte sie ihrem Namen Ehre: sie blieb kalt und erwog Rache.

»Wa isch denn das für?« fragte sie, mit einer ungewissen Geste nach dem Korbe.

»Vum beschte!« entgegnete Marei leichthin und vornehm, »'s Pfund zu sechsedrißig!«

Nun zog aber Seppe Trumpf und machte zwei haarige Stiche auf einmal:

»I mein nit des Vierlig Zucker«, sagte sie mit verächtlicher Betonung, »i mein de Zigori! Un i denk, wenn i näumis mit der Nas hizeig, so kammer merke, wona!«

Ah, das saß! Dies kündeten zwei weißliche Flecken an Mareis schiefer Nasenspitze.

Mit zittriger Stimme, die aber nichts verraten sollte, versetzte sie dann: »Ah so! 's Kaffemehl – 's Päckli zu zwanzig!«

Die kalte Seppe machte ein ungläubiges Gesicht und fragte spöttisch: »Wa ischs? – Kaffemehl?«

Dieser Zweifel brachte die Marei auf. Wütend riß sie eines der Päckchen hervor und fuhr damit der Seppe unter die Nase: »So, wa isch denn des, wenn de lese ka'sch?«

Die Seppe las und sagte mit spitzbübischer Freundlichkeit: »He – Zigori!«

Die Zinken-Marei warf einen raschen Blick darauf und erbleichte; sie hatte in der Eile das letzte erwischt. Doch holte sie das andre hervor und fragte mit vor Zorn erstickter Stimme: »So? aber des?«

15 Die Seppe sah wieder drauf, und diesmal konnte kein Zweifel walten; es war in der Tat Kaffeemehl. Um aber auch den halben Triumph der Marei zu stören, lehnte sie sich verächtlich abwehrend zurück.

»I für mi Teil mag des Geschmus nit«, sagte sie, »lieber nimmi e paar Kaffeböhnle meh! – Wer weiß, wa do für e Dreck drin isch! 's kummt weger nit druf a, was für e Papierli druf pappt isch, sondern wa drin isch!«

Bei diesem Worte riß ihr aber der Bindfaden, mit dem sie gerade den Lappen über die Nußblätter festbinden wollte. Um einen andern zu nehmen, rückte sie ihren Korb näher und deckte ihn ab. Ein Schwarm Schmeißfliegen erhob sich mit lautem Gesumm.

»Die verfluechte Mucke, die Kaibe!« schimpfte sie. Die Zinken-Marei machte einen langen Hals nach dem Korbe und fragte: »Wa hasch denn du kromt?«

»E Pfündli Ochsefleisch für morn!« entgegnete mit stolzer Würde die Seppe, langte das Stück heraus und hielt es der andern hin. »Lueg mol, wie schön feist!« renommierte sie und drückte ihren unförmigen Daumennagel bis über die Wurzel in das dicke, gelbe, schwitzende Fett, an dem nur ein kleiner verhutzelter Streifen Mageres hing, so daß es einem grausen konnte, sowohl vor dem Fett als vor dem Nagel.

Dagegen heftete die Marei einen neidischen Blick darauf und sagte kritisch: »Lempe? – Vum Bug isch besser!«

Die kalte Seppe drückte zum Abschied noch einmal den Nagel hinein, dann legte sie das Fleisch zurück, deckte es zu und 16 versetzte: »Jo, aber Lempe git besseri Suppe!«

Hierauf nahm sie den Baumwollknäuel, der neben einem angestrickten Strumpf lag, und zwickte ein Stück ab.

Die Beschäftigung mit ihrem Beine änderte nun ihre geistreiche Unterhaltung.

Die neue aber, die nunmehr in Fluß kam, förderte eine wundersame Erscheinung zu Tage: die Weiber, die eben noch so voreinander groß taten, machten sich nunmehr auch den Vortritt im Elend streitig. Und so saßen nun die beiden alten Hutzelweiber – alt waren sie just nicht, aber trotz ihrer höchstens fünfzig Jahre sahen sie aus wie gedörrte Birnschnitze – so saßen sie beisammen und überboten sich im höchsten Diskant ihrer zerbrochenen, schetterigen Stimmen, ihre Leiden zu beklagen. Weithin hallte es durch das mittagstille, glühende Tal. Die wenigen Wanderer drüben auf der Straße, vom Markt heimkehrende Bauern, die paar ährenlesenden Weiber und Kinder, auch ein Bauernwägelchen, das schläfrig dahinklepperte, alles hielt inne und lauschte verwundert auf die seltsamen Töne unter den Linden; sogar der Grauschimmel spitzte die Ohren und wandte schwerfällig den dicken Kopf hinüber.

Oben auf den Wipfeln waren die Spatzen aufgewacht und die Meisen; sie hüpften herunter bis auf die letzten Zweige, die frechsten bis auf den Boden und schauten mit den hellen, beweglichen Äuglein gar erstaunt auf das kuriose Paar mit den roten, schwitzenden Gesichtern, den klappernden Mäulern und den giftigen Augen; auf die kalte Seppe, die so hitzig tat, und auf die Marei mit dem schiechen, verdächtig nach gebrannten Wassern leuchtenden Zinken.

