Emil Gött
Die Wallfahrt
Emil Gött

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Mariä Lichtmeß

Tief schläft etwas im geheimen Innern des Menschen. Nur manchmal regt es sich im Schlummer und murmelt im Traume. Das Ohr behält es nicht, der Verstand begreift es nicht, und doch hast du's vernommen, und rätselhaft wartet es, dein Leben zu lenken, über deinem Wachen.

Was es ist? – Ich weiß es nicht. Wer es weiß? – Kein Sterblicher wird es je ergründen. Also bleib auch du nicht stehen, vorwitzig daran herumzubohren; laß es schlafen und gehe ruhig den Weg deiner Lebenspflicht weiter. Die Gewißheit, die am Ende dich erwartet, bleibt nicht aus und läßt kein Ausweichen zu, ob du sie kennst oder nicht kennst.

Und kein Segen ruht auf dem Wissen von Verborgenem, und nur erschrockenen Auges vermagst du der dunklen Zukunft unter den Schleier zu sehen.

Eine kleine Geschichte, die am Rande jener Tiefe wuchs, hab ich hier für euch gepflückt.

 

Sie liebten sich um so zärtlicher, die beiden Kinder, als sie nicht wußten, warum sie es taten. Denn wie auf 127 unerschütterlichen Grundsäulen steht alles, was grundlos scheint und doch feststeht; Gründe und Absichten sind kurzatmiger menschlicher Natur und Irrungen und Enttäuschungen unterworfen, das Grund- und Absichtslose aber trägt das Gepräge des Göttlichen.

Sie liebten sich, weil sie sich lieben mußten, vom ersten Augenblick an, ohne es selbst zu wissen; lange bevor sie erkannt hatten, was Liebe ist.

Und doch waren sie denkbar verschieden, dem ersten Blick und äußeren Anschein nach.

Er, des Lochmüllers Franzel, der derbste, wildeste, gewalttätigste Dorfbube, gegen den kein anderer zu mucken wagte, groß und stark, flink und heftig nach außen und innen, schwarz von Augen und Kraushaar und – sonderbar für sein Alter – mit dem Anflug einer senkrechten Stirnfalte über der Nasenwurzel; und sein Kamarädle, des Lehrers Sophie, ein zärtliches, fast schwächliches Kind, still bis zur Schüchternheit und sanft bis zur Schwäche, blond von Haar und hell von Gesicht, aber dunkeläugig. Und auch sonst noch waren sie sich Gegenspiel: Der Franz war der erste auf dem Tummelplatz und der letzte, oder fast der letzte, auf der Schulbank, und umgekehrt die Sophie. Sie las flüssig, schrieb wie gestochen, rechnete flink und gab die klügsten Antworten, während der Franz alles, auch das Einfachste, schwerfällig hervorholte und herumwälzte, als ob es störrisches Floßholz wäre, wie man's drunten in der väterlichen Sägemühle schnitt.

Und doch mußte etwas Verwandtes in beiden liegen, was sie gegenseitig angezogen hatte; unausgesprochen und unerkannt, aber im Innersten gefühlt, mußte das Bewußtsein der Gleichartigkeit und Zusammengehörigkeit in beiden aufgetaucht sein, und war es keine körperliche, so doch eine geistige; Geist mußte Geist gewittert haben. Aber weil der Geist auch dem Körperlichen sich aufprägt, so konnte der schärfere Beobachter auch äußerlich eine Verwandtschaft entdecken, und sie lag im 128 Ausdruck der Augen, in der Art des Schauens, die bei beiden den Stempel der Empfänglichkeit trug, des Sinnenden und Erwartenden, namentlich im Zustand der Ruhe, im Gegensatz zu der dumpfen Verschlossenheit und lauernden Beweglichkeit des anderen.

Im Blick des Menschen aber liegt etwas Untrügliches, denn sein Auge kann wohl niemand verstellen. Der Mund des Heuchlers mag noch so süß lächeln und sein Gesicht zu erstrahlen scheinen – sieh näher zu und du wirst sein Auge kalt und böse finden.

Und so hatten sich auch die beiden Kinder an den Augen erkannt, sich eins im anderen wiedergefunden und eng aneinander geschlossen.

Durch die blanke Scheibe fällt aber helles Licht ins Zimmer und ungetrübt schaut umgekehrt der Blick von innen hinaus ins Freie. Auch sagt man nicht mit Unrecht: Krauses Haar zeigt krausen Sinn, und ebenso gut könnte man sagen: Gefaltete Stirn – gefaltelt Hirn. Darum mußte wohl hinter dem eckigen Schädel Franzels etwas mehr stecken, als die alten, braven, verzweifelten Augen des Lehrers Langfelder zu entdecken vermochten. Sein Vater mochte mehr davon wissen; denn sonderbarerweise verzog der immer sein breites Gesicht zu einem gutmütigen, fast spöttischen Lächeln, wenn der Herr Lehrer bei einem Zusammentreffen im Dorfe oder bei einer Einkehr auf der Lochmühle drunten sein altes Klagelied über den Franzel und seinen harten Schädel anstimmte.

»Hat nichts zu sagen, Langfelder«, meinte er dann, die stämmigen Beine noch weiter spreizend, »langsam und gut ist auch eine Art! Geschwinder stiebt die Spreu aus der Windmaschine, als das Mehl vom Stein in den Kasten rieselt. Wenn er nur ein tüchtiger Müller wird, und er wird's – vielleicht auch noch mehr. Kommt doch mal am Sonntag herunter und schaut den Sensendengler an, den er in der letzten Zeit zum Spiel gebaut 129 hat! Ich sag euch, im Franzel steckt was, das laß ich mir nicht nehmen. Nur wissen möcht ich, von wem er's eigentlich hat!«

Und dasselbe sagten die leuchtenden Augen der Sophie, wenn sie bei ihrem Gespielen an dessen Wasserkünsten saß, die von einem selbst gebauten kleinen Kanal getrieben wurden, den er vom Mühlbache abgezweigt hatte. Da drehten sich hintereinander eine ganze Anzahl kleiner Triebwerke, Mühlen, Sägemühlen, Pochmühlen, Schlagwerke von alten Kuhschellen oder Sensen, Pumpwerke und Springbrunnen, alles sinnreich von der Hand des Knaben geschnitzt und zusammengefügt, wie von einem geborenen Maschinenbauer und Erfinder. Unermüdlich modelte er daran herum, und wochenlang konnte er brüten und grübeln, wie die oder jene Hebel und Kurbelübertragung zu bewerkstelligen sei, damit diese Pumpe oder jenes Pochwerk kräftiger arbeite.

