Emil Gött
Die Wallfahrt
Emil Gött

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Rheinfischer

Offenbar läßt sich so ziemlich alles Glück der Jungen, Starken, Gesunden, Ungetrübten und Ungebrochenen auf Einseitigkeit der Lebenserfahrung und des Schicksals, mit viel Rausch und Traum und Glauben und Hoffen, zurückführen. Es gleicht ganz der Unschuld des unversuchten Kindes, dem ebenfalls die zweite Hälfte des Lebens fehlt, um jene darin zu bewähren und so erst recht zu erbauen. Wenn das aber möglich ist: aus tausend Sünden eine Ehre zu brauen, aus tausend Niederlagen als Sieger, aus tausend Pfützen rein hervorzugehen, dem Schwane gleich, von dessen Gefieder auch das schmutzigste Wasser abträuft, ohne Flecken zurückzulassen, könnte es dann im Glücke nicht sein Gegenstück finden? Muß es nicht ebenso möglich sein, sich auf der zerstörten ersten Glückswelt, in völliger Nüchternheit, Wachheit, Desillusionierung, ohne Räusche und Träume und Selbsttäuschungen, ohne Glauben und Hoffnungen, eine neue und nun erst die rechte Lust und Kraft zum Leben, eine Freude und Liebe zum Menschen, ein Glück des Daseins zu schaffen, eines lachenden Daseins über dem unverhüllten Grauen der Welt? Eine nun unsterbliche Lust in ausgebrannter Brust!

Indem mir dieser Gedanke geboren wird, weiß ich, daß er nicht von heute ist. Ich muß seinen Keim einmal und irgendwo vom Leben empfangen, in mir großgetragen, mit meinem eignen Leben genährt haben, bis er jetzt die fragenden Augen zu mir aufschläft. Und ich weiß, wann und wo es war:

Von gemächlichem Ruder getrieben, gleitet unser Boot das blaugrüne Altwasser dahin, auf einer kleinen Entdeckungsreise, die wir, der Freund und ich, in das Labyrinth waldiger Inseln unternehmen, das der Rhein oberhalb des Felsens von Breisach angesiedelt hat. Sie locken uns an wie eine stille, verwunschene 54 Welt, diese lauschigen, dunklen Kanäle und Buchten im Weidendickicht. Ab und zu brechen wir durch einen Hain hohen Schilfes, und es rauscht und knistert, als ob wir seidene Gewänder streiften. Über der Stille des Waldes und der ruhigen Wasser liegt das röhrende Rauschen des »Talwegs«, wie der Eingeborene hierzuland den eigentlichen Strom des Rheines nennt, und es gibt einen angenehmen Grundbaß für unser schweigendes Schauen und Denken und – Atmen. Sprechen ist ja langweilig.

Jetzt biegen wir wieder um eine Insel, und eine stärkere Strömung erfaßt uns – hier bricht irgendwo Strom ein, und richtig, dort ist ein Dammdurchlaß. Ein kurzes Wort und ernsthafteres Rudern, und wir legen am Rheindamm an, machen das Boot fest und steigen hinauf, ein wenig zu schlendern.

Ein ganz anderes Bild als in der Dämmerung hinter uns: In hellem Lichte hinauf und hinunter die breite grüne, rastlos treibende, schießende, springende Woge des Rheins. Was eilt doch der Ruhelose so, was erwartet er da unten? Etwa Erlösung vom Ewigströmenmüssen? Dann könnte er es gelassener tun: nach kurzem Salzbade fängt es wieder von vorn an! Hier scheint er gerade von Osten zu kommen, vom Belchen her, der in der Ferne majestätisch die ganze Strombreite überwölbt. Abwärts überspannt ihn die Eisenbahnbrücke, und hinter ihrem steifen Filigran erhebt sich der graue Basaltfels von Breisach mit den Zinnen des Eckartsbergs und dem uralten Münster, das aussieht, als ob darin schon die Amelungen zur Messe gegangen wären.

Aber jetzt bleibt der Blick da vorn an etwas Auffälligem hängen: ein Gerüstwerk ist hinaus in den Rhein gebaut, und gegenüber auf dem Damm steht eine spitze Hütte; Rauch kräuselt sich darüber in der Luft.

Spuren des Lebens ziehen an, draußen in der Einsamkeit und Weite. Wir bummeln also hin, mit dem Instinkte, irgend etwas zu sehen. Eben tritt eilig ein Mann aus der Hütte und springt den Damm hinunter auf das Gerüst und hantiert da etwas. Dann steht 55 er ruhig und stopft sich eine Pfeife. Wir sind herangekommen, steigen grüßend herunter und fragen, was es gibt. Fischer beim Salmenfang, liegen schon den dritten Monat heraußen, im Zeltbiwak. Und nun kriegen wir wirklich was zu sehen! Sie machen's mit dem »Lockfisch«.

»Mit dem Lockfisch? Wie denn das?«

»Na, wir haben einen Salm da stehen!«

Er weist mit dem Kinn und den Augen in das Wasser unter dem Gerüst. Wir sehen nichts. Er weist noch einmal, aber wir sehen immer noch keinen Salm da stehen. Der Mann lächelt gutmütig ironisch – seine grauen Fischeraugen durchbohren das grüne Rheinwasser freilich anders als unsere Brillen – greift nach einer der Schnüre und hangelt und hangelt daran, bis er einen mächtigen, übermeterlangen Salm an die Oberfläche gehangelt hat, der Fisch zuckt.