Plötzlich schnappte die letztere ab, vielleicht weil sie sah, daß sie mit dem bloßen Überbieten den Zuschlag doch nicht erhalten konnte, und fing an, in geheimnisvoll munkelndem Tone, wohl um Stimmung zu machen und die Wirkung zu verstärken, der kalten Seppe ins Ohr zu zischen, daß es nur so pauzte: sie habe 17 alles versucht, und alles habe nichts gebattet; aber heute, auf dem Heimweg, da habe sie eine Eingebung vom Himmel erhalten; ob ihr ein Engel erschienen sei oder gar die Jungfrau Maria selbst, das wüßte sie nicht genau; es sei halt zu siedig schnell hergegangen, aber item, eine himmlische Stimme habe ihr geraten, eine Wallfahrt zur heiligen Sant Ottilia zu machen, die würde gewiß helfen; die sei keine so, wo nur ihre Freude daran hätten, ein arm Weibervolk zu schinden und zu plagen. Also, sie wolle heute, als am Samstagabend, beichten, morgen früh kommunizieren und nach der Messe nach Sant Ottilien hinauf, noch nüchtern, denn so sei es kräftiger; sie nehme aber für den Heimweg einen Mocken Brot, ebbe sechs Kuhkäsli und eine Butelle Wi mit; was sie meine?

Die Augen der kalten Seppe glitzerten verständnisinnig. Sell sei ein guter Gedanke, und sie wolle, nix für ungut, auch mithalten; was sie meine?

»He frili, warum nit!« meinte zuvorkommend die Zinken-Marei. Und so besprachen sie noch zusammenträtschend ihre gemeinsame Pilgerfahrt zur heiligen Ottilia. Dann machten sie sich unter vielem Ächzen und Bärzen auf den Heimweg, der ihnen sauer genug vorkommen mußte; denn wie eine wallende 18 Lohe schlug ihnen der erbauliche Sonnengruß entgegen, als sie aus dem Bereiche des Schattens traten.

Der Atem versagte ihnen zum Schwatzen. Stumm und mißmutig wie zuvor latschten, schlurpften und tschiengten die beiden Daudeln davon, wie die Sprache ihrer Heimat fein schattierend ihren unbeschreiblichen Gang bezeichnet.

 

Gebadet in Sonnenglanz und Sonnenbrand lag die schöne Runde des Dreisamtals vor der Zinken-Marei und der kalten Seppe, als sie am andern Morgen aus dem Walde von Obstbäumen traten, der ihr heimatliches Dorf umschließt. Tiefblau wölbte sich die Himmelsdecke über ihnen, und nur an den Rändern, die auf dem Kranze der dunklen Berge ringsum aufstanden, formten sich kleine weiße Wolkenballen mit scharf abgehobenen Umrissen. Es mußte ein Gewitter in der Luft liegen; sie war so schwül, durchsichtig und weithörig. Deutlich standen die fernen Vogesen über der Talmündung bei Freiburg, und hell klangen die Glocken von einem Dutzend Kirchen zusammen; sogar von Freiburg drunten und von St. Peter droben am Kandelhang tönte ihr melodisches Geläute, wie aus nächster Nähe. Wie hundertstimmiges Kindergebet, untermischt mit tiefen Mönchsbässen, zitterte es in der warmen Luft, weihevoll und rührend.

Auch die roßledernen Herzen der beiden Wallerinnen waren in einiger Bewegung; doch waren es keine Glockentöne, welche sie in harmonische Schwingungen versetzten, sondern der Nachhall einiger Ärgernisse.

19 Sie hatten das Unglück gehabt, als sie mit frommen, kümmerlichen Mienen, einen ellenlangen Rosenkranz in den über dem Bauche gefalteten Händen, aus der Kirche traten, auf der Dorfstraße in einen ›Schnakenschwarm‹ zu geraten.

Da standen nämlich einige Gruppen von Männern und ledigen Buben, in Hemdsärmeln und keck eine Nelke hinterm linken Ohr; und hemdsärmlig schlenderte auch ihre dörperliche Laune dahin. »Seppe!« rief so ein Nixnutz und Gutschick, »was gilt's, heit wirsch emol warm, un wenn de so kalt wie 'ne Iszapfe wärsch!« Es war gut, daß die Augen der kalten Seppe keine Zähne hatten – dem Burschen hätte seine Mutter heute umsonst Speck und Bohnen gekocht, und die Seppe hätte nicht mehr nüchtern pilgern können.

Um den scheinheilig gespitzten Mund der Marei spielte ein leises Schmunzeln, das aber schleunigst verschwand, als ein andrer meinte, es sei doch schad, daß ihr Zinken nicht von Butter sei, sonst hätte sie ihn heute einmal zum Gaudi auf die andere Seite drehen können. Und noch unter dem Gewieher, das diesen Worten folgte, stimmte ein Dritter mit heller Stimme an: 20

»Der Marei ihr Zinke
Tuat nia, was er sott –
Die Marei will hüst
Und ihr Zinke macht hott!«

Und die andern sangen den Kehrreim:

»Huliöh, Huliah!
Huliöhadriadiadiaduh, juch!«

Das schmerzte, das schmerzte bitterlich! Aber mehr als alles schmerzte doch der Strahl der Schadenfreude, den die Marei über das Antlitz der kalten Seppe huschen sah, wie einen Sonnenblick über eine gelbe Pfütze. Es war ein böses Wahrzeichen auf den Weg, dieser Anfang. Und man hatte sich doch so schön vorbereitet gehabt!

Besonders die Marei hatte das wehleidigste Märtyrergesicht aufgesetzt, das sie schneiden konnte, und die Binde nahezu über beide Augen gezogen, es schien wenigstens so. Dafür hatte sie ihr Patenkind, den 21 kleinen Pankraz, mitgenommen, einen Knirps mit schneeweißen Haaren und vergißmeinnichtblauen Augen. Und sie tat ganz, als ob der sie führen müßte. Ja, man muß halt die Farbe etwas dick auftragen, auch den Heiligen gegenüber, damit sie sich um so eher erbarmen.

