Emil Gött
Die Wallfahrt
Emil Gött

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Ein salomonisches Urteil

Es ist schon mehr als ein Jahrhundert her, da aß einmal zu Paris auf dem Bratenmarkt Châtelet vor der Bude eines Garkochs ein armer Lastträger sein Brot bei dem Dunst und Duft der Braten, und es schmeckte ihm doppelt so gut bei dieser würzigen Zutat. Der Garkoch sah ihm zu und ließ ihn ganz ruhig schnuppern und essen. Als der Mann aber seinen Wecken gegessen hatte und sich wieder trollen wollte, da sagte der Koch:

»Halt, Freundchen! Erst bezahlt – es macht einen Sou!«

Der Dienstmann aber wandte ein, er sei ihm nichts schuldig, der Dampf ginge herrenlos in die Luft, und jedermann könne die Nase davon so voll nehmen, wie er wolle. Der Koch bestritt das und behauptete, der Dampf käme von seinem Braten und sei sein Eigentum so gut wie der Braten selbst, und wenn er nicht bezahle, so schneide er ihm die Nase ab. Nun ward der Dienstmann wild, zog sein Messer, und viele Marktleute und müßiges Volk sammelte sich um die Streitenden, und wie die Raben beim Aas, waren auch bald ein paar Advokaten bei der Hand, die den Streitfall aufgriffen und die Parteien recht verhetzten. Die Umstehenden aber lachten sich die Bäuche voll über den unerhörten Prozeß, der da so ernsthaft verhandelt ward.

Nun lebte aber zur selben Zeit in der schönen Stadt Paris ein Mann, der, so groß die Stadt sein mochte, allgemein bekannt war, und zwar seiner närrischen Weisheit und weisen Narrheit wegen, mit der er manch ergötzlich Stücklein geliefert. Wie dieser zu der Stunde von ungefähr denselben Markt betrat, wurde er sofort vom Volke zu den Streitenden geschoben und als Schiedsrichter vorgeschlagen. Der Koch und der Lastträger waren des auch zufrieden. Jean le fol, oder zu deutsch ›Hans der Narr‹, ließ sich also den Fall vortragen. Wie er ihn angehört, 77 machte er ein kritisch Gesicht und befahl nach kurzem Überlegen dem Dienstmann, den verlangten Sou aus dem Beutel zu nehmen. Dieser tat es. Der Richter nahm ihn in die eine Hand, dann in die andere, wog ihn in beiden, biß hinein, betrachtete ihn genau und ließ ihn zuletzt etliche Male auf dem Tische der Bude klimpern. Unter tiefem Stillschweigen schaute das gespannte Volk diesem Tun zu; der Koch freute sich, und der Lastträger hatte Angst um seinen Sou.

Dann sagte der Richter ernsthaft: »Das Geld ist gut!« und fragte den Koch, ob es ihn auch so dünke.

Der bejahte.

»So?« sagte der Richter, ließ sich einen Stuhl bringen, setzte sich gravitätisch, zupfte seine Halskrause, legte die Stirn in weise Falten, hustete und räusperte sich lange und geräuschvoll und sagte:

»Unsere Weisheit entscheidet hiermit, daß der Mann hier, der dem Koch da den Dunst des Bratens gegessen hat, denselben mit dem Klange seines Geldes vollauf bezahlt hat, und somit ihr Rechtsstreit beendet ist. Die Parteien sind hiermit entlassen.«

War das kein salomonisches Urteil? Oder welcher Gerichtshof der alten und neuen Welt hätte so rasch, weise und vor allem billig gezeigt, daß das Geld, welches die Herren Richter und Advokaten verstudiert, nicht zum Fenster hinausgeworfen war? 78

 


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