Emil Gött
Die Wallfahrt
Emil Gött

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Ein Kuckucksruf

Der Frühling war wieder einmal mit alter Zaubermacht ins Land gekommen, löste den Schnee von den Dächern und die Eiszapfen vom Brunnentrog, machte die starre Erdkrume und die Kehlen der Vögel wieder geschmeidig und ließ den Bäumen den Saft und den Menschenkindern in Stadt und Land die Freude in die Kronen steigen.

Da war's an einem Sonntagvormittag, die Sonne schien so warm und ließ die grauen Weidenkätzchen und braunen Baumknospen erschimmern. Die Veilchen dufteten durch die warme Luft und das ganze Gehölz war erfüllt von den hellen und tiefen Tönen, in denen Vögel und Menschen, Frösche und Kinder ihrer überquellenden Frühlingsfreude Luft machten.

Am meisten Lärm machten natürlich die Buben, und besonders die tiefen Töne stammten von uns – abgesehen von einigen 108 Baßstimmen, die da und dort in der Ferne die alte, sonderbare Frage stellten, »wer den schönen Wald so hoch da droben erbaut« habe, während wir am Waldrande saßen, wo der Bach vorbeirauscht, und mit Pfeifen, Päpen und abenteuerlichem Tuten ein anmutiges Konzert verübten.

O selige Zeit, als der falscheste Ton, die herbste Dissonanz und der schrillste Pfiff unser Ohr noch nicht verletzte, sondern ihm ein Mordsvergnügen machte! Als die Welt wirklich noch ein Garten war, dessen Freuden erst die Schule und der Feldhüter vergällten! Ach Gott, »wie viele Gärten versinken doch uns armen Menschen in der Welt, und wer hebt uns die versunkenen wieder herauf aus der Tiefe?« sagte Meister Raabe. Manchmal gab es auch Pausen im Konzerte, wenn nämlich einer plötzlich seine Tute hinwarf und aufsprang:

»Da – ein Trauermantel!«

»Wo – wo?«

»Dort!«

Und fort stürmte die ganze Bande mit schwingendem Hut oder Rock, um nach einer Weile mit oder ohne das edle Wild, aber immer mit taunassen Strümpfen und Grasflecken in den Sommerhosen zurückzukehren. Arme Mutter! Wie sauber hast du sie gewaschen und wie schön gebügelt und mit wie vielen Ermahnungen dem Robert aufs Bett gelegt, »ja recht Acht darauf zu geben, weil wir heut Mittag aufs Jägerhäusle gehen wollen«.

Und wieder einmal rief einer:

»Da – eine Eidechse!«

Und wieder die ganze Schar der jungen Naturforscher hinter dem flinken Tiere drein, das aber in einem Erdloch verschwindet. Nun wird ihm mit Stöcken nachgestupft und mit den Fingern nachgegraben. Arme, fleißige, geduldige Mutter, wie sieht dem Adolf sein weißes »Hemdpreißle« aus!

Und jetzt rief einer:

»Horch, ein Kuckuck!«

109 »Abbah!«

»Doch! Wart nur, er wird gleich wieder rufen!«

»Dann muß jeder zählen, wieviel mal er schreit!«

»Warum?«

»Nachher hat man's ganze Jahr grad soviel Geld im Sack!«

»Nein«, stritt ein anderer, »sondern wenn einer ein Mädle ist, so bleibt er noch so viele Jahre ledig! Am letzten Sonntag, wo wir an den Waldsee sind, hat's unsre Luise zu's Verwalters Emilie gesagt!«

»Das ist auch nicht wahr!« sagte da des Apothekers Mäxle, »sondern soviel mal der Kuckuck ruft, soviel Jahr lebt man noch; ich hab's gelesen!«

»Wartet!« schrie einer, »Wir wollen's probieren! Mein Großvater hat mir einen Sechser geschenkt!« und übermütig schwenkte er sein Sacktuch, in dessen einen Zipfel der Schatz geknüpft war.