Und da kommen nun die Lauskerle und verreißen einem so die beste Stimmung!

»Nichts ist so schön, dem noch der rohe Henker,
Und nichts so heilig, dem der Schänder fehlte –«

so hätte sie irgendeinem Dichter nachsagen können, was sie aber aus Gründen nicht tat. Sie gab auch ihrer Freundin keine Antwort, als diese vor dem Dorfe auf die Kaiben zu schimpfen anfing und heimtückisch meinte, es könnte doch niemand für seine Nase; die käme ja vom lieben Herrgott, und der wüßte, 22 was er täte. Aber im Geiste schabte sie dafür soeben den Phosphor von tausend Schachteln Streichhölzern, um die kalte Seppe zu vergiften oder den Dorfpoeten oder den andern zuerst, oder – oder –

Während sie aber also ins Schwanken geriet, wen sie zuerst dazwischennehmen sollte, verschmolzen unversehens alle zu einer einzigen, sonderbaren Zwittergestalt, die munter anfing, gleichsam laufend das Gesicht zu verändern, und in wenigen Minuten hatte die fromme Marei das halbe Dorf vergiftet. Da lag schon der letzte ihrer Feinde, unerkenntlich, starr und bleich, auf der Bahre, der Sargdeckel schwappte jetzt zu, und sie selbst ging im Leichenzuge mit, die Glocken läuteten, die Schulkinder sangen, und ihr selber wurde ganz weh ums Gemüt, so daß sie großherzig anhob, für den toten Feind laut ein Vaterunser zu beten.

Aber bei den ersten Worten erwachte sie aus ihrer verwegenen Träumerei und schielte verwundert auf die kalte Seppe, ein wenig enttäuscht und doch wieder froh, daß es nur ein Traum war, von wegen der Schandarmen.

Ohne seinen merkwürdigen Ursprung zu ahnen, hatte die Seppe in das angefangene Vaterunser eingestimmt; die Orgel war nun aufgezogen, die Walzen drehten sich; laut ihren Rosenkranz betend, schritten sie durch den Sonnenschein, und das Geleier ihrer Stimmen mußte gar wohlgefällig zu Gottes Ohr und dem der heiligen Ottilia hinaufklingen. Besonders schön aber war es, wenn ihnen Leute begegneten; da ließen sie ihre krächzenden Stimmen dreimal so laut und eine Terz höher erschallen und suchten noch 23 einen gewissen innigen Schwung hineinzulegen. Und neben der Zinken-Marei, sie am Rocke haltend, zottelte der kleine Pankraz, festtäglich gewaschen und gestrählt, und knipste vergnügt Brocken für Brocken von einem Butterwecken, den ihm seine Mutter in den Hosensack geschoben, damit er recht brav und ordlig sei, wenn er mit der Gotti wallfahren dürfe.

Es war ungefähr im vierten Ave Maria, als die Zinken-Marei plötzlich innehielt und auflauschte; dann kniete sie auf dem Wegraine nieder, neigte fromm das Haupt und klopfte mit süßem und doch zerknirschtem Gesichte dreimal an die Brust oder eigentlich auf den Magen.

»Nu?« fragte verwundert die kalte Seppe.

Die Marei aber bekreuzigte sich erst andächtig, dann stand sie langsam auf und sagte wie gleichgültig, aber doch mit geheimer Freude, sie hätten in Freiburg auf dem Münster das Zeichen der heiligen Wandlung geläutet.

Die kalte Seppe war empört. Das hätte sie ihr doch auch sagen, oder zum mindesten sie stupfen sollen.

Aber mit sanfter Stimme erinnerte die andere sie daran, daß sie ja auch Ohren habe, und zwar groß genuge!

Lange sann die gekränkte Seppe auf Rache, und wirklich sollte die Siegerin ihren Triumph nicht lange genießen; ja, sie bot selber ihrer Feindin die Waffe zu einem ausgesuchten Stich, indem sie halbwegs Ebnet ihren Tschoben auszog. Die Seppe aber, die bis dahin den ihren offen getragen hatte, knöpfte ihn jetzt zu. Die Marei sah es mit Verwunderung und Argwohn.

Drei Vaterunser lang konnte sie ihre Neugier unterdrücken, dann litt sie es nicht länger; denn ein Weib trägt leichter eine 24 glühende Kohle auf den Lippen als eine Frage. Sie mußte wissen, was für eine Bosheit dahintersteckte.

Warum sie ihren Tschoben nicht ausziehe, sondern zuknöpfe, fragte sie daher.

Sehnsüchtig hatte die kalte Seppe darauf gewartet. Nun, entgegnete sie demütig und spitz zugleich, eine Wallfahrt sei doch kein Spaziergang; der Heiland habe sein Kreuz auch getragen, ohne seinen Tschoben auszuziehen! – ›Gell, Zinke-Marei, des sitzt!‹ dachte sie dazu.

Ja, es saß und fraß sich tief hinein.

Nur um sich einigermaßen zu rechtfertigen, meinte diese dann, ihre bösen Augen wären Kreuz genug.

Aber da kam sie schön an.

Sie solle sich heimgeigen lassen mit ihren Augen! War die Antwort der Seppe; was seien die im Vergleiche zum Kreuz des Herrn und zu ihrem eigenen bösen Bein! Sie liefe ja nicht mit den Augen; also, was sie nur wolle?

Die Zinken-Marei fühlte sich wiederum geschlagen. Ihr neues Ave klang merkwürdig scheu und zittrig. Da schoß ein Blitz durch ihr dünnes Hirn und zündete. »Wart, Seppe, das sollst du mir büßen!« dachte sie und machte listig immer etwas größere und schnellere Schritte, so daß jene allmählich Mühe bekam, ihr nachzukommen. Ihre Seufzer wurden immer häufiger und kläglicher, und schließlich fing sie an zu maunzen, sie käme ja nimmer mit.

