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Zwölftes Kapitel.
Eine Nacht in der Bibliothek

Sobald Milna sich zur Ruhe begeben hatte, ging der Prior in die Klosterbibliothek, wo er einige Zeit ganz in Gedanken versunken auf- und niederschritt. Sein Kopf war voll von den ungewohnten Ereignissen, die im Kloster vorgefallen waren, und von dem, was er durch Milna erfahren hatte. War es wahr? War der gute Zar noch am Leben? Und saß er in Kasan gefangen?

Diese Fragen hätte er so gern beantwortet gesehen, denn, wenn der rechtmäßige Kaiser wirklich in Haft war, welcher rechtlich denkende Russe würde dann nicht alle seine Kräfte anspannen, um ihn zu befreien? und besonders Pater Alexius, der so sehr am Staatsoberhaupte hing! »Wie kann ich nur erfahren, ob er der Zar ist?« fragte der Prior sich vergeblich. Endlich blieb er vor dem Büchergestell stehen und nahm ein Buch in dickem Pergamenteinband, worin alle Ereignisse des Landes aufgeschrieben waren. Er legte es vor sich auf den Tisch, während er, blätternd, zwischendurch laut las: »Ja, er war ein sehr guter Kaiser; er begann seine Regierung damit, siebzehntausend Russen aus Sibirien zurückzurufen, hm, hm!

Ja, auch er hatte Fehler,« sagte der Prior kopfschüttelnd, einige Seiten weiter blätternd; »aber er gab seinem Volk doch viele nützliche Einrichtungen. Er regierte kurz, kaum drei Jahre. Seine Gemahlin erregte im Juli 1762 einen Aufstand; er wurde vom Thron gestoßen, und sehr bald darauf starb der Zar im Gefängnis. Seine Leiche wurde in der Stille begraben, hm, hm.

Das Gerücht sagte,« fuhr der Prior halblaut fort, während er von seinem Buch aufsah und sich zu erinnern suchte, »daß er ermordet wurde, sogar auf Befehl der Kaiserin; aber hier steht, daß er von einer heftigen Kolik hinweggerafft wurde, hm, hm.

Es gab auch ein Gerücht, soviel ich mich erinnere, daß er nicht tot sei, sondern sich irgendwo verborgen halte; möglicherweise ist es wahr, möglicherweise aber nur eine Ausstreuung derjenigen, die sich für den Zaren ausgeben wollten. Es ist Mißbrauch genug mit dem Gerücht getrieben worden; der erste, der sich für den Kaiser ausgab, war nur ein Schuhmacher von Woronetz. Der Aufstand, den er erregte, hatte wenig zu bedeuten,« sagte der Prior, weiterblätternd. »Der zweite Betrüger war ein Soldat von Kopenka. Er erschien 1770, ward aber rasch erkannt und von einem Offizier, unter dem er gedient hatte, getötet.

1772 erhob sich wieder jemand, der sich für den Zaren Peter ausgab,« las der Prior, »er hatte zu Ilinetz sich großen Anhang gebildet, als durch einen Zufall entdeckt wurde, daß er Arzt sei und Stephano heiße. Er wurde gefangen genommen, wußte aber zu entkommen und rettete sich durch die Flucht. Sollte er noch einmal zurückkommen?

Hm! hm! der vierte sogenannte Zar, der schon ein ganzes Heer um sich versammelt hatte, ehe man ihn fassen konnte, wurde in Oufa zur Knute verurteilt, und außer diesen vieren war noch jemand zu Irkutsk, der einige Beweise beibrachte, daß er wirklich Peter III. sei; aber auch sein Betrug wurde entdeckt,« las der Prior weiter und nahm seine Wanderung wieder auf.

