Emil Gött
Die Wallfahrt
Emil Gött

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Die Stadt

Als Zarathustra noch in der großen Stadt, genannt »die bunte Kuh«, lebte und lehrte, kam eines Tages zu ihm ein Jüngling, den sein Vater aus dem fernen Gebirge zu dem berühmten Weisen schickte, damit er die Welt und das Leben besser verstehen lerne als er selbst in dem engen, weltfernen, aber erdnahen Dorfe.

Als der Jüngling zu Zarathustra kam, hatte er schon einige Stunden, hingerissen von der nie gesehenen Pracht der Weltstadt und betäubt von dem Donner ihres Lebens, ihre Straßen durchtaumelt, trunken von dem schon Genossenen und glühend nach dem, was sie noch an Wundern und Rätseln ahnen ließ. Oh, die Düfte, die den rauschenden und knisternden Gewändern der schönen Frauen entströmten, und die schwül machenden Blicke, die sie über den großen, breitschultrigen, braunen Sohn der Berge gleiten ließen, der die »bunte Kuh« betrachtete.

Seine Augen glänzten, und seine Wangen trugen noch die Röte der Bewegung, als er vor Zarathustra stand, die Grüße des Vaters bestellte und sich als Schüler antrug.

173 »Was hast du?« fragte Zarathustra lächelnd, denn er war ein feiner Knabe und erweckte Wohlgefallen und Erwartungen. »Deine Hand zittert, und ein Feuer ist in dir?«

»Oh!« unterbrach ihn jetzt lebhaft der Jüngling und fühlte seine Schleusen geöffnet. »Welch eine Stadt! Welch ein Leben! Wie groß, wie schön, wie reich! Diese Schulen, Akademien, Museen! Diese weiten Märkte und langen Straßen, gesäumt von glänzenden Gebäuden, bis unters Dach von allen Schätzen der Welt strotzend! Und alles blinkt und blitzt vor Sauberkeit, Ordnung und Schönheit! Und der Strom des Lebens, der diese glänzenden Fluchten durchrauscht! Die Männer, wenn ich auf den einzelnen sah, haben sie mir nicht sonderlich gefallen – 174 und doch, ich sah eine Fülle energischer und durchgeistigter Köpfe und schöne Krieger mit kühlen, scharfen Mienen. Die Frauen aber – ich sah Frauen, daß ich mich an deiner Hand halten muß – o Vater, ich habe das Leben gesehen in seinem höchsten Prunk, hart, scharfkantig, glänzend rein. Ein funkelnder Kristall von Leben ist diese Menschenstadt, diese unvergleichliche –«

»Bunte Kuh«, murmelte Zarathustra, während der Jüngling das rechte Wort suchte.

Dann sah er ihn ernsthaft an und überlegte sich das Gegengift gegen dies schäumende Wohlgefallen der leicht verführten Jugend, die noch das gute Auge hat.

175 »Komm mit!« sagte er dann. »Ich will dir etwas von der ›bunten Kuh‹ zeigen, und es soll das erste sein, was du bei mir sehen lernst.«