Die Marei aber machte taube Ohren und schritt unbekümmert weiter, im stillen an der Freude zehrend, welche ihre gelungene Quälerei ihr bereitete. Aber es war doch dumm von ihr. Denn nachdem sich die Seppe eine Weile abgezappelt hatte, schnappte sie plötzlich ab und setzte sich in Wut und Verzweiflung auf einen Prellstein.

Natürlich konnte nun die Marei nicht gut stehenbleiben, sondern mußte folgerichtig weiterziehn, so ärgerlich es auch war, 25 die Wegkamerädin in einem Augenblick zu verlieren, wo man den süßen Becher der Rache erst halb geleert hat und ein so schönes Restle einfach stehenlassen muß.

Und merkwürdig, wie sie jetzt so allein dahinzog, kam ihr gleich das Wetter und der Weg nochmal so heiß und übelzeitig vor. Auch das Beten wollte so gar nicht mehr vonstatten gehen. Grollend latschte sie dahin. Die Menschen leben halt einem zuleid, wie sie nur können!

Das geschah dicht vor Ebnet.

Das erste, was die kalte Seppe tat, als die Zinken-Marei hinter den ersten Häusern verschwand, war, daß sie ihren Tschoben auszog. Dann nahm sie einige Nußblätter aus dem Bündelchen und verband ihr Bein frisch. Dann erhob sie sich und ging gemächlich weiter, ihren Rosenkranz fortbetend. So kam sie durch Ebnet. Eigentlich hatte sie erwartet, die Marei auf der schattigen Brücke in diesem Dorfe sitzend zu finden, aber das Mensch, das niederträchtige, war schon weiter! Sie ärgerte sich. »Tuet nix, tuet nix! I krieg di scho!« murmelte sie einige Male verheißungsvoll.

Von Ebnet an schlängelt sich ein hübsches Sträßchen hart am Fuße des Berges dahin, zur Linken von der Dreisam, zur Rechten von einem breiten, raschen Mühlbach begleitet, der munter durch das dunkle Gewölbe rauscht, das ein dichtes Erlengebüsch über ihm bildet.

Nach einem Viertelstündchen öffnet sich das anmutige Tal von St. Ottilien. Schon hier führt eine Brücke auf einen Weg hinüber, der durch einen prächtigen Bergwald von Eichen, Edeltannen und Buchen auf den Stationsweg an der westlichen Talwand leitet. – Auf dieser Brücke saß die Zinken-Marei und ließ ihre magern Beine ins Wasser hängen. Der Pankraz ging am Waldrande den Beeren nach.

Sie hatte es nicht länger alleine ausgehalten. Es ist halt doch besser selbander wallfahren. Darum hatte sie beschlossen, den 26 Versöhnlichen zu spielen, und rief der anscheinend tief in ihre Andacht versunkenen Seppe zu, sie soll auch »e bizzele abe sitze.«

Die Seppe aber, obschon sie eine Art Befriedigung verspürt hatte, als sie ihre Herzensfeindin erblickte, senkte doch ihren Kopf noch tiefer und schritt laut betend vorüber.

Die Zinken-Marei ärgerte sich über die Maßen über einen solchen Dickkopf, zog so schnell sie konnte ihre Strümpfe über die nassen Beine und schlug eiligst den Waldweg ein, der schattiger und näher ist als die Straße, auf der die Seppe fürbaß zog. Sie kam dadurch auch ziemlich lange vor dieser am ersten Stationshäuschen an. Erhitzt und ermattet setzte sie sich auf die Kniebank des Betstuhls, um ein wenig zu verschnaufen. Den Buben aber stellte sie auf den Weg heraus, wo er aufpassen sollte, wann die Seppe käme.

Es war still, sehr still um diese Stunde im Walde. Nur die Mücken summten und die Eidechsen raschelten unter den Hecken, wenn sie nicht träge, wie dort jene große im Grünen, mit braun und gelb verbrämtem und mit glitzernden Körnchen und Flitterchen besätem Gewande, auf den heißen Steinen sich sonnten. Schläfrig, träumerisch flatterten ein paar Trauermäntel durch den warmen Brodem von Dunst und Duft, der in betäubender Kraft über dem Waldboden lag wie ein ausgegossener, süßer Schlaftrunk.

Kein Lüftchen ging, wenn auch da und dort die untern Blätter an den müde herniederhängenden Zweigen zitterten. Das tat die Hitze. Es war schwül, drückend schwül. Noch stand die Sonne 27 blendend am Himmel. Doch da hinten, über dem Kybfelsen, reckte sich eine dunkle, fahl angelaufene Wolkenwand, die sich zusehends höher und höher hob.

Die Zinken-Marei nickte schläfrig, und die Augen fielen ihr zu. Da schrie der Wächter: »Jetzt kummt sie!« Erschreckt fuhr die Schläferin auf. »Dumme Kaib, wa schreisch denn so?« zischelte sie wütend, erhob sich, drehte sich um und kniete nun auf ihrem Sitz; dazu fing sie wieder laut zu beten an.

Schön tönte das leiernde Krächzen der kalten Seppe den Weg herauf, immer näher kam es auf die Kniende zu, bis es dicht hinter ihrem Rücken mit einem kräftigen »Absterbens Amen« abbrach. Die Marei sah sich nicht um; ein unheimlich' Gefühl überlief sie, ihre Freundin im Rücken zu wissen, und es erleichterte sie ordentlich, als diese neben ihr Platz nahm und ihre Andacht begann.