56 »Bei Gott, der ist ja lebendig!«

»Freilich ist er lebendig!« knurrt der Fischer, amüsiert über unser Erstaunen und befriedigt, uns was zeigen zu können.

»Ja, wie ist er denn angemacht?« frag ich, und wir gucken nach dem etwaigen Halfter.

»Seht ihr nicht, er hängt am Angel?«

Wahrhaftig, er hängt am Angel, und schon die zweite Woche!

Wir spüren einen stechenden, reißenden Schmerz in der Backe, als ob wir am Angel hingen, die zweite Woche –

»Ja, und was tut er da?«

»Hm! Wir haben den Fisch da hineingehängt, und da er nicht fortkann, steht er still, um sich nicht weh zu tun, gegen den Strom, über dem Netz da, seht! Das sehen nun die anderen Salmen, die den Rhein heraufsteigen, und weil er so ruhig steht, meinen sie, er milche über einem Laichplatz, und fallen eifersüchtig wie die Bullen über ihn her, um ihn zu vertreiben und sich hinzusetzen. Sie beißen ihn und reißen ihm oft das Fleisch pfundweise vom Leibe. Das weiß er, und weil er sich nicht wehren kann, fürchtet er sich und wird schon unruhig, wenn er einen anderen in der Nähe spürt. Macht sich aber einer an ihn, so schlägt er um sich, und das rüttelt am Netz, und dann klingelt die Schelle da, und wir gehen her und lassen das Netz schnellen, und haben so beide – aber natürlich nicht immer!« setzte er stoisch hinzu und läßt den Fisch wieder zurück, der traurig vermutlich, wieder in der grünlichen Milch des Stromes verschwindet.

Wir sehen ihm nach und dann uns an und dann wieder die über den hier lebendig Begrabenen hinwegschießenden Wogen und das primitive Gerüst und den langen, hageren, schwarzbraun gebrannten Rheinfischer, und fauchte da nicht gerade ein Eisenbahnzug über die Brücke, so hätten wir uns zweitausend Jahre zurückversetzt geglaubt, in die Urzeit dieses Landes; so urig schmeckte diese Fangmethode.

Aber wir sagen nichts; Sehen und Sinnen verschlägt uns die 57 Lust zu Mahnungen wegen der Grausamkeit, und gleich kommt des Staunens mehr! Wir folgen dem Mann den Damm hinauf, der Hütte zu: ein Dutzend roher Stangen im Kreis gegeneinander gestellt, oben sich kreuzend und zusammengebunden; die Füllung der Rippen aus dem hier »Liest« genannten Schilfstroh. Der Rauch aber, den wir von ferne schon gesehen haben, kräuselt oben zum Firstloch hinaus, wie bei einer sibirischen Jurte; dazu noch ein Blick durch den uns zugewendeten Türschlitz, und:

»Ich glaube gar, ihr habt ein Feuer in der Strohbude!«

»Freilich haben wir ein Feuer! Der Mai ist kalt, so zum Hocken und Liegen und Warten –«

58 »Ja, aber kann denn da nichts passieren?«

»Ah wo!« lautet die geringschätzige Antwort.

Kopfschüttelnd treten wir näher, ein Blick ins Innere, und wir prallen beide fast erschrocken zurück: zwei niedere Bengelpritschen am Boden mit Strohlager, auf der einen langgestreckt ein schlafender Mann, und zwischen ihnen ein lustig prasselndes Feuer, dessen Flammen die Wände zu belecken scheinen; Rauch und Funken wirbeln oben hinaus.

»Aber das muß ja brennen!«

»Ah wo, brennt nicht!« macht er wieder in unberührtester Ruhe.

»Brennt nicht?« ruf ich erregt. »Wieso brennt das nicht, das ist ja klingeldürres Stroh, und –«

»Sie dürfen ruhig sein, es brennt nicht mehr!« machte er lächelnd.

»Ja, wieso? Warum brennt es nicht mehr?« frag ich, verwirrt durch seine ihm angefühlte Sicherheit dem mir Unerklärlichen gegenüber.

»Hm! Es ist halt schon verbrannt!« Er zeigt wieder mit Aug' und Kinn an die Wände.

Unser Blick folgt ihm, und siehe da, sie sind nicht nur schwarz von Rauch und Ruß, sondern erscheinen angekohlt, so daß es nun erklärlich wird, daß Glut und Funken daran hinaufstreichen können, ohne zu zünden. Aber rätselhaft bleibt, wie das so hat 59 werden können, und ich frag ihn drum.

»Ha« – macht er einfach – »wir haben halt Feuer drin gemacht, und es hat die ersten ausgehalten, und nun hat's keine Gefahr mehr!«

Ich sah meinen Freund an, und es ist uns, als ob wir auf etwas bissen, mit dem Gehirne. Sie haben Feuer in der Strohhütte gemacht, und sie hat Rauch und Glut ausgehalten, hat sich ansengen und verkohlen lassen, und nun duldet sie gefahrlos solche Prasselfeuer! Verbrennt nicht mehr, weil sie schon verbrannt ist.

Eine Art Unruhe überkommt uns; wir haben genug. Wir lassen dem Fischer unseren Tabak und gehen, ein wenig erregt wie durch einen scharfen Trunk, zu unserem Kahn zurück. Wir fühlen: Die Seele hat etwas empfangen, was sie noch nicht bemeistern kann, was sie aber bis tief hinein ergreift, angreift. Aber sie muß es erst großtragen, mit dem Reifenden reifen, um zu seinem Sinn zu kommen ...

Und nun seht euch daraufhin den Anfang noch einmal an! 60

 


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