O köstliche Stunden, so an einem warmen Sommertag droben im engen, lauschigen Tobel am rieselnden Wasser zu sitzen, über sich den blauen Himmel, aber nur sichtbar durch das goldig schimmernde grüne Filigran des Laubwerks und der Tannenäste, links und rechts die moosigen, geborstenen Felswände mit Laub- und Nadelholz in lieblichster Mischung bestanden; und unter sich nichts sichtbar von der anderen Welt als ein Stück des Schindeldaches der väterlichen Säge, deren helles Schnurren nur gedämpft herauf drang in die Waldesstille und Einsamkeit.

Und nun da beisammen zu kauern, in der eigenen Welt, im eigenen Wirken und Sinnen, wenn es auch nur Spiel schien, der Knabe emsig schnitzend und glättend, das Mädchen strickend, singend oder plaudernd, oder beide Hand in Hand dem Spiel der einzelnen Werke zuschauend, wie es sich drehte und schnurrte, walzte, pochte, klapperte und klingelte! Das war Ruhe, Genuß, Glück! Glück, wie es nur die Kindheit bieten kann. Und selbst die Wolken, die an diesem Himmel dann und wann auf und vorbeizogen, verschönten ihn nur, weil sie ihn höher hoben. Die Stirne des Knaben konnte sich manchmal unwillig krausen und 130 sein Auge finster blicken. Und ängstlich fragte dann wohl das Mädchen:

»Was hast du, Franzel? Ist was nicht recht?«

»Das Ding da geht nicht!«

»Nicht? Es geht ja!«

»Das verstehst du nicht! – Weil es herumgeht und klippklapp macht, meinst du, es geht! – Es geht aber nicht!«

»Warum denn nicht?«

Seine Augen wurden noch finsterer und die Stirnfurche gräbt sich tiefer. Fast heftig stößt er heraus:

»Weil es nicht geht, wie es soll und wie ich will!«

Und er verliert sich im Brüten.

Die Augen des Mädchens füllen sich mit Tränen. Er sieht es nicht gleich. Aber nach einer Weile weckt ihn eine Unruhe und zwingt ihn, die Freundin anzublicken. Er erschrickt und ahnt sofort den Grund – seine Heftigkeit. Er faßt ihre Hand:

»Gelt, ich habe dir weh getan! Sei mir nicht bös – ich hab ja nicht dich gemeint, sondern das da!«

Sie lächelte schon wieder.

»Ich bin dir nicht bös«, sagte sie, »ich könnt es ja nicht. Aber weißt du, Franzel, du machst mir halt Angst, wenn du so ausschaust. Ich bekomme Herzklopfen und dann –«

Sie verstummt.

»Und dann?« fragt er mit tröstendem Lächeln.

»Dann –«, sagt sie zögernd, »seh ich dich auf einmal nicht mehr!«

»Du siehst mich nicht mehr?« Der Knabe wird ernst. »Was siehst du denn?«

»Ich weiß es nicht, und kann's nicht sagen, es ist zu schnell und dunkel und fremd! Es ist halt was ganz anderes!«

Die beiden Kinder sehen sich an. Sie erblassen und ihr Herz klopft. Sie ahnen etwas Dunkles in der Welt, in ihrem Leben, über dem goldiggrünen zitternden Filigran und dessen blauen 131 Hintergrund; hinter den reglosen Felswänden, unter dem festen Boden, auf dem sie sitzen. Sie sahen ein Dunkel hinter dem Lichte, fühlen ein Schwanken hinter allem Festen und tasten an einem Körperlosen hinter allem Greifbaren. Sie ahnen, fühlen, tasten – aber sie fassen nicht und wissen nicht was, weil sie es nicht können.

Doch allmählich löst sich der seltsame Bann, schwindet der unheimliche Zauber; der Sonnenschein, das Waldesgrün, das Rauschen des Wassers, das Wehen der Luft und das Vogelgezwitscher macht sie wieder gesund und ihre Welt schöner als zuvor. Sie kehrten mit dem gleichen wohligen Gefühl der Wirklichkeit in ihr glückliches Kinderdasein zurück, mit dem unser Fuß den festen Stand wieder betritt, wenn wir auf schwacher, schwankender Planke ein unheimliches Wasser befahren haben.

Der Mühlbachtobel war der eine Winkel des großen Gartens, der ihre Welt bedeutete. Aber da waren noch mehr davon, und man wußte nicht, welches der köstlichste war. War es das mit Heidekraut und Moos gefütterte Felsennest am Gfällstein drüben, wo der scharf vorspringende Roßberg jählings abbrach und in senkrechter Wand zur Donau abstürzte, die sich tief drunten als mattgrünes Band durch die Felsschroffen wand, die ihr auf Schritt und Tritt den Weg verlegte? Nein, es war zu groß und wild und schön, um das Künstlichste zu sein; man gehörte hier dem Orte, der beschaulichen Nähe und der weiten, reichen Ferne an, und nicht sich selbst, nicht sich einander. Man schaute in die schwindelnde Tiefe, auf die Felsen drüben, deren schroffster mit den Trümmern einer Burg gekrönt war; man schaute weiter flußabwärts auf noch höheren Berggrat das alte stattliche Kloster, dessen Glocken so lieblich-feierlich herüberklangen; und endlich über ein Meer von Bergen und Hügeln fern ein Stück der blauen Fläche des Bodensees, und noch ferner im Süden eine Reihe Schneeberge, Vorarlberger und Schweizer Alpen.

132 Oder es war daheim, in der mächtigen Scheune der Lochmühle, hoch oben unter dem First, wo der Franzel im duftigen Heu seine »Mauchet« eingerichtet, das heißt, einen ganzen Schatz von Äpfeln, Birnen, Nüssen zusammengetragen hatte, um sie im Spätherbst und Winter aufzuschmausen? Ja, es war köstlich, in dem warmen Nest beisammen zu sitzen, so ganz im Verborgenen, und seinen Schatz mit dem Liebsten zu teilen. –

Aber schöner war es doch noch, im Schneegeriesel oder im klaren Wintersonnenschein zusammen auf dem niedrigen, langen Rutscher die Sommerhalde hinunterzuschlittern, hoch oben vom Waldrand an bis hinunter zur Bachsohle, wohl eine halbstündige Bahn, daß die Locken flogen und die Wangen glühten und der Jubel sich in einem Jauchzer Luft machen mußte.