Als nun die Marei mit der ihren zu Ende war, blieb sie noch eine Weile knien, um der Seppe Zeit zu lassen. Da diese aber absichtlich lange machte, und sie doch nicht so auffällig warten wollte, erhob sie sich schließlich und wallte nach einem letzten, andächtigen Blicke auf das Stationsbild, das Christus am Ölberg darstellt, den Weg weiter, der im Schatten alter Eichen hinanführt, bis er in den herrlichen Tannwald taucht.

Während sie aber so hinzog, erlitt sie eine schwere innere Anfechtung. Sie konnte den schönen Engel hinter dem Gitter nicht mehr aus dem Kopfe bringen oder vielmehr den Kelch, den derselbe in der Hand hat. Dieser Kelch mahnte sie bitter an ihren Durst, und die Mühe, ihn aus dem Sinne zu schlagen, machte sie 28 ganz matt. Unwillkürlich spürte sie auf einmal an ihrem rechten Schenkel den leisen Druck irgendeines festen Gegenstandes, und ihre Hand senkte sich, von einer unwiderstehlichen, magnetischen Kraft gezogen, nach ihrem Rocksacke, in dem ein kleines, beiderseits abgeplattetes Fläschchen stak, das sie dem eigentlichen Vorratsbündel nicht anvertraut hatte. Sie verlechzte jetzt fast nach einer Stärkung und erlag schließlich dem Versucher. Die heilige Sant' Ottilia ist gewiß keine so, die ihr ein Schlückli übelnehmen würde, nein, die ist keine so!

Sie sah bei diesem Gedanken zum Himmel auf, und da in dem Augenblick niemand da oben widersprach, dachte sie ›keine Antwort ist auch eine‹ und holte das Gütterli herauf. Es war ganz warm. Zärtlich sah sie darauf nieder, zog das Pfröpferchen und setzte das Fläschchen an die Lippen. Gluckgluckgluck!

Aber nur recht vorsichtig; denn erstens durfte doch das Mensch dahinten nichts davon merken – ›die vergunnt ei'm ja doch alles!‹ – zweitens aber, und aus diesem Grunde umschloß sie pfiffig das Gütterli mit der ganzen Hand, brauchte die heilige Ottilia nicht zu wissen, wie groß das Schlückli war.

Als sie nun den Seelentröster glücklich wieder versteckelt hatte, sandte sie schmatzend einen dankbaren, fast verklärten Blick zum Himmel und setzte rüstig ihren Weg fort. Ja, ja, so ein Schlückli zur rechten Zeit, das macht halt busper.

Dagegen sah es im Herzen der kalten Seppe zur selben Stunde nicht sehr tröstlich aus. Denn da brodelte ein Gifthäfelchen und entwickelte solche Dämpfe, daß eine Explosion unvermeidlich schien, wenn es nicht gelang, ein rettendes Ventil zu öffnen. Aber wo?

Da – halt, Seppe, was war das?

Sie blieb plötzlich stehen und schnüffelte erregt und gierig. Was säuselte da so lieblich um ihre Nase? Das ist ja –

Sie tat fast einen Hopser. Ein Strahl mächtiger Freude schnellte ihr vom Herzen zum Hirn und rieselte von da mit 29 melodischem Geplätscher über den Nacken durch den Körper, und wollüstig prickelten sie die letzten Tropfen in den Zehenspitzen. Sie hatte sich nicht getäuscht. Wenn auch unsichtbar, so doch deutlich zu riechen, ja zu fühlen, schwamm in dem heißen Strome, der über dem Wege wallte, ein kleines Wölkchen, und das Wölkchen duftete nach Kirschwasser.

Rachsüchtig zog die gelbe, spitzige Nase der kalten Seppe den zarten, würzigen Dunst auf und ruhte nicht, bis sie sozusagen auch das letzte, verlorenste Nebelflöckchen des kostbaren Geistes aufgetunkt hatte. Dabei funkelten ihre Augen, die Nase zitterte und erstrahlte in einem rosigen Schimmer, und es wurde ihr so selig und duselig ums Gemüt, als ob der Genuß des köstlichen Fundes sie in heitern Rausch versenkte.

›Wart, Marei, jetzt bin ich wieder oben! Wart, Marei, ich tränk dir's ein!‹

Leichtfüßig wie ein junges Mädchen schritt nun die alte Daudel dahin, und zärtlich, wie die Katze eine Maus, streichelte ihr Auge den Rücken der Zinken-Marei, die sie am zweiten Stationshäuschen einholte.

Ihre Knie zitterten, als sie sich neben dieser niederließ, und ihre Stimme bebte vor ungeduldiger Erwartung.

Fast zur gleichen Zeit sagten sie diesmal Amen und gingen nun wieder nebeneinander her, im gleichen Takte betend. Die kalte Seppe aber war wie im Fieber. Wie sollte sie nur ihren Fund am verletzendsten anbringen?

Aber war es der gütige Himmel oder die freundwillige Hölle, wer in diesem Augenblicke den Pankraz herbeispringen und ihnen eine Hand voll Brombeeren entgegenstrecken ließ, mit dem jubelnden Rufe: »Lueg, Gotti, die 30 Hampfle voll!« worauf er sie übermütig in den Mund stopfte, daß ihm der purpurne Saft durch die Finger und übers Kinn lief! Es mußte wohl die Hölle gewesen sein; denn ein Teufelchen, das grinsend auf einem Lindenaste gesessen hatte, sprang herab und küßte den Bengel vor Wohlgefallen auf seine Rotznase.