»Ja, wir wollen's probieren«, meinte das Mäxle gedankenvoll. Er war ein zierlicher, aufgeweckter Knabe, still für sich und doch wieder lebhaft im Spiele mit anderen, seelengut und doch reizbar, Stubenhocker, achtjähriger Bücherwurm, und doch wieder Herumtreiber und Waldläufer, kurz, eine anscheinend widerspruchsvolle, eigene Natur. Unter der hohen, weißen, von schwarzen Locken überkrausten Stirn schauten mit eigenartigem, wohl krankhaften Glanze ein Paar großer, schwarzer Augen aufmerksam und sinnend in die Welt, sie gewissermaßen neu entdeckend, indessen wir anderen sie eben nahmen, wie wir einmal hineingesetzt waren, nämlich als selbstverständlich. Gewiß wäre etwas recht Bedeutendes aus ihm geworden, wenn er nur die Zeit dazu gehabt hätte. Aber wie es so oft im unerbittlichen Leben zu gehen pflegt, so geschah es auch hier:

Das Edelgewächs sank dahin, und das Unkraut gedieh lustig weiter. Das Mäxle ist gestorben, das Fritzle ist am Leben geblieben, um ein halbes Jahrhundert später seine Geschichte zu erzählen. –

110 Wir hatten eine Weile in den Wald gelauscht, da ...

»Eins!« zählten sieben frische Stimmen und sieben Daumen hoben sich; nur das Mäxle zählte still mit.

Aber der Kuckuck ließ es genug sein mit dem einen Ruf.

Wir sahen uns an und wiederholten »Einmal!«, das Ergebnis damit festsetzend.

»Der Kuckuck hat recht!« schrie der mit dem Sechser.

»Nein, er hat nicht recht!« stritt das Fritzle dawider. »Denn ich hab zwei und einen halben Kreuzer, und du wirst deinen Sechser auch kein ganzes Leben behalten!«

»Doch! Ich leg ihn in die Sparkass!«

»Dann ist's keine Kunst!« sagte das Fritzle voll tiefer Verachtung. »Ich kauf mir Zigaretten! Bei's Klingeles kriegt man zwei für einen Kreuzer!«

Während wir aber so einfältig renommierten, sahen wir nicht, wie das Mäxle leichenblaß, mit starrem Auge und krampfhaft geschlossenen Händen dastand. Wir sahen es erst, als der Knabe an dem zunächst Stehenden zu Boden sank, wie von Schwindel und Schwäche hinabgezogen, und die Augen schloß.

Wir erschraken so, daß der größere Teil die Flucht ergriff. Wir Zurückbleibenden holten ihn zu dritt in die Höhe. Schlaff hing er in unseren Armen; seine Füße trugen ihn nicht. Ratlos standen wir mit ihm da, dem Weinen nahe, wie es Hilflosen geht.

»Was hast' denn, Mäxle? So red doch!« sagte ein übers andere Mal das Fritzle, der zukünftige Doktor.

Das Mäxle konnte aber nur die Augen bewegen, und es ließ seine seltsam flimmernden Sterne kreisen, wie man es nur bei zu Tod getroffenen Menschen oder Tieren sehen kann. Nach einer Weile schloß er die Augen wieder, sein Gesicht verzerrte sich von schwerer Übelkeit und Schweißtropfen perlten auf der kalkweißen Stirn; feucht fühlten sich seine Haare an; und dann konnte er sich erbrechen; und dann noch einmal, und ein drittes Mal. Das machte ihm leichter; etwas Farbe kehrte zurück und langsam auch die Kräfte.

111 »Heim – heim!« murmelte es angstverstört.

»Sag nur, was hast' denn?« fragte das Fritzle wieder.

Das Mäxle fuhr mit der Hand nach der Herzgrube.