Ja, es war schön, aber wenn man den Knaben gefragt hätte, so war es doch am schönsten, manchmal am Abend im Lehrerhaus, wenn die Sophie den geigenden Vater auf dem wohl alten, dünnstimmigen Klavier begleitete und ein Duo von Mozart oder Haydn durch die Stube und die einfachen Seelen lächelte, die den freundlichen Tönen lauschten. Ohne selbst Geschick oder Neigung zur eigenen Ausübung zu haben, war der Franzel ein leidenschaftlicher Hörer von Musik. »Es ist mir, als ob ihr auf mir spieltet!« sagte er einmal leise zu dem Mädchen, als es ihn fragte, ob es ihm gefiele. Und sie verstand es; sie spielte ja mit ihren zwölf Jahren selbst schon mehr mit der Seele als mit den Fingern.

 

Wir durchmaßen den Garten und schauten in seine lauschigen Winkel, aus denen es so lau wehte, als ob es den Hauch des Glückes trüge, und der unberührte Duft der Kindheit lag auf all den süßen Früchten, die vom Gezweige niederhingen; wir sahen ihn grünen und im Sonnenschein funkeln; wir sahen ihn auch weiß unter der weichen, glitzernden Decke, und ein Jauchzen füllte die Luft; wir sahen ihn auch heute weiß und eine graue, 133 frostige Wolke liegt über ihm, wie über dem ganzen Lande. –

»Es wird wohl noch mehr Schnee geben! Was meint ihr, Nachbar?«

»Kann sein, vielleicht wird's aber auch noch einmal kalt; es ist je nach dem, ob der Wind sich hält oder dreht.«

So sprachen die Leute unter sich, als sie an dem Februartage aus der niedrigen Moosbronner Kirche traten, den Himmel prüften und die Mäntel fester zusammennahmen; denn ein kalter Wind pfiff durch die Berglücke den Steig hernieder, den Schnee aufstäubend und unsanft die blechernen Töne des armseligen Geläutes zerreißend, das die Messe ausläutete. Es war kein Sonntag, sondern an den Wachsstöcken, die jeder der festtäglichen Kirchgänger in der Hand, manchmal auch in ganzen Ringen an eine Schnur gereiht um den Arm hängen hatte, war zu erkennen, daß es der Tag Mariä Lichtmeß war, an dem die Katholiken ihren Jahresbedarf an Wachslichtern für den Kirchenbesuch und den Haushalt weihen lassen.

Vor der Kirchhofpforte teilte sich der paarhunderköpfige Menschenschwarm in einzelne Gruppen, die auf den verschiedenen Dorfgassen hinauf oder hinab dem warmen Mittagessen zueilten, das wohl schon auf den Tischen stand.

Sonst pflegte man noch eine Weile auf dem Kirchplatz herumzustehen oder durch die Gräberreihen zu schreiten, diesen oder jenen Toten zu besuchen, aber heute war das Wetter zu ungemütlich.

Nur ein kleines Häufchen Kinder hatte sich an einem noch frischen Hügel angesammelt; zwei waren daran gestanden und drei, vier andere zu ihnen getreten, wie es so manchmal geht. Und so plauderten sie ein wenig.

»Dem Matthis da drunten friert das Tröpfle an der Nase auch immer zu einem Eiszäpfle an!« sagte gerade ein aufgeschossenes Mädchen mit kecken Augen, rotbraunen Haaren und vielen Sommersprossen, des Stubenwirts Therese.

134 »Es ist doch grausig, so da drunten zu liegen«, meinte schaudernd ein anderer.

»Ich muß dran denken, was der Vater gesagt hat, als sie des Bachhofers Frau zugedeckt haben.«

»Was hat er gesagt, Sophie?« fragte der Franzel, denn beide waren dabei.

»Was sie jetzt auf sie schaufeln, ist noch das Leichteste, was sie je gedrückt hat.«

»Um so besser!« schaltete die Theres ein. »Denn wir müssen alle einmal dran glauben, auch du.«

»Warum sagst du das besonders?« fuhr der Franzel sie zornig an.

»Ich mein halt!« war die leichtfertige Antwort, und boshaft setzte sie hinzu: »Sie ist auch so gering! – Das trügt nicht!«

Sie mochte die Sophie nicht leiden und tat ihr weh, wo sie es mit ihrer spitzen Zunge und giftiger Schmährede konnte, offen ins Gesicht und heimlich hinter ihrem Rücken.

Dem Franzel schoß das Blut in den Kopf und er hob den Arm. Der bittende Blick der Verwundeten hätte ihn nicht vom Zuschlagen abgehalten, wiewohl sie ihn sonst mit einem einzigen solchen zu bändigen vermochte, so daß Trotz und Zorn von ihm schmolz, wie ein Aprilschnee vom Zweige, wenn ein Sonnenblick darauf fällt; aber ein stechender Schmerz, gemischt von Schrecken und Wehmut, lähmte ihn. Mit erstickter Stimme knirschte er die Natter an: »Was sagst du? – Was trügt nicht?«

»Ich hab's gesagt – schau sie nur an!«

Mechanisch folgte er ihrer Weisung und sein Auge flog über die schmächtige Gestalt mit dem bleichen, durchsichtigen Gesichtchen; eine dumpfe, namenlose Angst bemächtigte sich seiner; er fühlte den Boden wanken und sein Bestes, Liebstes, nein sich selber ins Dunkle hinabgleiten. Und wieder glitt sein Blick zu der anderen, die mit anscheinend gleichgültiger Miene die Wirkung ihrer Teufelei beobachtete.

135 »Sag's noch einmal!« zischte er und wieder hob er drohend die geballte Faust.

»Pah«, sagte sie, »'s ist ja heut Mariä Lichtmeß – wir können ja heut Abend Lichtel messen!«

»Nein – nein«, stammelte das Sophiele, »es ist eine Sünde.«

»Sünde? – Angst hast du!«

»Nein – es ist Sünde!«

»Wer hat's gesagt?«

Niemand hatte es gesagt; die Sophie konnte es wenigstens nicht angeben; und was niemand gesagt hat und nirgends geschrieben oder gedruckt steht, hat kein Recht auf Anerkennung; das innere Gesetz, das in Sophie so laut tönend die Stimme erhoben hatte, steht ja in so geringer Geltung. Nicht jeder vernimmt's und nicht jeder, der's vernommen, befolgt's.