Im selben Augenblicke sagte nämlich heimtückisch die kalte Seppe: »Jo, Büeble, sell isch guet für den Durscht!« und ein Schlänglein, ein schillerndes, züngelndes Schlänglein huschte von ihrem Munde längs der Nase hinauf und schlüpfte in ihr linkes Auge, aus dessen innerem Winkel es dann hervorlauerte.

Die Zinken-Marei wollte eigentlich schon gutmütig sagen: »Jo, sell isch wohr!«

Aber jenes Teufelchen stupfte sie. Sie besann sich, betete erst das Ave zu Ende und sagte dann mit Salbung, Beten sei noch viel besser.

Das Schlänglein schoß aus seinem Winkel, züngelte heftig, reckte sich schnell in einer Sekunde zur Riesenschlange und legte sich um ihr ahnungsloses Opfer.

»E Kriesewässerli isch aber au nit schlecht, gell, Marei?« sagte die Seppe mit einem ganz eigenen Ausdruck, der jedes Mißverständnis unmöglich machte.

Ein kaltes Etwas ringelte sich von den Beinen aufwärts um den Leib der Zinken-Marei.

Einen Augenblick war sie wie erstarrt.

Dann hatte sie den Drang, sich herauszulügen, aber die Worte versagten ihr.

Schließlich kam eine tiefe Wehmut über sie, welche ihr die Starre löste.

Es sei ja nur ein ganz kleines Schlückli gewesen, sagte sie mit weinerlicher Stimme, und zudem habe sie vorher die heilige Sant Ottilia gefragt, und die sei keine so, wie die Seppe meine!

»So?« fragte diese giftig, woher sie es wisse. Ob sie es erlaubt habe.

31 Sie glaube es, wollte die Marei sagen; aber kaum, daß sie es heraus hatte, grollte ein schwerer Donner dumpf vom Kybfelsen herüber.

Die Zinken-Marei erbleichte, und selbst die Seppe schrak zusammen. »Aha, do hört mer's, do hört mer's ja!« pfauchte sie giftig.

Aber es sei für gewiß wahr, auf Ehr und Seligkeit, stammelte die Marei. Ein neuer Donner, etwas stärker und näher, gab die erboste Antwort des Himmels.

»He jo, he jo! Do hört mer's jo!« sagte nochmals die kalte Seppe und fing an zu schluchzen. »Jetzt kummt d'Strof hinterno, un i mueß jetzt unschuldig mitlide!«

Ja, es war sicher ein bitter Unrecht vom Himmel, der armen Seppe so ihre Freude zu vergällen. Aber du lieber Gott, es ist mal so: Sonnenschein wie Gewittersturm gehen nieder auf Gerechte und Ungerechte.

Die Spannung der Luft war jetzt unerträglich. Die Vögel im Walde waren unruhig geworden und schossen schreiend hin und her. Große nackte Schnecken, schwarze und rote, kamen an den Wegrändern hervorgekrochen und stocherten begierig mit den Augen hin und her. Eine dumpfe Angst lastete über der Erde.

Über dem Kybfelsen drüben war das Wetter schon losgebrochen; der steil geschwungene Gipfel stak in der entfesselten Wetterwolke. Näher und näher kam es. Ein hohles Brausen ging vor ihm her, und bald warfen einige Windstöße den Staub des Weges wirbelnd in die Höhe. Unaufhaltsam rollte dahinter der Donner einher.

Die Zinken-Marei aber und die kalte Seppe hatten die Oberröcke über den Kopf gezogen und stapften in den dicken, roten Flanellunterröcken, aus denen ihre magern, krummen Waden recht kümmerlich hervorstachen, ängstlich vornüber gebeugt, dem nächsten Kapellchen zu, schleppfüßigen Kühen vergleichbar.

32 Kaum hatten sie das schützende Dach erreicht, da fegte schon der heulende Gewittersturm das Tal hinauf; die ersten Tropfen fielen, und jetzt ging das Wetter los und goß sein Feuer, seine Donner und seine Wassermassen in das enge Tal, daß seine gepeitschten Wände zu bersten drohten.

In Todesängsten hockten, eng zusammengekauert, die beiden Weiber, das zitternde Bürschlein in ihrer Mitte, und vergruben 33 ihre Köpfe in den Röcken und beteten, was sie herunterbeten konnten, die eine winselnd, die andere zeternd; bei jedem Blitze bekreuzigten sie sich und harrten dann in namenloser Angst auf den darauf folgenden Donner, unter dem sie fast vergingen. Besonders die Marei, die Anstifterin des Gewitters, war halbtot vor Angst; sie glaubte bei jedem Blitz, ihr letztes Stündlein sei gekommen, und kroch halb unter die Bank, weil der nächste Donner sie treffen mußte.

Allein die Inbrunst, mit der sie betete, mußte gewirkt haben, denn nicht nur, daß sie nach jedem Donner sich noch ›lebig‹ fühlte, es schien sogar nach einer Viertelstunde, die aber eine Ewigkeit lang war, als ob das Wetter sich verziehen wollte. Und es schien nicht nur, sondern es war in der Tat so.

Die beiden Beterinnen atmeten wieder auf. Gott war also noch einmal gnädig gewesen, und die heilige Sant' Ottilia ist vielleicht doch keine so!

Um sie aber noch mehr zu versöhnen, ja das Schlückli, das sie so übelgenommen hatte, unter Umständen ganz vergessen zu machen, gelobte die reuige Sünderin, noch einen ganzen Rosenkranz ihr zu Ehren zu beten; dadurch hoffte sie, mit um so mehr Aussicht auf Erhörung an Ort und Stelle vor sie treten zu können.