»Milna mag Recht haben,« sagte der Prior nachdenklich, »es bleibt immer noch möglich, daß der Zar wirklich noch lebt, wenn es auch unwahrscheinlich ist. Wie nahm die gute, unverdorbene Milna es übel, daß ich an die Möglichkeit eines Betruges dachte. Sie hat sicher nur wenige Menschen gesehen und noch nicht gelernt, ihnen zu mißtrauen. Wenn dieser Mann, der jetzt unter dem Namen Pugatscheff im Gefängnis sitzt, wirklich der Zar ist, werde ich alle meine Kräfte anspannen, ihm den Thron zurückzugeben, denn die großen Ausschweifungen Katharinas machen ihre Regierung für das arme Volk sehr hart; aber, wenn er es nicht ist ...?«

Einen großen Teil der Nacht brachte der Prior im Nachdenken über die Möglichkeit eines Wiedererscheinens des Zaren zu, aber er gelangte zu keiner Gewißheit. Endlich warf er sich vor einem Bildnis der heiligen Jungfrau mit dem Angesicht auf die Erde, und fand Ruhe in ernstlichem Gebet.

Darauf begab er sich nach seiner Zelle, um noch ein paar Stunden zu schlafen; viel länger konnte seine Ruhe nicht währen, da er um fünf Uhr die Messe lesen mußte; und selbst, wenn er nicht bei der Frühmesse gegenwärtig sein wollte, hätte er doch nicht länger im Bett bleiben können, da das Klostergesetz vorschrieb, daß jeder Mönch nur vier, höchstens fünf Stunden schlafen dürfe; die eifrigsten gönnten sich noch nicht einmal diese Zeit für ihre Nachtruhe, halb aus Frömmigkeit, halb aus Furcht vor der Strafe, die ihrer wartete, wenn sie sich verschliefen. Die Strafe bestand darin, daß der Mönch, der zu spät kam, während der ganzen Mahlzeit am Ende des Tisches stehen bleiben und fortwährend laut beten mußte: »Herr, erbarme Dich meiner nach Deiner großen Barmherzigkeit.« Darauf mußte er an der Thüre niederknieen und in demütiger Haltung seine Brüder, wenn sie vom Tisch aufstanden, bitten: »Betet für mich, heilige Väter, für diesen sündigen Faullenzer.« Wenn die Mönche mit einem: »Gott vergebe dir, mein Bruder,« fortgegangen waren, durfte der Büßer aufstehen und allein essen.

Gleich nach der Messe bat der Prior Milna noch um einige Einzelheiten über Pugatscheff. Aus dem Besuche in der Eremitage und dem Umstande, daß er mit dem Geheimnisse des prächtigen Aufenthaltes bekannt war, schloß der Prior, daß er mindestens am Hofe sehr bekannt sein müsse und das gab, wenn es auch kein sicherer Beweis war, doch seinen Behauptungen einige Wahrscheinlichkeit.

»Ich selbst werde,« sagte der Prior, »nach Kasan gehen und die Sache untersuchen, und wenn er wirklich der Zar ist, soll er bald in Freiheit sein; stellt es sich jedoch heraus, daß auch er ein Betrüger ist, dann wird die schwerste Strafe noch viel zu leicht für ihn sein, denn: Wehe über die, die das Land in Aufruhr bringen. Aber Milna,« fuhr der Prior fort, »was auch kommen möge, du kannst immer auf meine Hilfe und meinen Schutz rechnen. Wenn ich dir von Nutzen sein kann, so wende dich nur immer an mich, und so lange der Zar noch nicht gesiegt hat, sollst du mit seiner Tochter hier wohnen.«

Milna küßte dankbar die Hand des Priors und bat um die Erlaubnis, sich gleich nach Malikowa begeben zu dürfen.

»Ich habe schon Befehl gegeben,« sagte der Prior, »daß man mein eignes Pferd für dich sattle; der Mönch, der dich begleitet, nimmt noch allerhand mit für den Fall, daß die Prinzessin die Reise lieber erst morgen als heute machen will.«

Milna dankte herzlich für die freundliche Fürsorge und machte sich sogleich mit dem alten Mönch auf den Weg.


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