»Siehst du«, höhnte die Therese, »niemand hat's gesagt, und was man mit Geweihtem tut, ist keine Sünde! Angst hast du, weil ich recht hab!«

Betroffen und hilflos stand das Mädchen der Stärkeren gegenüber und konnte ihr nicht antworten. Sie konnte ihr nicht sagen, weil es noch über ihre Begriffe ging, daß niemals der recht hat, der das Böse will. Die schlechte Absicht geht immer auf falscher Bahn.

»Ich hab keine Angst, und du hast nicht recht!« murmelte sie verstört und wandte sich bittend an den Franz. »Komm, wir wollen gehen!«

Er stand unschlüssig.

»Geht nur«, höhnte die Theres, »ihr habt beide Angst, jedes um seinen Spezl!«

Die anderen lachten.

Wie zwei Angeschuldigte standen die beiden Schuldlosen ihren Versuchern gegenüber. Des Knaben Brust keuchte.

»Angst?« zischte er, »'s ist gut, wir kommen. Wo soll's sein?«

»Franzel!« bat seine Freundin.

136 »Nein, 's ist fertig – wir kommen! Wohin?«

Sie sahen sich im Kreise um und an.

»In eurer Scheuer?« fragte schüchtern eines die Theres.

»Gut, in unserer Scheuer!«

»Ins Stubenwirts Scheuer!«

Mit dieser Losung gingen sie auseinander; die einen dahin, die anderen dorthin, unsere beiden Freunde gerade aus die Dorfstraße hinunter. Vor dem Schulhause hielten sie.

»Also, heut Abend!« sagte der Knabe halblaut; sie hatten auf dem kurzen Weg noch kein Wort zueinander gesagt.

»Wir sollten's nicht tun, Franzel!« sagte gepreßt das Mädchen, mit Tränen in den Augen.

»Wir müssen's!« entgegnete er düster. »Hast du wirklich Angst?« setzte er hinzu, sie prüfend, aber unsicher anblickend.

»Nicht um mich – aber für dich!« versetzte sie, die Augen hebend.

»Für mich?« Er lächelte fast mitleidig. »Für mich brauchst du keine zu haben. – Aber ich muß machen, daß ich hinunter komm, sonst balgen sie mit mir! – Also heut Abend!«

Flink rannte er die Dorfstraße hinunter, der Lochmühle zu, die tief drunten aus dem Tannengrund heraufschaute, wenn man das letzte Haus des Dorfes hinter sich hatte.

Bekümmert sah das Mädel ihm nach und trat dann ein.

»Warum kommst du solang nicht und was hast du gehabt?« fragte der Vater.

»Ach, es ist eins wieder so wüst gegen mich gewesen.«

»Wer?«

»Des Stubenwirts Theres!«

»Geh der aus dem Weg, es ist ein böses Ding!«

Damit war das Verhör zu Sophies Erleichterung erledigt, und sie konnte den Löffel in die Mehlsuppe tauchen.

Aber es war ihr wenig ums Essen.

137 Der Mittag ging herum, grau, kalt und windig wie der Morgen, und früh senkte sich die Dämmerung hernieder. Es war einer jener Tage, an dem es überhaupt nicht Tag geworden war.

Der Abendgottesdienst war vorbei, der Rosenkranz gebetet und die Glocken verklungen. Wieder zerstreuten sich die Kirchgänger, und wieder ballte sich ein Häuflein Kinder von 13, 14 Jahren zusammen, und zwei andere, die sich abseits hielten, schienen dazu zu gehören.

Das Stubenwirtshaus lag am Kirchplatze. Der Trupp machte jedoch einen Bogen, um von der Halde her von hinten in die Scheuer zu kommen.

Es war allen unheimlich zumute, als sie zusammen in dem mächtigen Raume saßen, in dem nur ein Wachslicht brannte, das der Therese. Jeder der Teilnehmer reichte nun dieser seinen Wachsstock, von dem sie ruhig und kaltblütig mit der Schere ein fingerlanges Stück abzwickte, es genau nach den anderen maß und zurück reichte.

Mit finsterem Trotz gab der Franzel den seinen. Sie rollte ein Ende davon auf, maß ab und schnitt ihm sein Stück zu. Mißtrauisch beobachtete er sie dabei, und noch schärfer, als Sophie, noch blasser als sonst, an der Reihe war.

Die Theres bemerkte seinen Blick und sagte spöttisch:

»Brauchst nicht meinen, daß eins zu kurz kommt!«

»Ich meine nichts!« murrte er und wandte sich ab. Nur einen Augenblick, aber genug, um zu übersehen, daß die Theres beim Abwickeln den dünnen Wachsstrang listig in die Länge zog, so daß das Kerzchen der Sophie ein wenig dünner ausfiel als das aller anderen.

Als nun ein jedes sein Lichtende hatte, zündete jedes das seine an dem schon brennenden an, klebte es im Kreis auf den Boden fest und kniete um den Lichtkreis nieder, der ihre unheimlich großen, gespenstischen Schatten an die hohen Wände der Scheune warf, bis unter das Dach.

138 Und leise, mit singender Stimme, fingen sie den Rosenkranz zu beten an.

Und alle Stimmen zitterten vor verhaltener Aufregung, die Gesichter fingen an zu glühen und krampfhaft starrten ihre Augen auf das schwach flackernde Lichtlein vor sich nieder wie der Spieler auf eine Karte, auf die er – sein Leben gesetzt hatte.

Denn wessen Lichtstümpfchen zuerst niederbrannte oder verlöschte, der mußte von allen zuerst sterben. Das war das Lichtelmessen.

So beteten sie schon ein Weile, inbrünstig vor verzehrender Aufregung, die immer höher wuchs, je tiefer allmählich die Kerzchen niederbrannten.

Aber während alle anderen das Auge fest auf das ihrige geheftet hielten, vergaßen drei unter der Schar das eigene Leben um das des anderen, zwei aus Liebe, eine aus Haß.