34 Sie fing sogleich an damit, im schnellsten Zeitmaß, um die ungeheure Aufgabe, die sie auf sich geladen, besser zu bewältigen. Zu diesem Behufe begann sie aber auch einen kleinen heimlichen Kniff im großen zu üben.

Schon auf dem Wege hatte sie manchmal ein Kügelchen ihres Rosenkranzes überhupft, aber nur bei besonders schicklichen Gelegenheiten, zum Beispiel, wenn sie sich vor einem Kruzifix bekreuzigte, weil sie schlau mutmaßte, der liebe Gott passe da auf das andere auf.

Während sie nun so zusammen warteten, bis das Gewitter sich vollends verzogen hätte – es rauschte auch noch ordentlich herab, – fand die Zinken-Marei die beste Gelegenheit, die Aufmerksamkeit Gottes und der heiligen Sant' Ottilia zu täuschen, indem sie trotz ihrer Himmelangst bei jedem Blitze ein Kügelchen fallen ließ, während sie ein Kreuz schlug. Einmal sogar – sie schloß eben ein Ave, bei dem sie sowieso ein Kügelchen durch die Finger gleiten ließ – da faßte sie ein Herz und ließ gleich zwei fallen. Im gleichen Augenblick aber blitzte es noch einmal kräftig auf, so daß ein jäher Schreck über sie kam, man könne es da oben gemerkt haben. Da aber gleichwohl der Himmel sich wieder aufklärte, so durfte sie die süße Gewißheit daraus schöpfen, daß sie sich umsonst darüber Sorgen gemacht habe.

Aber jemand hatte es doch bemerkt.

Das war die kalte Seppe, an deren grünen, scharfen Katzenaugen selbst diejenigen Gottes zuschanden wurden.

Bei jenem Blitze ruhten ihre Blicke zufällig auf den braunen Fingern der Freundin. Im Beten war es ihr durch den Kopf gegangen, daß dieselbe heute ihren neuen Rosenkranz trug, den sie erst am letzten Peterstag vom Kirchenfestmarkt zu St. Peter droben mitgebracht hatte. Der Paramentenkrämer, ein helläugiger, schlitzöhriger Italiener, hatte bei den elftausend heiligen Jungfrauen geschworen, daß er vom Heiligen Vater in Rom höchst 35 eigenhändig geweiht worden sei.

Eben kroch ihr neidisches Auge von der versilberten Schaumünze die Perlenschnur hinauf zu den knöchernen, leise zitternden Fingern, da entdeckte sie jenen Vorgang, den sie um so leichter bemerkte und verstand, als auch ihr derlei Pfiffe nicht fremd waren.

Wie fortgeflogen war auf einmal jede Angst, und eine wahnsinnige Freude stieg in ihr auf.

Arme Marei, jetzt bist du ganz verloren!

Immer ferner und ferner verhallte der Donner; die letzten Regenschauer waren verrauscht, und siegreich machte die Sonne sich Bahn durch die auseinanderstiebenden Wolken. Das Tal dampfte. Eine feuchte, würzige Frische, kräftiger Erdgeruch und Pflanzenduft stiegen vom Boden auf, und der Weihrauch der Tannen senkte sich von den nassen Zweigen hernieder. Aus Millionen bunter Demanttropfen blitzte schalkhaft die Lebensfreude der erquickten Natur zur gütigen Allmutter Sonne hinauf. Lachend schüttelten die tausend Vögel des Waldes ihre nassen Schwingen; fröhlich schmetterten ihre hellen Stimmen durcheinander, und wenn sie, sich haschend, durch die Baumkronen schossen, stäubte immer ein feiner, schimmernder Sprühregen nieder.

Die Zinken-Marei und die kalte Seppe von Zarten merkten aber von alledem nichts, als sie endlich weiterzogen.

Die eine mogelte ihren Rosenkranz zusammen, und die andere belauerte sie mit den Augen einer Katze, die vor dem Mausloche sitzt. Jedesmal, wenn die Marei sich dem Ende eines Gebetes näherte, geriet die kalte Seppe in hitziges Fieber. In krampfhafter Spannung schielte sie sich fast die Augen aus dem Kopfe, und unbändig, fast zum Hinausjauchzen war die schadenfrohe Wonne, die über sie kam, so oft sie einen neuen Fall ins schwarze Buch der Marei verzeichnen konnte.

36 Und nun wollte sie sich überlegen, wie sie am verheerendsten dazwischenfahren könnte. Sie wollte sich überlegen, aber sie vermochte es nicht. Ihre Freude war verwirrend, betäubend groß. Ihr Herz pochte, nein, klapperte wütend, ihre Stimme stockte und zitterte, und die Worte ihrer Gebete verwirrten sich und blieben ihr hinten am Gaumen kleben.

Sie fraß sich verliebt, haltlos verliebt in die Sünde der Marei und in diese selbst hinein, so haltlos, daß ihr mit einem Male, ohne daß sie dafür konnte, die denk- und merkwürdigen Worte von den Lippen flossen:

»Paß doch auf, lieber Herrgott! Sieh'sch denn nit, daß die Zinke-Marei dich b'...!«

Wie ein inbrünstig gestammeltes Gebet klang es.

Und sowie es heraus war, fuhr ihr eine wohlige Schwäche in die Knie, und ein süßes Prickeln lief unter ihrem gelben Felle ihr über den Rücken hin, so süß, so unaussprechlich süß, daß sie gar nicht weiter konnte. Sie mußte stehenbleiben, und in wohliger Trägheit es laufen lassen.

