Emil Gött
Die Wallfahrt
Emil Gött

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Narrenwitz

Der Mensch will nicht nur leben, sondern auch unterhalten sein. So war es nicht nur von jeher, sondern darin beweist sich auch recht eigentlich die höhere Natur des Menschen gegenüber dem Tiere. Aber recht beschämend ist es für diese sogenannte »höhere« Natur, wenn man die Mittel betrachtet, durch welche sie am besten unterhalten und befriedigt wird. Es zeigt sich nämlich, daß das Böse und Häßliche das Menschentum mehr bewegt, anregt und fesselt als das Gute und Schöne. Ein Stiergefecht, das du gegen zehn Mark Eintritt ansehen kannst, zieht mehr als das schönste Schauspiel, das umsonst geboten wird. Wegen einer Feuersbrunst im Nachbardorfe stehen Tausende morgens um zwei Uhr auf, während die lieblichste Mondscheinlandschaft sie nicht abhält, um Neune ins Bett zu gehen. Und gar eine Hinrichtung! Da laufen sie vier Stunden auf schlechten Wegen und stehen sechse im ärgsten Regen, während der Pfarrer vor leeren Bänken die schönste Predigt darüber hält, wie man sich die ewige Seligkeit des Himmels erwirbt.

Auf einen blühenden Rosenstrauch, ein wunderliebliches Kind, wirft man einen kurzen Blick, wenn man's tut, aber um einen Rauschigen oder einen, der in der fallenden Sucht sich am Boden krümmt, sammelt man sich stundenlang zu hunderten. Ja, man ist in dieser Hinsicht ähnlich wie das Wasser: unbeweglich liegt's unter der lachenden Sonne, aber das Wüste regt und wühlt es von Grund auf. Und trübe wird's dabei. Grausam und mitleidlos macht den Menschen die Neugier. Statt am Unglück bewegt vorbeizugehen, wenn er nicht helfen kann, bleibt er gekitzelt stehen und freut sich, auch wenn's ihn gruselt. Aber weil er den Verachtungsblick des Opfers, das er zum Schauspiel seiner Augenweide macht, nicht sieht, und wenn er ihn sieht, 79 nicht fühlt, so will ich ihm wenigstens die Abfuhr übermitteln, die ihm einmal ein armer Übergeschnappter mit dem letzten Rest seiner Vernunft erteilt hat.

Zu Lauffen am Rhein, einem sonst stillen Städtchen, herrschte große Aufregung. Überall standen eifrig redende Gruppen von Männern, Weibern und Mägden. Der Stadtschreiber Donner, früher ein munterer, aber etwas heftiger Mann, war nach mancherlei Anzeichen, die erst jetzt nachträglich verstanden wurden, plötzlich irrsinnig geworden. Vorgestern Mittag hatte er auf einmal angefangen, alle Ratsbücher und was in der Stube nicht niet- und nagelfest war, auf den Hof nach einem eingebildeten großen Hunde zu werfen, der ihn beißen wolle; hatte dann den dazukommenden Bürgermeister halb erdrosselt, der sich in jenen Hund verwandelt hatte; dann war er anscheinend ruhig durchs Peterstor hinausgegangen, auf der Rheinbrücke aber aus Furcht vor dem wieder hinter ihm auftauchenden Hunde, nachdem er ihn erst mit seinen Stiefeln, dann mit Rock und Hosen beworfen, im Hemd in den Strom gesprungen, in dem er nun bellend hinuntertrieb, bis er, erschöpft und halb ertrunken, von Fischern herausgezogen und gefesselt heimgebracht wurde. Gestern waren nun die Kreisärzte und Professoren von Freiburg dagewesen und jetzt sollte er nach Illenau gebracht werden. Das war ein Fressen für den Pöbel. Schon eine Stunde vor Abgang des Zuges erdrückten sie sich fast auf dem Bahnhof. Alle Arbeiten, sogar das so wichtige Essen und das noch wichtigere Trinken waren vergessen vor dem armen kranken Menschen, der nach Illenau kam. Nach Illenau, huh! Das war noch interessanter als ins Zuchthaus, fast so grausig wie zum Schafott. »Da! Eine Bewegung – er kommt!« hieß es, und ein wollüstiges Gruseln lief prickelnd durch den Körper des Volks, während es auseinanderwogend Gasse macht, um den Wagen – es war der Omnibus des »Goldnen Leuen« – auf den Bahnsteig zu lassen.

Die Türe öffnete sich, ein Anstaltsarzt stieg erst heraus, dann 80 ein Wärter, dann die leise weinende Frau, dann der Irre selbst, den man zur Vorsicht in eine Zwangsjacke gesteckt hatte, obwohl er sich ruhig verhielt; den Beschluß macht ein zweiter Wärter. Als aber der Kranke den Fuß auf das Trittbrett setzte, stutzte er und ließ erst die unruhigen Augen verwundert über die sich drängende Menge gleiten.

»Was ist denn das – was wollen denn die Leut?« fragte er seine Frau.

Die griff nach seiner Hand, um ihn zum Herabsteigen zu veranlassen, und sagte schluchzend und bitter: »Ach, Josef, du kennst sie ja! Die sind wegen dir gekommen, weil du fort mußt! Komm, und laß sie!«

Der Irre schaute aber von seinem höheren Standpunkte noch ein paarmal musternd über die Köpfe hin und her. Dann lächelte er seiner Frau zu und rief: »Jetzt weiß ich doch, warum man immer hört: ›Ein Narr macht hundert!‹«

Er hat das böse Ding von einer guten Seite genommen, der arme Kerl! 81

 


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