Ruhig, mit heiterem Gesicht die Seele vom Gebet erhoben, sah das Sophiele auf das Licht des Freundes, das zu ihrer Wonne am ruhigsten und langsamsten brannte. Ein heißes Gefühl von Dank und Rührung quoll in ihr empor und drängte wie eine gestaute Flut von Tränen nach den Augen. Nur wenn sie ihn selbst ansah, erschrak sie.

Er war bleich wie der Tod und die Furche machte sein Knabengesicht alt und schrecklich. Seine Lippen zuckten und seine Augen schienen in die Stirne zurücktreten zu wollen, so finster braute es um sie. Er sah auf das Flämmchen der Freundin und sah, wie es tief und immer tiefer brannte, schnell, unaufhaltsam und unbegreiflich schnell. Sein Gebet verstummte, die Lippen fanden die Worte nicht mehr und in seinem Gehirn zog ein hohles Brausen auf.

Atemlos kniete die dritte und schaute funkelnden Auges bald auf das Licht des Knaben, bald auf das der Gehaßten. Und ein Gefühl des Triumphes begann in ihr zu singen. Weit über beugt 139 Sie sich, als ob der Brand ihrer Augen schneller das Wachs da drüben schmelzen machen könnte.

Und immer tiefer brennen die Kerzen zusammen, und allen voran das der Sophie. Die Aufregung nimmt zu, die anderen werden aufmerksam, vergessen aufatmend die eigene Gefahr und alles schaut auf die Kerze des anscheinend sicheren Erstlingsopfers des Todes. Nur es allein sieht es nicht; fast lächelnd schaut es auf das Zeichen, das seinem Franzel ein langes Leben verheißt.

Ein langes Leben!

Sie wissen nicht, was sie tun, die Kinder und Toren, wenn sie Gott um ein langes Leben bitten!

Den Knaben aber durchwühlt eine grenzenlose Erbitterung, ein furchtbarer Schmerz, und seine stumme Lippe beginnt, Gott zu lästern, den Gott, an den er ja glaubt. Er fühlt einen Ausbruch in sich, nur weiß er noch nicht, wie er sich Luft machen wird, aber es ist ihm, als ob eine Welt vernichtet werden müßte.

Und jetzt – jetzt schmilzt das letzte Weiße und die Flamme leckt bereits an der kleinen Wachspfütze, die sich gebildet hat jetzt wankt der Doch, windet sich – jetzt fällt er – und – »H h!« entfährt es der Katze da drüben.

Und die Flamme erlischt – der Knabe springt auf – hebt die Arme – schwankt – die Theres schreit auf und – was war's, wie kam's? Der Docht krümmt sich noch einmal in die Höhe und flammt noch einmal auf und brennt eine kleine Weile ruhig weiter – während es vor der Katze da drüben dunkel geworden ist: Sie hat mit ihrem Zischen die eigene Kerze ausgelöscht und vielleicht den Docht der Feindin noch einmal entfacht, wenn es des leisen Hauches bedurft hätte.

Schreiend springt sie davon und alles erhebt sich. Hat das Orakel gesprochen?

Aber ratlos und entsetzt stehen sie vor zwei Ohnmächtigen. Wie war's gekommen? Wohl hat der Franz die Lebensflamme 140 seiner Freundin aufflackern sehen, seine eigene Kraft aber war zerflossen und zusammengebrochen. Durch das Mädchen aber war ein Schreck gezuckt, als sie ihn sinken sah. Einen Augenblick stand sie steif und starr, das Auge in die Ferne verloren dann glitt auch sie hin.

Die Leute, die auf das Schreien der Theres auf den Hof und dann in die Scheune kamen, fanden ein Häufchen erschreckter Kinder auf der Flucht und zweie reglos am Boden.

Fluchend trat der Oberknecht die Lichter am Boden aus, eine Magd sprang nach Wasser und man besprengte die beiden. Zuerst kehrte das Leben bei dem Mädchen zurück. Mit fremdem, wieder ins Weite gerichtetem Blick schlug sie die Augen auf, strich mit der Hand über den Schoß und sagte tonlos:

»Was ist das für Schnee – um diese Zeit – da, nehmt ihn weg!«

Und strich wieder drüber.

»Sie redet irr!« rief die Stubenwirtin.

Aber da war es vorbei; ihr Blick wurde unruhig; sie sah sich um, erblickte den Knaben und erwachte.

»Stirbt er?« schrie sie.

»Leb erst du wieder, eh du nach anderen fragst!« brummte der Knecht.

»Ob er stirbt? Ist er tot?« schrie sie nochmals.

»Nein, Sophie, er atmet noch! Was habt ihr für Sachen gemacht!« sagte unwirsch die Wirtin.

»Ich hab ja gewußt, daß es Sünde ist«, schluchzte das Mädchen, »wenn er nur nicht stirbt!«

 

Nein, gestorben ist er nicht, aber wochenlang lag er in schwerer Gehirnentzündung in der Mühle drunten, ehe jene Stunde ganz verschwunden war, wenn sie sich überhaupt je verwinden ließ. Die Sophie war nicht von seinem Lager zu bringen und man mußte sie gewähren lassen, zumal ihre Nähe von sichtlich guter Wirkung auf den Kranken war. Die gute Pflege und seine 141 kräftige Natur ließen ihn auch wieder auferstehen, und der mit Macht hereinbrechende Frühling fand ihn als Genesenden neu aufatmend auf dem jungen Grün der erwachenden Natur dahinschreiten, Hand in Hand mit seinem seligen kleinen Mädchen.

 

Der Frühling verging, der Sommer kam, und wie der eine kam und ging, flossen auch die anderen abwärts im Tal des Lebens. Und jeder Kommende fand wohl Berg und Fluß und die Mühle und das Dorf am alten Orte, aber nicht die Menschen. Die waren weiter gegangen, ein, zwei, drei Schritte, wer weiß wie viele.

Auch unsere beiden Freunde waren weiter gegangen, aus den Kinderschuhen herausgewachsen und groß geworden. Wohl waren ihre Seelen eins geblieben, aber etwas Neues, Geheimnisvolles, spät und langsam Erkanntes war zwischen sie getreten, sie trennend und doch nur noch inniger und süßer einend. Sie lagen keine Tage mehr am kleinen Mühlkanal im lauschigen Tobel da droben; sie hockten nicht mehr seelenvergnügt zusammen in der Mauchet unter dem Scheunendach, sie saßen auch nicht mehr oft miteinander im Felsennest am Gfällstein und sausten nicht mehr miteinander im Kinderschlitten jauchzend die Sommerhalde hinunter, und auch nur selten kamen sie mehr zum Hauskonzert zusammen. Aber wenn es geschah, daß sie sich begegneten, stieg jene freudige Lohe in ihnen auf, die ganze Welt um sie verzehrend und nur das Andere beleuchtend.