Die Zinken-Marei aber war aus ihrer Andacht emporgeschreckt und stand verstummt und erstarrt, wie weiland Frau Lot. Ihre Augen traten aus den Höhlen, und Lippen und Nase färbten sich weiß, mit grünen Flecken. In ihrer Brust aber sträubte sich ein borstiges Ungeheuer empor, dessen Stacheln schmerzhaft nach allen Seiten durch die Rippen drangen. Und das stachelborstige Ungetüm schwoll und schwoll und schwoll, 37 daß die Zinken-Marei wahrscheinlich geplatzt wäre, wenn nicht etwas anderes eingetreten wäre, und etwas ganz einfaches und vernünftiges.

Im kritischen Augenblicke nämlich fiel die Zinken-Marei mit einem heiseren Schrei über die verruchte, fromme, kalte Seppe her, die in ihrer weichen Schwäche nicht einmal einen Versuch der Verteidigung machen konnte.

Nur einen schwachen Seufzer tat sie.

Dafür schrie der über den fürchterlichen Wutausbruch seiner Gotti entsetzte Pankraz grell auf und floh durch das Gestrüpp den Rain hinauf, von wo er hinter einer Tanne hervor mit weit aufgerissenen Augen auf das Trauerspiel herab starrte, wie ein Rekrut von der Galerie herunter auf Wallensteins Tod oder Macbeths Ende.

Und wieder trat ein kritischer Augenblick ein; denn wer weiß, wie lange die Zinken-Marei und die kalte Seppe sich so urwüchsig ausgesprochen hätten, als sie es eben taten!

Aber mitten im besten Handel führte das Verhängnis eine ordnende Hand herbei, die von geeigneter Wuchtigkeit war.

Unter einer Tanne hatte in der Nähe der Waldhüter gestanden und schaute eben durch das blitzende Tal und den dampfenden Wald und freute sich der herrlichen Schöpfung. In vollen Zügen trank er die süße Frische und den labenden Duft, und es wurde ihm recht warm ums Herz.

Aber da weckte ihn ein heiserer Schrei, wie der eines Raubvogels, und das Gezeter eines Kindes. Er spähte nach der Richtung, und sein bärtig Gesicht verzog sich gar sonderbar vor Verblüffung und Behagen, als er den betrüblichen Klex in dem schönen, lebenden Gemälde erblickte, das ihn umgab in heiterer, friedlicher Pracht.

Wenn es aber auch schien, als ob er erst seinen Blick an dem sonderlichen Falle – aus der Ferne nahm es sich wenigstens so aus – weiden wollte, so siegte doch bald seine 38 Sonntagsstimmung, und er schritt rasch und kräftig ein. Mit ein paar Sätzen war er zur Stelle, packte mit festem Griff die über der kalten Seppe kniende und sie mit blindwütigen Schlägen zudeckende Zinken-Marei am Kragen und am Rockzurpf und schleuderte sie in kraftvollem Ruck seitwärts über die Böschung ins Tannengestrüpp. Dann richtete er die halb ohnmächtige, stöhnende Seppe auf; allein fast hätte er sie wieder fallen lassen müssen, denn über dem Raine tauchte das wutverzerrte Angesicht der andern wieder auf, so bedrohlich, daß er die Seppe wieder hinsetzte und zu seinem Hagebüchenen griff, mit der saftigen und deutlichen Erklärung, daß er dem Himmelherrgottsakrament-Ripp den Hirnschädel einschlagen würde, wenn sie sich nicht weidlich davon mache, Gott Strambach!

Nach einigem Schwanken entschied sich langsam die Zinken-Marei für das letztere, und nach einem das Mark erschauern und das Blut gerinnen machenden Scheideblick auf die Seppe und den gottverdammten neuen Feind wandte sie sich und schleppte sich, von Wut und Gram an Leib und Seele gebrochen, talabwärts, an der Wallfahrt völlig verzweifelnd, welche die Niedertracht und Schlechtigkeit der kalten Seppe so schändlich verdorben hatte! Sogar das Bündelchen ließ sie liegen. Der Waldhüter wollte es ihr nachwerfen; da er jedoch eine Flasche 39 darin fühlte, besann er sich eines Bessern oder Schlechtern und ließ es bleiben, und es hat ihm eine Weile hernach nicht übel geschmeckt! Ja, die Marei liebte und wandte viel an einen anständigen Tropfen.

Im Walde oben, wie ein verzagtes Reh, schlich der kleine Pankraz in vorsichtiger Entfernung seiner Gotti nach; in die Nähe traute er sich nicht, nicht um viel, viel Geld, ja nicht einmal um noch einen Butterwecken. Die kalte Seppe aber, als sie soweit ihre Kleider, Gliedmaßen und fünf Sinne wieder beisammen hatte, was eine gute Zeit in Anspruch nahm, setzte triumphierend ihre gottgefällige Pilgerfahrt fort. Denn Gott gefallen mußte sie ja heute wie nie. Sie hatte ja zu seiner Ehre gelitten, sie durfte sich nahezu unter seine Märtyrer rechnen.

Oh, sie hörte schon die goldenen Engelein im Himmel singen und fühlte sich selber Flügel wachsen. Ganz leicht und selig wurde ihr.

40 Und als sie im Kirchlein oben vor dem Hochaltar niederkniete, da verklärte ihr ein leichtes Schmunzeln das Gesicht, und mit freundlich-verschmitztem Augenaufschlag zum Himmel flüsterte sie:

»Gell, du mei liabs, liabs Herrgöttli, mir zwo hebe zemme?« Und in ihrer Verzücktheit war ihr, als ob sie Gott Vater auf dem Throne sitzen sähe und mit gar leutseligem Nicken sagen höre:

»Jo, liabi Seppi, sell weiß i scho lang!« 41

 


 << zurück weiter >>