»Weh – arg weh!« stammelte es. »Nur heim!«

Und wir führten den Knaben heim, langsam, oft rastend, und die Vögel sangen so lustig um uns weiter, und die lebenspendende Sonne schien uns so warm und golden auf den Weg, auf dem – wir wußten es freilich nicht – wir einen Todgeweihten führten. Vielleicht, daß wir es ahnten, denn es war uns sterbensbang zumute.

Daheim übergaben wir den von Neuem Ohnmächtigen den erschrockenen Eltern, denen wir nicht einmal sagen konnten, was geschehen war.

»Wir sind halt ins Wäldele gegangen und haben Pfeifen gemacht, und da ist es auf einmal dem Mäxle schlecht geworden!«

»Ja, und sonst nichts?«

»Nein, sonst nichts!«

»Sagt's doch! Es soll euch ja nichts geschehene, nur sagt's!«

»Aber für gewiß nicht – wir haben nichts gemacht!« versicherten wir immer wieder und schließlich unter Tränen.

Auf einmal aber schlug das Mäxle seine großen Augen auf, sah seine Mutter, die er zärtlich lieb hatte – und wer hatte sie nicht lieb, die schöne, blasse, gute Frau? – sah sie durchdringend an und sagte:

»Mutter, im nächsten Jahr muß ich sterben!«

»Kind, mein Kind, was sagst du da!« rief sie und schloß ihren Sohn in die Arme.

»Doch, Mutter! Der Kuckuck hat's gesagt, und der weiß es!« murmelte der Knabe, und sein Blick verlor sich irr in der Ferne. Die Eltern sahen ihn, sich selbst und uns an und begriffen nichts. Da sagte das Fritzle:

»Jetzt weiß ich was, Herr Thurner! Wir haben heut den Kuckuck gehört, und der Ludwig hat gesagt, es bedeutet Geld 112 im Sack, und ich hab gesagt, weil's unsre Luise gesagt hat, es bedeutet, wie lang ein Mädle ledig bleibt, und da hat das Mäxle gesagt, nein, es bedeutet, wie lang einer lebt. Und da hat der Kuckuck einmal gerufen, und wie wir hingesehen haben, ist das Mäxle umgefallen!«

»Kinder, Kinder, was tut ihr!« rief die Mutter jammernd und zog das Mäxle wieder an ihr Herz.

Sie war ja die Mutter, und die Saite, die in ihres Kindes Brust gesprungen war, mußte auch in ihrer schmerzhaft erklungen sein.

Das war der Sonntagmorgen in einem der schönsten Frühlinge, die je unsere arme Erde reich gemacht haben.

Am Samstag darauf, gegen Abend, kam das Fritzle mit seiner Mutter wieder zu Apothekers, das kranke Mäxle zu besuchen, oder vielmehr, um von seinem Gespielen Abschied zu nehmen, Abschied für immer.

Da lag es abgezehrt, blaß und doch glühend in den weißen Linnen und ließ die dunklen Augen rollen, die heute unheimlich groß waren.

Unruhig warf es sich hin und her; dann lag es wieder für eine Weile ganz stille und rief mit wohl lautender Stimme, täuschend ähnlich, wie es draußen im Wald klingt:

»Kuckuck!«

Und dann lag es starr und lauschte mit Ohr und Aug', als ob es auf mehr warte.

Es war ein herzbrechender Anblick.

Von dem Stuhl neben dem Bette erhob sich eine abgehärmte, verstörte Frauengestalt und warf sich laut weinend an die Brust der Freundin.

»Das geht so den ganzen Tag und die ganze Nacht – oh, stürbe ich doch auch daran!«

»Kuckuck!« klang es wieder vom Bette her, in einem Tone, daß die Frauen zusammenschauerten.

113 »Sei stark, sei stark, Klara!«

»O mein Gott, o mein Gott, warum mir das! Warum nimmst du mir mein Kind!«

»Sei stark! Vielleicht, weil er ihn lieb hat!«

»Kuckuck!«

»O mein Gott, es ist ja mein Kind!«

»Sei stark!«

Es war herzbrechend.