Und er führte den Jüngling einen weiten Weg, erst durch die glänzendsten Teile der Stadt, dann durch solche, deren Schönheit abnahm, und zuletzt durch Viertel, da aller Stolz und Glanz verschwunden war. Unabsehbar lange, öde Straßen zogen sich überall hinaus, besetzt mit grauen, kahlen Mietskasernen. Und noch weiter hinaus zeigten ihre Reihen lange Lücken, mit wüsten Baustellen, Schuttplätzen, Sandgruben. Die einzelnen hohen Häuser erhoben sich dazwischen nur um so häßlicher. Die Leute auf diesem Wege hatten allen Glanz verloren und jeden Reiz. Die Arbeit und die Not des Alltags sprach immer mißfarbener aus ihren Mienen, ihren Kleidern. Schäbige Männer, vergrämt und ungesund aussehende Weiber, Scharen verwahrloster und frecher Kinder kamen ihnen entgegen und trödelten um sie herum. Als sie noch ziemlich in der Mitte dieses Viertels waren, schlug es zwölf Uhr mittags, und ringsherum erhoben mit einmal hundert oder tausend Fabrikpfeifen und Sirenen ihr schrilles Geheul, und die Hoftore spien ein Gewimmel schmutziger Menschen, Männer und Weiber jeden Alters aus, alle mit bleichen, düsteren und frechen Gesichtern. Ekel und Entsetzen ergriffen den Jüngling fast bis zur Ohnmacht, als er durch ihren Dunst und – durch aller Blicke mußte. Denn das war das Herzergreifende: alle diese Gestalten hatten doch Augen, Menschenaugen, und sahen ihn damit an, die hochgewachsene Gestalt mit dem braunen, rosigen Antlitz. Er tastete sich durch wie im Fieber und berührte einmal Zarathustras Arm wie flehentlich und flüsterte:

176 »O Vater, was zeigst du mir!«

»Du kamst, Weisheit zu lernen – lerne erst sehen!«

»Warum sah ich am Morgen dieses nicht auch? War ich blind?« murmelte er verstört und beschämt.

»Geblendet!« sagte sein Führer. »Es ist ja einfach: Als du die Stadt durchschweiftest, berauscht von ihrem Glanze und ihn suchend und nur ihn, da streiftest du auch diese Viertel, aber abgestoßen von der drohenden Häßlichkeit, lenktest du immer wieder ab, irgendeiner Auffälligkeit zu, die dich anzog wie das Licht die Motte. Und so umkreistest du nur den Prunkteil der Stadt – aber komm, du sollst noch mehr sehen!«

Und er führte den zögernd, doch ergriffen Folgenden weiter.

Als sie die letzten Häuser hinter sich hatten, schritt der Führer dem Walde zu, der aber nicht war wie die freien Wälder, aus denen der Jüngling kam. Er war künstlich angelegt, um etwas zu verhüllen. Über dem Walde weg war ein Rauschen zu vernehmen. Dort floß der breite Strom; aber nicht sein ruhiger Lauf verursachte das Rauschen, sondern das kam aus einem gemauerten Schlunde, an dem die beiden jetzt standen und aus dem der gesamte Unrat der Stadt sich in den Strom ergoß, der ihn zum Meere mitnehmen sollte, das allen Schmutz aufnehmen kann, ohne selbst unrein zu werden.

Es war aber ein furchtbarer Anblick, diesen unterirdischen, der strahlenden Welt verborgenen Fluß hervorbrechen zu sehen, vom Dufte zu schweigen. Diese Stadt, genannt ›die bunte Kuh‹, war so gut eingerichtet, daß in dieser Kloake nicht nur der gewöhnliche Unrat der Stadt zusammenfloß, sondern auch die Tränen, die geweint, 177 der Schweiß, der vergossen, und das rote und weiße Blut des Lebens, das in ihr geopfert wurde.

Als nun Zarathustra den Jüngling an die Hand nahm, sah und verstand der das alles. Das war schrecklicher, grausiger noch als die Leiche, die eben vorübertrieb.

Ein noch unbekannter, grauenhafter Schmerz durchkrampfte ihn, seine Augen schlossen sich, und von den entfärbten Lippen kam es bebend:

»Das ist die Pracht dieser reinlichen Stadt? So schmutzig ist sie?«

Und Zarathustra sprach:

»Ich führte dich diesen Weg, weil der deine dich berauscht hatte. Du kamst, Weisheit zu lernen – lerne erst sehen! Sehen mit beiden Augen, dem lichten und dem düstern!«

Nach einer kleinen Weile aber setzte er mit anschwellender Stimme fort:

»Doch höre jetzt: Diese Stadt ist so reinlich, weil das da von ihr fließt!«

Damit lenkte er zur Stadt zurück und wies dem Frierenden eine kleine Kammer an, in der er nun zehn Jahre lang sehen lernen sollte. 178

 


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