Es kam nicht zu häufig vor; denn seit geraumer Zeit besuchte der Franz eine Realschule in Stuttgart, um später auf das Polytechnikum überzugehen. Und so kam er nur in den Vakanzen heim nach Moosbrunn, mit jedem Male größer, breiter und stattlicher; und jedesmal fand er des Lehrers Sophie, sein Sophiele, mehr erblüht und gereifter, als er sie sich vorgestellt. Und doch fanden sie sich immer noch als die alten, als eins dem anderen gehörend, untrennbar gehörend. Man betrachtete sie auch allgemein als ein Paar, und selbst der Neid der Therese wagte sich 142 nur von ferne an sie heran.

Und wenn er in den Ferien heimkam und im Vorbeigehen im Lehrerhause sich anmeldete, seine Liebste zu begrüßen, und sie sich gerade nichts zu sagen wußten, weil sie keine Laute für den stillen Jubel fanden, der sie erfüllte, so sahen sie sich nur mit den leuchtenden Augen an, die sich tausend Träume von der nahen Zukunft erzählten. Dann tat wohl beider Blick die gleiche Frage:

»Wann?«

Und die gleiche Antwort tönte zurück:

»Bald?«

Wann? – Ja, wann?

Bald, antwortete die freudige, schmeichelnde Hoffnung. Und gerne glaubt's das willige Ohr.

Wann?

Man sollte nicht fragen, oder wenn man fragt, nicht selbst antworten.

 

Wieder war einmal ein Winter gekommen und hatte Weihnachten herangebracht. Unter der weißen Decke lag still ringsum die Natur im Schlummer, neue Kräfte für den neuen Jahresmorgen sammelnd; denn der Winter ist die Nacht des Jahres, und die lichtlose Nacht ist die Zeit, die müden Augen zu schließen, die vom Lichte geboren sind.

Seit Tagen, nein Wochen, lebte Sophie in jener süßen Unruhe, die uns befällt, wenn wir auf das Eintreffen von etwas Liebem und sehnsüchtig Erwartetem harren. Sie wußte, ihr Franz würde kommen, nicht in die Vakanz wie sonst, sondern auf seinen ersten Urlaub; er war im Herbst eingetreten, um sein Jahr abzudienen. Die Tage wurden immer kürzer und von Abend zu Abend hatten ihre Augen mehr Mühe, die immer früher einbrechende Dämmerung zu durchbrechen, wenn sie Ausschau hielt, ob er noch nicht um die gewohnte Stunde von der Steig oben 143 herunterschritt. Er pflegte den Postwagen am jenseitigen Fuße des Berges zu verlassen und den kürzesten Fußweg einzuschlagen.

Nun war es zwei Tage vor Weihnachten. Erst bei völligem Dunkel war sie vom Fenster weggetreten, die Lampe zu richten und sonstigen häuslichen Geschäften nachzukommen. Da – ein fester, doch leichter, ach so wohl bekannter Tritt auf der Treppe, sie fliegt zur Türe, stockt vor Freude und erblaßt von einem jähen Erschrecken – das volle Licht der Lampe fällt auf einen hochgewachsenen, in vollster männlicher Kraft und Jugend blühenden Soldaten, der in dem langen, dunklen, knapp um die Hüften gegürtelten Mantel, mit Seitengewehr und Feldmütze, ordentlich kriegerisch aussieht.

Und sie stockt noch, als er ihr schon beide Hände entgegenstreckt und die alten, kühnen und doch sanften Augen ihr lachend entgegenblitzen.

»Nun, Herzensschatz? Kennst du den Franz nicht mehr?« fragt er. »Kein Wort, keine Hand, keinen Gruß und keinen –?« Er spitzt die Lippen. Da löst sich der Bann, der auf ihr gelegen.

»Franz!« sagt sie leise und gleitet in seine Arme.

Dann hält sie ihn von sich und betrachtet ihn.

»Wie schön du bist!« flüstert ihr Mund und jubelt ihr Blick, »aber –«

Sie verstummt.

»Aber?«

»Es hat mich erschreckt!«

»Der alte Traum!« sagt er mit sanftem Ernst und streicht über ihr weiches Blondhaar; sie erschauert unter seiner Hand. Dann lehnt sie den Kopf an seine breite männliche Brust.

Schritte draußen; sie hebt den Kopf und bietet ihm den Mund; noch ein rascher Kuß, bevor der Vater kommt.

»Ah, der Herr – Soldat!« sagt kichernd der Weißkopf, der ins Zimmer schlurft, und zieht höflich das samtene Hauskäppchen.

144 »Potz Blitz!« fährt er wohlgefällig fort, mit diesem Wort seinen ganzen Vorrat an Flüchen erschöpfend, um den jungen Krieger standesgemäß martialisch zu begrüßen. »Werden da wir Moosbronner spicken! Ja, ja, ja, zweierlei Tuch, das wirkt!« Dann betastete er den Mantel und fährt begeistert fort:

»Ja, ja, man sieht, das ist ein Stoff – Beistrich – der wohl warm gibt! He?«

Herzlich begrüßt Franz seinen alten Lehrer und verabschiedet sich dann, als der Postschlitten am Haus vorüberklingelt, um sein Gepäck zu empfangen und zum Vaterhause hinabzugehen.

Zwei beglückte Augen sehen ihm nach, bis er im Dunkel verschwindet; dann kehren sie umflort zu sich zurück und ein Hauch entringt sich einer Mädchenbrust.

War's ein Jubel oder ein Seufzer?

Oder beides?

 

»Leb wohl, Mütterle! – Nein, geht nicht mit, der Wind geht zu kalt! – An Ostern komme ich wohl wieder! – Bleib hübsch gesund und hab keine Sorge um mich! – Also, lebe wohl!«

Damit löste sich am dritten Morgen nach jenem Abend der Franz aus den Armen der Mutter, küßte sie noch einmal und wandte sich zum Vater, der mit unbeweglichem Gesicht, aber launig gekniffenen Augen daneben stand.

