Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechsunddreißigstes Kapitel.
Trauriger Wahn

Welch' ein Gegensatz! Als der Doktor Romanowna vor ein paar Stunden besucht hatte, hielt er sie für irrsinnig, weil sie von Dingen sprach, die er nicht verstand, und als er jetzt wieder zu ihr kam, glaubte er sie ganz bei Besinnung zu finden, während sie gerade jetzt von Wahnvorstellungen beherrscht war.

Als er sich ihrem Bett näherte, und ihr die Blume zeigte, sagte er leise: »Hier ist die Blume, Romanowna.«

»Was ist das?« fragte sie heftig: »Wer ist so grausam, in diesem Augenblick das Haupt meines unglücklichen Vaters mit Rosen zu schmücken?«

»Wie?« sagte der Arzt. »Meine Frau und ich bringen Ihnen die Blume, nach der Sie gefragt haben.«

»Ach, warum mußte er sterben?« klagte Romanowna. »Nun ist niemand mehr da, der mit mir ins Kloster geht! Ach, ich kann nicht mehr, denn die Ketten sind alle um meinen Kopf gewunden ... O! O!«

In dieser Weise klagte Romanowna in ihren Fieberphantasieen; und es war herzbrechend, ihr zuzuhören, jedem Worte konnte man entnehmen, wie unsäglich sie gelitten hatte.

Doktor Dimsdale machte sogleich kalte Umschläge um ihren Kopf und wachte selbst mit seiner Frau am Krankenbett. Es war ein Glück für Milna, daß die teilnehmenden Freunde ihr zur Seite standen; denn Romanowna schwebte mehrere Tage lang in großer Gefahr. Es war traurig zu hören, wie sie in der Fieberhitze mit glühenden Wangen erzählte, daß sie ihrem Vater seine Freiheit verschaffen wollte, um dann mit ihm Milnas Hochzeit beizuwohnen. Selbst nachdem die Gefahr vorüber war, mußte sie noch mit äußerster Sorgfalt gepflegt werden, da ihr Kopf sehr gelitten hatte, und sie durch die vielen Gemütsbewegungen geschwächt worden war. Nicht minder ergreifend war es zu bemerken, wie sie alles, was sich in der letzten Zeit ereignet hatte, ganz vergessen zu haben schien. Offenbar befand sie sich in dem Wahne, sie sei mit Milna auf der Reise nach Petersburg, um die Freilassung ihres Vaters zu erbitten. Solange sie noch so schwach war, mußte man sie in dem Wahne lassen, aber sobald sie etwas zu Kräften gekommen war, meinte der Arzt, man dürfe sie nicht länger in dem verhängnisvollen Irrtum lassen, und er beschloß, ihr selbst die Wahrheit mitzuteilen.

»Wie geht es Ihnen heute, Romanowna?« fragte er, sich an ihr Bett setzend.

»Viel besser,« war die Antwort, »aber ich fürchte, ich bin doch noch nicht stark genug, um mich wieder auf die Reise zu begeben, denn ich habe das Gefühl, als ob ich lange gelaufen sei und jetzt nicht mehr könne.«

»Sie haben ja auch keine Eile,« sagte der Doktor mit Nachdruck.

»Keine Eile?« wiederholte Romanowna fragend. »Keine Eile?« sagte sie noch einmal ganz für sich, »ich weiß selbst nicht, warum, aber ich habe ein Gefühl, als sei große Eile nötig und besinne mich schon die ganze Zeit darauf. Wissen Sie es vielleicht, Herr Doktor? Ach, jetzt weiß ich es, ich war auf der Reise nach Petersburg, als der Wagen brach! Ach! wenn ich dadurch zu spät käme!«

»Besinnen Sie sich einmal,« sagte der Arzt leise, aber deutlich. »Ihr Wagen brach, Sie mußten zurück, und an jenem Abend haben Sie einen Brief geschrieben.«

Der Doktor sprach langsam und merkte an Romanownas Ausdruck, daß ihre Erinnerung allmählich wiederkehrte.

»Der Brief erreichte damals seine Bestimmung nicht,« fuhr Herr Dimsdale fort, »er ist jedenfalls in Ihrer Tasche stecken geblieben; aber machen Sie sich keine Sorge darüber, er ist jetzt bereits in den Händen des Adressaten ...«

»Ist Herr Lowitz hier?« unterbrach ihn Romanowna lebhaft.

»Er hat Milna wiedergesehen,« sagte der Doktor.

»Milna wiedergesehen?« fragte Romanowna und fügte, während sie mit der Hand über ihre Stirne fuhr, hinzu: »So muß ich denn allein nach Petersburg?«

»Nach Petersburg?« fragte der Doktor verwundert.

»Ja, Doktor, wissen Sie denn nicht ... ach nein,« unterbrach sie sich selbst, »Sie können es nicht wissen; denn als wir Sie das letzte Mal sahen, war mein Vater noch nicht gefangen. Ach, Herr Doktor, was für ein schrecklicher Anblick, ihn so schwer gefesselt zu sehen.«

Ermüdet schloß Romanowna die Augen und blieb einige Zeit still liegen; aber plötzlich sich aufrichtend, sah sie Herrn Doktor Dimsdale starr an und sagte: »Doktor, erzählen Sie mir doch, was vorgefallen ist. Ich habe eine unklare Vorstellung von dem einen oder andern Unglück, das sich ereignet hat und kann doch nicht sagen was.«

Gewiß hätte der Arzt dem jungen Mädchen gern die schmerzliche Nachricht erspart; aber er fühlte, daß es das beste für sie sei, wenn sie gleich die Gewißheit von Pugatscheffs Tod erhalte und so erzählte er ihr den ganzen Verlauf der Sache. Sie hörte ihm mit größerer Ruhe zu, als er erwartet hatte; aber ein tiefer Seufzer und die Thränen, die an ihren Wangen herunterliefen, zeigten ihm, wie sehr sie die Nachricht erschüttere.

»Herr Doktor,« sagte sie auf einmal leise, »wollen Sie so gut sein, mich noch einmal zu besuchen? ich bin jetzt zu müde und möchte Sie gern etwas fragen.«

»Gewiß, gewiß,« sagte der Doktor, »versuchen Sie nur erst, ein wenig zu schlafen, und sobald Sie es wünschen, bin ich wieder bei Ihnen«; nachdem er seiner Patientin herzlich die Hand gedrückt hatte, entfernte er sich.


 << zurück weiter >>