O Sonntagmorgen! – O Frühling! – O Sonne! – O Blumen! O Vogelgezwitscher und Menschenjubel! – O Leben! Was bist du?

Was bist du, Mensch?

Ein Ton! – Ein Hauch!

Er verhallt – er verweht!

»Kuckuck!« klang's vom Bette her, lieblich, schwach und leise.

Am Dienstag haben wir dann das Mäxle begraben!

 

Der Doktor schwieg und sah sinnend unter sich.

Auch sonst war es still, so daß man die Atemzüge der einzelnen hörte und das leise Rauschen des Windes in den Buchenkronen.

Nach einer Weile, als niemand etwas sagen wollte, weil alle dasselbe dachten, nahm der Erzähler das Wort wieder auf, vielleicht um das bange Schweigen der Gesellschaft zu brechen.

»Wie einem doch so etwas manchmal vor die inneren Augen treten kann, als ob es erst gestern geschehen sei! Und doch liegen fünfzig Jahre dazwischen!« sagte er.

»Nun, ich wüßte auch nicht, wie man so etwas jemals vergessen könnte! Das ist ja schrecklich!« entgegnete eine der Frauen.

»Aber lehrreich!« fügte tief aufatmend eine andere hinzu.

»Wieso lehrreich?« fragte schüchtern ein Mädchen.

»Nun, sie mahnt uns, die Kinder sorgfältig vor allem Spukhaften zu behüten ...«

114 »Sehr richtig!« fiel der Doktor lebhaft ein. »Und sie nicht mit aller Gewalt und künstlich das Gruseln zu lehren, wozu man sich leider Gottes so oft und so viel Mühe gibt. Da sind die Ammenmärchen, die Gespenstergeschichten, die Kirchhofsgruseleien, der Bär, der wilde Mann und der Wauwau, das Erschreckenspielen und was sonst die feige Welt sich ersonnen hat, um die Memmenhaftigkeit erblich und ansteckend zu machen ...«

»Uih!« kreischte eine der älteren Damen in diesem Augenblick auf und sprang in die Höhe.

»Was ist – was haben Sie denn!« fragte man, unwillkürlich erschrocken durch die Belegtheit der Gemütsstimmung.

»Eine Spinne!« wimmerte jene, ängstlich die Kleidfalten musternd.

»Was hat Ihnen denn das arme Tierle getan?« fragte der Doktor lauernd.

»Nichts – aber es ist einmal so ein unheimliches Tier!«

»Da sehen Sie, da haben wir gleich so einen Fall!« rief der Doktor jetzt, der offenbar mit dem Wort gerechnet hatte. »Warum ist das nun ein unheimliches Tier? – Worin unterscheidet es sich wesentlich von einem anderen Insekt? – Sagen Sie's doch!«

»Je, nun!« war die zögernde Antwort. »Man sagt ...«

»Ja, ja, man sagt! – Man sagt, man hört und man sagt weiter, und so von Geschlecht zu Geschlecht, ohne Tatsache, ohne Grund – man sagt halt und verdächtigt ein unschuldiges, harmloses und nebenbei interessantes Tier, indem man es mit einem Zauber umgibt, von dem es leider selbst keine Ahnung hat, sonst könnte es einen höllischen Respekt vor sich selber bekommen!«

»Und doch gibt es Geschichten«, versetzte die Getadelte etwas spitz, »schade, daß mir gerade keine einfällt, welche ...«

»So? – Na, zum Glück fällt aber mir eine ein!« unterbrach sie der launige Doktor, »die ich recht gern zum Besten geben möchte, zumal sie etwas lustiger ist und ein gut Teil fauler als der 115 Kuckuckszauber von vorhin ...«

»Erzählen, erzählen!« rief man von allen Seiten.

»Gut!« sagte er, trank seinen Becher kalten Kaffee aus, kratzte sich unter seltsamen Grimassen an vier, fünf Stellen seines blanken Zuckerhutes, wie um den Schnaken, die ihm entschwirren sollten, die Pförtchen zu öffnen, und hub grinsend an:

 


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