»Fährst du mit bis zur Steig oder zur Kirche?«

»Nein! Bis zur Kirche lohnt's sich nicht und auf der Steig weht mir der Wind zu kalt!« sagte er gedehnt, das ›mir‹ anzüglich betonend. »Und geschwätzt haben wir genug!«

Damit reichte er ihm die massive Hand, die der Sohn kräftig drückte und schüttelte, dann wandte er sich zu den sich herzudrängenden Müllern, Sägern, Knechten und Mägden, schwang sich zum Oberknecht auf den Schlitten, nahm mit den Worten »Laß mich wieder einmal fahren, Sepp!« Zügel und Peitsche, grüßte noch einmal im Kreise und mit einem lustigen »Auf 145 Wiedersehen!« ging's mit den stiebenden, wiehernden Braunen und kräftigem Peitschenknallen zum Hoftor hinaus.

Alle sahen ihm nach, dann wandte sich der Alte zu seiner Frau und brummte, freundlich seine Hand betrachtend:

»Ein Paar Pratzen kriegt der Bub, wie der Allgäuer!«

Jetzt bog der Schlitten um die erste Straßenbiegung; ein Jauchzer klang hernieder und verhallte langsam drüben an den Bergen.

O, verwahrt ihn wohl, diesen Ton, ihr beiden Alten, und du, Mutter, trockne die letzte Träne nicht so rasch; denn vielleicht gibt's an Ostern keinen Urlaub, – vielleicht auch – – –

Von der Steig glitt ein Schlitten langsam nach der jenseitigen Seite nieder. Bolzengerade saß der Sepp und schien nur beschäftigt, die ungeduldigen Gäule zurückzuhalten. Daß sein ganzes Gesicht von einem unsäglich schlauen Lächeln überzogen war, konnte man von hinten nicht sehen. Droben aber, jetzt hundert Schritte hinter ihm, stand im Schnee ein Menschenpaar, eng umschlungen. Auf dunklem Grunde lag ein blonder Schopf und ein heiß überströmtes Gesicht preßte sich an eine feste, warme Brust.

»Mein liebstes, einziges Mädchen, warum nur weinst du so, wie sonst nie?«

Wohl sechsmal hatte der Franz gefragt und ebenso oft war eine Stimme im Schluchzen erstickt.

Diesmal vermochte der Lauschende die abgerissenen Laute zu verstehen.

Wie hat es geklungen? Er erblaßt –

»Ich – seh – dich – nimmer – mehr!«

»Sophie!« ruft er bebend. »Bist du – bist du krank!«

»Ich – nicht – nein – du!«

»Sophie – ich?«

»Nein – nicht krank – aber – –« Ihre Stimme erstickt wieder.

»Aber?«

146 »Ich weiß es – ich seh dich nimmer!«

»Sophie – an Ostern!«

»Nicht an – Ostern!«

»Oder im Herbst!«

»Auch nicht im Herbst – nie mehr!«

Und haltlos strömen ihre Tränen. Er steht betroffen – ratlos. Wie soll er sie trösten? –

»Sophie!« sagt er endlich mit seltsam weicher Stimme; durch die rieselnden Tränen blickt sie zu ihm auf.

»Weinst du, daß ich gut bin oder bös?« fragt er.

»Frag nicht – kenn ich dich nicht!«

Er küßt sie auf die Stirn.

»Dann leg's in Gottes Hand; was mir auch zustoßen mag – wenn du recht hast – es wird geschehen, wie's beschlossen ist und – könnte uns etwas anderes trennen, als etwas Böses? – Nicht die Ferne – auch nicht –«

»Der Tod!« schließt er leise.

»Nicht die Ferne – und nicht der Tod!« flüstert sie ihm nach, und in ihrem Auge schimmert etwas Seliges.

Dann lösen sie sich, begegnen noch einmal, halten sich noch einmal und küssen sich – –

Und noch einmal – –

Und jetzt sieht er sich zum letzten Mal um, grüßt mit der Hand, sie winkt mit dem Tuch – –

Und jetzt ist er verschwunden!

Verschwunden? Nein! In ihrem Auge steht noch sein lebendes Bild, groß, schön, stark, gescheit und – und lieb.

Ein scharfer Peitschenknall zeigt ihr an, daß der Knecht die Pferde angetrieben hat.

Du hast's schlecht getroffen, Sepp, mit all deiner Schläue. Scharf klang es in ein Ohr und ein blutendes Herz – Es klang wie ein Schuß.

 

147 Das war Weihnachten 1869.

Der Winter verging, der Frühling kam, aber schon um Ostern lag es schwül über den Landen. Zwar die erste Wolke war verzogen, der unsinnige Gotthardstreit war beigelegt, aber über dem Rheine rumorte und raunzte man weiter. Um so weniger hörte man in Berlin. Aber Urlaub gab es zu Ostern nicht.

Sophie ließ zitternd den Brief in den Schoß gleiten, in dem die Nachricht stand.

Und drunten in der Lochmühle gruben sich zwei bekümmerte Mutteraugen forschend in ein unbewegliches Mannesgesicht.

»Ob es wohl doch noch Krieg gibt, was meinst?«

Der Alte schaute nicht auf.

»Wer weiß? – Wir Bauern machen ihn nicht. Mußt den Bismarck fragen!«

Pfingsten kam heran, und noch war der Druck nicht von der Brust der Völker genommen. Es wetterleuchtete stark. Der Juli kam – und mit ihm stieg eine fahle Wolkenwand im Westen auf. Blitze schossen aus ihr und das Grollen des Donners schwoll an und hörte nicht mehr auf. Höher und höher hob sich die Wolke, immer brandiger färbte sie sich; jetzt lag sie über ganz Europa und die Völker zitterten.

Da brach der Blitz los –

Krieg! hallte der Donner nach.

»Morgen rücken wir aus«, schrieb der Franz, »leb nun wohl, mein Herz, mein Leben! Und denk an unseren Abschied auf der Steig. Trauere nicht – weißt du? ... nicht die Ferne und nicht der Tod!«

Zwei gefaltete Hände legten sich auf den Tisch und ein weinendes Mädchengesicht legte sich drauf!

»O nicht – nicht – laß es mich nicht erleben, allmächtiger Gott!«

Jetzt grollte es stärker vom Rheine her; aber das ist kein Donner mehr – das sind Kanonen.

148 »Wir sind noch nicht am Feind, wir wissen nur, daß er da drüben steht, aber es wird nicht mehr lange gehen! Wir wären alle froh, denn die Ungewißheit und die Ungeduld sind etwas Unerträgliches. Wohl die meisten von uns haben ein Gefühl, ähnlich wie man von den Opferfällen unserer Vorfahren berichtet, daß sie begierig ins vorgehaltene Messer rannten. Vielleicht dünkt es dich grausam, aber Ave Caesar! Heil Kaiser! Dich grüßen die Todgeweihten!«

So stand es in seinem letzten Brief, der am 5. August ankam, zugleich mit den Telegrammen vom Gefecht von Weißenburg.

»Die dritte Armee?« fragte der Vater sinnend. »Dann war er nicht dabei!«

»Noch nicht!« murmelte ein junger Mund, mit fast herbem Ausdruck. »Aber wann?«

Seit der Kriegserklärung und dem Aufruf der Königin von Preußen an die deutschen Frauen, säumten auch die Frauen und Mädchenhände nicht, nach ihren Kräften ihre Pflicht zu tun. Im Schulzimmer saßen sie beisammen, wenn die Ernte die Hände frei ließ, um Scharpie zu zupfen. Und fleißig wie die Finger gingen auch die Lippen und sprachen von diesem oder jenem Burschen oder Mann, der auch dabei war, draußen im großen wüsten Krieg, dessen ganzen Schrecken sie sich nicht vorstellen konnten. So saßen sie auch am anderen Tag, am sechsten, beisammen. Es war heiß, drückend heiß, und schwül im Zimmer, obwohl die Fenster offen standen. Selbst der redseligste Mund war heute schläfrig, und mehr als einmal konnte man die Mücken summen hören, so still ging es her. Mechanisch zerzupften die Finger die weißen Linnenstreifen.

»Schaut nur die Sophie an!« flüsterte eine Stimme zur Nachbarin, so leise, daß diese »Was?« fragen mußte.

Aber so leise es gesprochen war und so ferne auch die 149 Besprochene saß, sie hörte es. Ihre Augen richteten sich verstört auf die Sprecherin, die errötete und die ihren niederschlug. Es war ein langes, mageres Ding mit rotbraunem Haar und vielen Sommersprossen, des Stubenwirts Therese, die trotz des Kerzenorakels und des dabei gehabten Schrecks noch lebte, während schon lang ein anderer Teilnehmer durch einen Sturz vom Heuboden auf die Tenne den Hals gebrochen hatte.

»Schaut nur die Sophie an!« hatte sie gesagt.

Um zehn Uhr schon war eine unerklärliche Aufregung über sie gekommen; das sonst so ruhige, stille Mädchen war wie verwandelt. Eine schwere Mattigkeit lag über all ihren Gliedern, kaum daß sie Hände und Füße regen konnte. Und doch vermochte sie sie noch weniger in Ruhe zu halten. Sie glich einem Träumenden, den ein schwerer Alp quält und gegen den er sich vergeblich wehrt. Je höher der Tag stieg, um so quälender wurde ihr Zustand.

Am Nachmittag, als die Mädchen und Schulkinder zur gewohnten Stunde zur Arbeit kamen, gesellte sie sich zu ihnen. Aber sie glich mehr einem Gespenst als einem Geschöpf von Fleisch und Blut. Fernab schien sie zu schweifen, und doch hörte und sah sie alles um sich, auch das Unhörbare. Alle ihre Nervenkräfte mußten auf das Äußerste angespannt und in fieberhafter Tätigkeit sein. Und das einzige Hindernis, das sie bändigte, mußte die Fessel der Zeit sein, die unerträglich langsam vorrückte.

Zwei Uhr, ein Viertel, halb, Dreiviertel –

Drei Uhr. Die Uhr in der Wohnstube schlug zuerst. Da hob sie sich und starrte angstvoll in die Ferne. Die Kirchenuhr setzte an, schlug die vier Viertelschläge –

In der Spannung, ehe sie den ersten Schlag auf drei tat, sank das Mädchen um, mit einem markerschütternden Schrei. Die entsetzten Freundinnen hoben sie auf ihren Stuhl. Sie schien nicht ohnmächtig zu sein; denn ihre Augen lebten. Nach einer 150 Weile blickte sie nieder und ihre Lippen murmelten:

»Was ist das für Schnee – um diese Zeit – da, nehmt ihn weg!« Und sie suchte die Scharpieflocken von der Schürze zu streifen. Dann erst fiel sie in Ohnmacht. –

 

Um dieselbe Stunde sprengte auf dem Schlachtfeld von Spichern General von François vor die Front eines verlorenen Haufens. »Kinder!« sagte er. »Wir sind zum Frontangriff kommandiert.« Ein paar hundert Männeraugen richteten sich auf den Roten Berg und blinzelten.

»Da hinauf?« fragten sie stumm.

Der General versteht sie.

»Wir müssen«, sagt er, steigt vom Pferde, zieht den Degen und stellt sich an die Spitze einer Kompanie des Hohenzollernschen Füsilierregiments.

»Vorwärts, meine braven 39er!«

In Saarbrücken schlägt es drei Uhr.

Der Sturm beginnt – das Unerhörte gelingt.

Aber am Rande des Bollwerks liegt der Führer und über ihm sein Leben verhauchend – der Franz!

 

Der Erzähler schwieg, und mit verhaltenem Atem auch seine Hörer. So eine ganze Weile.

Dann fragte schüchtern ein Mädchen mit verschleierter Stimme:

»Und die Sophie?«

Der Doktor nickte.

»Sie lebt noch heute – Sie sind bei ihr seiner Zeit in die Schule gegangen!«

»Fräulein Sophie Langfelder – ?«

»Ja, die Kindergärtnerin. – Und die Lehre der Geschichte: Die Kerzen orakeln so wenig wie die Spinnen und Kuckucke – – aber tief da drinnen im Dunkel steckt etwas – – wer weiß, was

151 es ist? Ich nicht!«

Still brach man nach einer Weile auf; es wurde kühl auf der Höhe und ein leiser Schauer lag auch über den Gemütern. Also heim, ins traute, sichere Haus – –

Ja, es gibt »verschiedenen Zauber«! 152

 


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